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Montag, 25. November, 13.55 Uhr

Tomás

Als er um 13.55 Uhr das Haus verließ, waren seine Augen von der intensiven Lektüre der wichtigsten Tageszeitungen auf dem Bildschirm seines iPads gerötet. Das Café Le Pain Quotidien auf der Calle Ámsterdam, wo er sich für halb drei mit Mario verabredet hatte, war nur zwei Häuserblocks entfernt. Ihm blieb also noch etwas Zeit, um in Ruhe über die Situation nachzudenken, in der er sich befand. Da er seit dem Frühstück keinen Bissen zu sich genommen hatte, bestellte er sich einen Pfefferminztee mit Milch und ein Lachssandwich. Er holte sein schwarzes Moleskine-Notizbuch mit dem festen Einband hervor und begann aufzuschreiben, was er bisher wusste.

Patricia Serrano Plascencia, besser bekannt als Pamela Dosantos, hatte eine steile Karriere hingelegt, auch wenn sie ihren Ruhm eher der Berichterstattung in den Klatschzeitschriften als den Filmkritiken verdankte. Als sie im Jahr 1991 zur Miss Sinaloa gekürt wurde, schnappte sich ein Militärchef, der sich dem Kampf gegen die Drogenkartelle von Culiacán – der Wiege der mexikanischen Capos – verschrieben hatte, die junge Schönheit und brachte sie aus der Gegend fort, bevor sie einem der dortigen Kaziken ins Netz gehen konnte. Sie ließ sich von ihm ein Appartement in Mexiko-Stadt in der exklusiven Colonia Polanco kaufen, wo sie als Geliebte und Trophäe von General Aguilar ein Leben in Saus und Braus führte. Zwei Jahre später fand die Liaison ein jähes Ende, als der Militärchef aufgrund der Ermittlungen, die man wegen seines »unerklärlichen« Reichtums gegen ihn führte, von heute auf morgen das Land verlassen musste und auf diese Weise der jungen Frau ihre Unabhängigkeit zurückgab: die beste Voraussetzung für ihre Karriere. Ihre Schönheit und ihr unbeirrbarer Hang zu einem ausschweifenden Lebensstil taten ein Übriges. Sie tauschte den unscheinbaren Namen Patricia Serrano gegen das glamourösere Pamela Dosantos ein, und fünfzehn Jahre später verzeichnete die Liste ihrer Liebhaber sogar eine stürmische Romanze mit dem meistverehrten Fußballer des Landes. Außerdem wurden ihr Affären mit dem Sänger Luis Miguel und einem Schuhhersteller aus Guanajuato nachgesagt. Letzteren lernte sie kennen, als sie seiner Firma für einen Werbespot ihre berühmten Beine lieh.

Alle diese Liebesverhältnisse begünstigten ihren Aufstieg im Filmgeschäft, sei es wegen der Beziehungen oder der finanziellen Mittel. Ihre Filmografie umfasste ein Dutzend mexikanischer Streifen, die jedoch weder auf Festivals gezeigt wurden, noch Goldene Palmen gewannen. Aber doch unzählige geschüttelte Palmen von einer ganzen Legion von Jugendlichen, dachte Tomás.

In den letzten Jahren hatte das Liebesleben der Dosantos auf hoher politischer Ebene stattgefunden. Einer ihrer Liebhaber, ein Gouverneur mit Aspirationen auf die Präsidentschaft, musste sich öffentlich von ihr distanzieren, nachdem die Schauspielerin in einem Radiointerview behauptet hatte, das Land habe eine wahre Schönheit als First Lady verdient.

Sie hatte ein großes Herz und schien, was ihren Männergeschmack betraf, recht breit aufgestellt zu sein. Laut den Klatschzeitungen zeigte sich die Künstlerin jedes Mal wieder auf die gleiche leidenschaftliche Weise in ihre Lover verliebt. Es war, als hätte sie aus einer gewissen Hilflosigkeit heraus dem jeweils aktuellen Beschützer ihre Zuneigung offen demonstrieren wollen, egal ob er jung oder alt, attraktiv oder hässlich war.

Am Ende ist einer von ihnen wohl zu eifersüchtig gewesen, dachte Tomás bei sich, obwohl der Zustand, in dem sie ihre Leiche angeblich gefunden hatten, auf etwas Schlimmeres als Eifersucht schließen ließ. Wo hast du dich bloß hineingeritten, Pamela, dass sie dich so zugerichtet haben?, fragte er sich, während er das Foto der Diva auf einem Zeitschriftencover vor sich betrachtete. Wo habe ich mich nur hineingeritten, um so eine Drohung wie die von heute Morgen zu bekommen?

Ihm fiel auf, dass Jaime ihm nicht auf seine Frage geantwortet hatte, ob an den Gerüchten um eine Beziehung der Schauspielerin mit Salazar etwas dran war. Wusste sein Freund etwas? Warum hielt er es vor ihm geheim? Einmal mehr spürte Tomás das Unbehagen, das die Gespräche mit Jaime so oft bei ihm auslösten.

Die Drohung, die er auf sein Handy bekommen hatte, war kurz und grausam. Es war nicht die erste, die er in seiner Laufbahn als Journalist erhalten hatte: In den Neunzigern, als seine Kolumne den Politikern Bauchschmerzen bereitete und einigen auch schadete, hatte er mehr als einmal diese Ehre gehabt und war sogar für mehrere Monate unter Polizeischutz gestellt worden. Letztlich war er jedoch zu dem Schluss gekommen, dass er nichts dagegen tun konnte, wenn man ihn wirklich aus dem Weg räumen wollte. Rund um die Uhr von Bundespolizisten von zweifelhafter Verlässlichkeit umgeben zu sein, war zudem nicht nur extrem unangenehm, sondern auch gefährlich. Der pragmatische Fatalismus, den er mit der Zeit entwickelte, hatte also weder etwas mit Nachlässigkeit noch mit Tapferkeit zu tun. Oder um es mit Amelia zu sagen, die Leibwächtern grundsätzlich skeptisch gegenüberstand: »Was für dich bestimmt ist, wird seinen Weg zu dir finden, und was nicht, wird auch nicht passieren.«

Trotzdem fühlte es sich diesmal anders an. Er hatte die einschüchternde Nachricht während der letzten Stunden aus seinen Gedanken verbannt, obwohl er wusste, dass sie gefährlich war. Irgendwo hatte er einmal gelesen, dass eine Warnung umso ernster war, je knapper und lakonischer sie formuliert war.

Da fiel ihm ein, dass er seine Mailbox noch gar nicht abgehört hatte und holte das jetzt nach. Die ersten sieben Nachrichten waren von ebenso vielen Redaktionsleitern verschiedener Nachrichtensendungen, die achte stammte vom Verlagsleiter seiner Zeitung. Er schaltete sein Handy aus und ging zum Tresen. Unter dem Vorwand, sein Akku sei leer, bat er den Angestellten, das Telefon des Lokals benutzen zu können.

Alfonso Palomar nahm den Anruf sofort entgegen: »Glückwunsch, dein Artikel ist der meistgelesene des Portals.«

»Und hast du schon was von oben gehört?«

»Meinst du mit oben die Regierung oder den Chef?«

»Na ja, beide, nehme ich an.«

»Don Rosendo möchte, dass du ihm noch diese Woche einen Besuch abstattest.«

»Und die Regierung?«

»Wir erwarten dich am Donnerstag um 13 Uhr in der Redaktion, und bring alles mit, was du zu dem Fall hast. Also, ich muss jetzt los zur Titelseitenbesprechung. Pass auf dich auf.«

Offenbar glaubten jetzt alle, ihm zum Abschied ein »Pass auf dich auf« mitgeben zu müssen, was nachvollziehbar war, aber Palomars Ton gefiel ihm trotzdem nicht. Seine Stimme hatte etwas Höhnisches, beinahe Verachtendes, als wollte er sagen: »Das hast du jetzt davon, wenn du deine Nase in fremde Angelegenheiten steckst.«

Ein gewisser Argwohn hatte schon immer zwischen ihnen geherrscht: Der Verlagsleiter hielt den Ruhm, den Tomás mit seiner Kolumne in früheren Jahren erlangt hatte, für unverdient. Bei jeder Neukonzeption der Zeitung wurde seine Kolumne auf immer unwichtigere Seiten verdrängt – zumindest hatte Tomás diesen Eindruck. Die Antipathie beruhte jedenfalls auf Gegenseitigkeit. El Mundo könnte wahrscheinlich eine der bedeutendsten Zeitungen des Kontinents sein, wenn der Verlagsleiter weniger Rücksicht auf die mitunter recht launenhaften politischen Interessen seines Chefs nehmen würde. Aber soweit Tomás wusste, verdankte Palomar den Posten weniger seinen beruflichen Verdiensten als seiner bedingungslosen Loyalität gegenüber Rosendo Franco.

Das vertraute schleifende Geräusch, das Marios hinkender Gang erzeugte, riss ihn aus seinen Gedanken.

»Irgendwelche Neuigkeiten?«, erkundigte sich Mario, während er sich zu ihm setzte.

Tomás hielt sich lieber erst mal zurück. Womöglich war die Drohung, die er erhalten hatte, völlig harmlos, und es gab keinen Grund, dass Mario sich auch noch unnötig Sorgen machte.

»Nichts Besonderes, nein. Ich nehme an, die Polizei hat inzwischen die Berichterstattung übernommen. Morgen ist mein Artikel schon Schnee von gestern. Hoffe ich zumindest.«

»Amelia hat mich angerufen, sie hat sehr geheimnisvoll getan. Jedenfalls will sie sich heute Abend mit dir treffen, um halb zehn in der Bar vom Sanborns in San Ángel. Und du sollst sicherstellen, dass die Luft rein ist. Ich kann leider nicht dabei sein, ich bin mit Olga verabredet.« Die letzten Worte brummte Mario in seinen Bart.

»Alles klar. Also, ich habe mit Jaime gesprochen, und er möchte, dass wir uns alle vier morgen Abend im Reina Victoria treffen. Wenn ich Amelia nachher sehe, sage ich ihr Bescheid.«

»Alle vier?« Marios Miene hellte sich auf.

»Wenn du nicht kannst, ist es auch nicht schlimm. Bestimmt können wir morgen schon wieder über die ganze Sache lachen, und Amelia und Jaime machen sich über meinen unfreiwilligen Ruhm lustig.«

»Natürlich bin ich dabei. Und selbst wenn wir uns nur über dich lustig machen, kann ich mir das auf keinen Fall entgehen lassen.«

Tomás versuchte sich zu erinnern, wann die Blauen das letzte Mal zusammengekommen waren. Das musste vor fünf oder sechs Jahren gewesen sein, auf der Beerdigung von Marios Mutter. Am Abend der Beerdigung hatten sie Mario in eine Bar ausgeführt, um ihn aufzumuntern, aber schließlich hatten sie alle zu viel getrunken und angefangen, sich große Geständnisse zu machen, wie Amelia es genannt hatte. Am Ende hatten sie sich gegenseitig mit Offenbarungen verletzt, zu denen sie sich nie hätten hinreißen lassen sollen, obwohl in Wahrheit wenig gesagt, dafür umso mehr gefühlt worden war. Beerdigungen sind kein guter Zeitpunkt, um sich auszusprechen, fand Tomás, da liegen die Emotionen sowieso blank.

»Ich hoffe, diesmal endet unser Treffen besser als beim letzten Mal«, sprach Tomás seine Gedanken laut aus.

»Bestimmt. Diesmal ist einer von uns in Gefahr.«

Tomás widerstand der Versuchung, sich über Marios Ton lustig zu machen, der ihn stark an Die drei Musketiere erinnerte. Es war nicht nötig, der jugendlichen Naivität seines Freundes einen Dämpfer zu verpassen, und wahrscheinlich hatte der sogar recht – sonst hätten Jaime und Amelia nicht nach so vielen Jahren an ein und demselben Tag Kontakt mit ihm aufgenommen.

Diese Überlegung und Marios ansteckender Enthusiasmus stimmten ihn ein wenig zuversichtlicher. Vielleicht war die unbeabsichtigte Wirkung seiner Kolumne letztlich gar nicht so unglückselig: Auf diese Weise war sie wieder ins Blickfeld gerückt, und vielleicht konnte er die Aufmerksamkeit nutzen, um seiner Arbeit als Kolumnist wieder mehr Gewicht zu verleihen. Das barg natürlich Risiken, aber die schlimmste Gefahr war immer noch der Stillstand, in dem sich sein privates und berufliches Leben derzeit befanden: Ein Tag nach dem anderen verging, ohne dass er wirklich etwas erwartete, während seine Überzeugung wuchs, dass an dem Bahnsteig, auf dem er stand, kein Zug mehr vorbeikam. Und dennoch war unverhofft diese Lokomotive aufgetaucht, die womöglich seine letzte Hoffnung war – vorausgesetzt, sie überrollte ihn nicht.

Er malte sich den vor Tatendrang sprühenden, einflussreichen Journalisten aus, der er sein könnte. Er hatte immer geglaubt, das Talent dazu zu haben, nur leider mangelte es ihm an Ehrgeiz. Vielleicht würde der Überlebensinstinkt ihm die Energie geben, die ihm in seinem Leben seit einiger Zeit fehlte. Aber als Erstes musste er ein paar Dinge regeln.

Tomás verabschiedete sich von Mario und wertete es als einen Glücksfall, dass direkt vor dem Eingang des Cafés ein freies Taxi stand, wie für ihn bestellt. Er nannte dem jungen Fahrer die Straße, in der seine Ex-Frau und Tochter lebten, und überlegte kurz, ob er sich bei Jimena ankündigen sollte, beschloss dann aber, das Handy lieber nicht zu benutzen. Sie würde sicher schon von ihrem Deutschunterricht zurück sein. Ihm war völlig schleierhaft, was seine Tochter dazu antrieb, eine Sprache zu lernen, die in Mexiko von so geringem Nutzen war, aber so war sie nun mal. Sie schien in vielerlei Hinsicht eher Amelias Tochter zu sein als Teresas, die zwar schon vor Jahren die langen Hippieröcke abgelegt hatte, nicht aber die betont lockere, selbstgefällige Art, mit der sie durchs Leben ging. Jimena war da ganz anders, immer souverän und mit schlagkräftigen Argumenten sowie teilweise etwas rigiden Meinungen im Gepäck. Vielleicht war es das, was ihr an der deutschen Sprache so gefiel, dachte Tomás, obwohl er keine Ahnung hatte, ob die deutsche Grammatik ebenso unerbittlich war wie der scharfe Klang dieser Sprache.

Es war früher Abend, der Verkehr auf der Avenida de los Insurgentes war zäh, und es ging nur mühsam voran. Die beiden Fahrspuren glichen langen bunten Schlangen, die sich langsam Richtung Süden bewegten. Die Dichte des Verkehrs hinderte die Autofahrer nicht daran, in einem fort die Spur zu wechseln. Unverzeihlich sind in Mexiko nur zwei Dinge: die Verletzung der Ehre und eine Lücke in einer Autoschlange zu lassen, dachte Tomás, obwohl er sich bei Ersterem nicht mehr ganz so sicher war.

Doch der Taxifahrer schien es nicht sonderlich eilig zu haben. Umso besser, dann konnte er sich eine Weile ausruhen. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen.

»Heute schon Feierabend, Patrón?«

»Mhm«, antwortete er lustlos.

Früher hatte sich Tomás gerne mit Taxifahrern unterhalten. Ihnen eilte der Ruf voraus, den Puls einer Stadt am besten zu kennen, aber nach vielen Jahren bedeutungsloser Konversation war Tomás zu dem Schluss gekommen, dass es sich um einen urbanen Mythos handeln musste, genährt von ausländischen Berichterstattern, die zu faul waren, ihre Arbeit gründlich zu machen – drei Fahrten mit dem Taxi, und sie glaubten zu wissen, wie das Herz der Metropole schlug. Gleichwohl fühlte er sich in seinem neuerlichen Bestreben, ein einflussreicher Journalist zu werden, zur Unterhaltung verpflichtet.

»Wie läuft das Geschäft? Immer gut zu tun?«

»Immer weniger. Der Verdienst reicht kaum noch, um die Kosten für das Auto zu decken. Diese verdammten Fahrräder nehmen uns massenhaft Kunden weg.«

Für Tomás klang das nach einer ziemlichen Übertreibung, aber der junge Mann kannte sein Geschäft sicher am besten. Er betrachtete ihn mitfühlend und sah sich dann im Taxi um. Ein Coffee-to-go-Becher von Starbucks in der Konsole zwischen den Vordersitzen erregte seine Aufmerksamkeit: ein kaum bezahlbarer Luxus für einen Taxifahrer in einer finanziell schwierigen Situation. Die Widersprüche des modernen Lebens, sagte er sich. Ein farbenfrohes Detail für einen zukünftigen Artikel über das Phänomen, wie Modeerscheinungen der westlichen Welt den verarmten Sektoren unserer Länder einfach aufgezwungen werden.

»Und wie steht es mit der Sicherheit? Ist die Arbeit als Fahrer nicht ziemlich gefährlich?«

»Ich nehme hier eine Abkürzung, die Insurgentes ist völlig überlastet«, sagte der Fahrer und bog noch im selben Moment in eine kleine Nebenstraße ab. »Man ist wachsam. Aber wie man sieht, trifft es sogar die Künstler.«

»Allerdings«, erwiderte Tomás und verfluchte sich für den idiotischen Einfall, das Thema Sicherheit anzuschneiden.

»Wie sehen Sie die Sache, Patrón? Wer hat die Frau auf dem Gewissen?«

Das Klingeln des Handys bewahrte ihn gerade rechtzeitig davor, antworten zu müssen. Er kramte in seinen Taschen, bis ihm einfiel, dass sein Handy ausgeschaltet war. Es musste das Telefon des Taxifahrers sein, der in diesem Moment in seine Jackentasche griff und den Anruf wegdrückte. Ein BlackBerry der neuesten Generation, dachte Tomás, zumindest sah es genauso aus wie das von Jaime an diesem Morgen.

Er musterte den jungen Fahrer noch einmal genauer und glaubte zu erkennen, dass dieser Markenkleidung trug – obwohl er sich in der Hinsicht nicht als Experte verstand. Er dachte noch einmal an den Moment zurück, als er in das Taxi gestiegen war, und eine Ader auf seiner Stirn begann zu pochen, da ihm klar wurde, dass der Wagen draußen vor dem Le Pain Quotidien gestanden und womöglich dort auf ihn gewartet hatte.

Jeder Hauptstädter kannte den Modus Operandi von Überfällen in Taxis. Inzwischen waren sie zwar sehr viel seltener als in den Neunzigern, aber die Berichte über den Ablauf hatten sich kaum geändert. Der Wagen bog in der Regel bald auf weniger befahrene Nebenstraßen ab, bis schließlich ein zweiter Wagen auftauchte, aus dem ein Komplize ausstieg. Der setzte sich auf den Beifahrersitz und bedrohte das Opfer mit einer Waffe. Darauf folgte eine lange Prozedur, bei der mit sämtlichen Bank- und Kreditkarten die Konten des Opfers an verschiedenen Geldautomaten der Stadt leer geräumt wurden. Allerdings ließen ihn das gepflegte Äußere und die athletische Körpersprache des jungen Fahrers vermuten, dass hier niemand hinter seinem Geld her war.

Tomás rutschte auf den Platz hinter dem Beifahrersitz, damit ihn der Fahrer nicht mehr über den Rückspiegel im Blick hatte, und drehte langsam den Kopf, um zu überprüfen, ob ihnen jemand folgte. Etwa einen halben Block entfernt bemerkte er einen weißen Lieferwagen mit mehreren Insassen; damit war die Sache für ihn klar.

Vorsichtig versuchte er, die Tür zu öffnen, um aussteigen zu können, sobald der Fahrer die Geschwindigkeit drosselte, aber es ging nicht. Er nahm an, dass es die Kindersicherung war, durch die sich die Tür nur von außen öffnen ließ; mit der linken Tür verhielt es sich bestimmt nicht anders.

Zwei Häuserblocks weiter bog das Taxi nach links in eine kleine Straße ein. Noch während der Wagen um die Kurve fuhr, schlug Tomás dem Fahrer mit den Knöcheln der rechten Hand hart gegen das Kinn. Der Kopf des Mannes schlug gegen das Fenster, dennoch hielt er das Lenkrad – womöglich durch ein Art Reflex – weiterhin fest umklammert, sodass das Auto seinen Kurs fortsetzte. Das Taxi prallte gegen den Vorderreifen eines alten Kombis, der am linken Straßenrand geparkt war, und kam zum Stehen. Der Fahrer schien das Bewusstsein verloren zu haben, aber Tomás nahm sich nicht die Zeit, das zu überprüfen. Er wusste, dass ihm nur wenige Sekunden blieben, bevor der Lieferwagen um die Ecke biegen würde. So schnell er konnte, kletterte er nach vorne auf den Beifahrersitz, öffnete die Tür und sprang aus dem Wagen.

Instinktiv rannte er hinter den Kombi, weil es das einzige Versteck in der langen Reihe parkender Kleinwagen war, das ihn vollständig verdecken würde. Es handelte sich um einen Transporter ohne Fenster, hinter dem Tomás in die Hocke ging. Wenige Augenblicke später hörte er, wie der Lieferwagen um die Ecke bog und gleich darauf am rechten Straßenrand zum Stehen kam. Geduckt lief Tomás in Richtung der Straße zurück, über die sie gekommen waren, erreichte die Straßenecke und rannte dann los in Richtung Insurgentes. Der weiße Lieferwagen war nicht zu sehen, aber er schätzte, dass es nur eine Frage von Sekunden war, bis einer der Insassen zurücklaufen und die Straße nach ihm absuchen würde. Er musste es bis zur nächsten Seitenstraße schaffen, um aus dem Sichtfeld zu verschwinden. Er konnte nur hoffen, sie würden annehmen, dass er in Fahrtrichtung des Taxis weitergelaufen war.

Tomás’ Lungen brannten, als wollten sie in Flammen aufgehen. Die nächste Straßenecke schien unerreichbar, und jeden Augenblick konnte sich der Blick eines der Männer in seinen Rücken bohren. Ich werde es nicht bis zur nächsten Ecke schaffen, sagte er sich. Fünf Meter weiter, mehr aus Atemnot denn aus strategischen Gründen, schlüpfte er in eine Filiale der Apothekenkette Similares. Zwei Verkäufer und ein Kunde blickten ihn alarmiert an.

»Ich werde verfolgt«, sagte Tomás. »Verstecken Sie mich, bitte!«

Keiner der Anwesenden rührte sich.

»Ich flehe Sie an, jedem von Ihnen könnte das Gleiche passieren.«

Der jüngere der beiden Angestellten blickte nach hinten in den Laden und wirkte nicht sehr überzeugt. Es war eine kleine Filiale ohne richtiges Lager. Aber dann schien ihm etwas einzufallen, und er deutete auf ein Doktor-Simi-Kostüm in einer Ecke des Raumes.

»Der Typ, der das anzieht, kommt erst morgen«, erklärte er ihm. »Ihre Entscheidung.«

Tomás hielt es zuerst für einen Scherz, aber niemand lachte. Er kam zu dem Schluss, dass ihm alles lieber war, als wieder hinaus auf die Straße zu gehen. Die beiden Verkäufer halfen ihm in das Kostüm, während der Kunde hastig seine Einkaufstüte nahm und den Laden verließ. Bevor er verschwand, sagte er noch: »Da kommt jemand angerannt, beeilen Sie sich.«

Die Angestellten hatten sich kaum von dem Maskottchen entfernt, als sie draußen einen korpulenten, schwitzenden Typen vorbeirennen sahen. Tomás versuchte, sich zu erinnern, was genau Doktor Simi immer machte, und plötzlich hatte er wieder vor Augen, wie die Puppe zu Música Tropical tanzend die Kunden einlud, in die Apotheke zu kommen. Zum Glück gibt es keine Musik, sagte er sich, während er damit kämpfte, seine vom schieren Gewicht der Verkleidung gehemmten Bewegungen zu kontrollieren. Er begann, ungeschickt mit den riesigen Händen zu klatschen, und ging zur Ladentür. Der Mann war bereits an der nächsten Häuserecke angelangt und überprüfte jetzt den zurückgelegten Weg, um sich das plötzliche Verschwinden seines Opfers zu erklären. Der weiße Lieferwagen hielt auf Höhe seines Mitstreiters an, nachdem er offensichtlich einmal um den ganzen Block gefahren war. Anscheinend waren seine Verfolger inzwischen – zu Recht – überzeugt, dass Tomás in die Straße zurückgelaufen war, die sie entlanggekommen waren. Die Männer standen keine zehn Meter von ihm entfernt, als sie laut fluchend beratschlagten, was als Nächstes zu tun sei.

»Der Idiot kann die Ecke da vorne noch gar nicht erreicht haben, er muss irgendwo in diesem Block sein«, sagte der Schwitzende.

»Es gibt hier nur drei oder vier Geschäfte, ich bezweifle, dass er es geschafft hat, in eines der Häuser reinzukommen. Durchsucht die Läden«, ordnete der Fahrer des Lieferwagens an.

Tomás klatschte weiterhin fleißig in die Hände und balancierte dabei von einem Bein auf das andere. Die Apotheke war das erste Geschäft auf dem Weg seiner Verfolger, das geöffnet hatte. Er war froh, dass man von Doktor Simi nicht erwartete, dass er etwas sagte, denn das wäre ihm jetzt nicht möglich gewesen: Er atmete immer noch schwer, außerdem schnürte ihm die Angst die Kehle zu.

Der Typ betrat die Apotheke und befragte die beiden Angestellten: »Haben Sie jemanden auf der Flucht gesehen? Es geht um einen Dealer, der vor einer Schule Drogen verkauft. Er muss hier vorbeigekommen sein.«

»Nein, Señor«, antwortete der Jüngere. »Ich war mit dem Kunden beschäftigt, der gerade den Laden verlassen hat, ich habe leider niemanden gesehen.«

»Ich auch nicht, Herr Wachmann. Ich war gerade hinten, um Medikamente zu holen«, versicherte der andere Angestellte schnell. Der Jüngere war definitiv der bessere Schauspieler.

Der Mann beugte sich über den Verkaufstresen, hob den Vorhang an und erkannte, dass der schmale Gang, der als Lager diente, zu klein war, um jemanden zu verstecken.

»Und du, hast du was gesehen?«, wandte er sich an Doktor Simi.

Tomás zuckte mit den Achseln, um anzuzeigen, dass er keine Ahnung habe, aber der Mann, der auf keinen Fall ein Wachmann war, sah ihn weiterhin abwartend an. Dem Journalisten wurde bewusst, dass sich die Geste in seinem Kostüm verloren haben musste, also verneinte er, indem er übertrieben mit den Armen fuchtelte.

Der Blick des Mannes kehrte zu dem älteren der beiden Angestellten zurück. Er betrachtete ihn ein paar Sekunden lang, aber etwas schien ihm zu sagen, dass es sich nicht lohnte, die Befragung fortzusetzen, und er machte sich auf den Weg zum nächsten Laden, einem Schönheitssalon einen halben Block weiter vorne.

Tomás sah mit Erleichterung, wie sich der Typ entfernte. Auf der anderen Straßenseite ging sein Kollege gerade auf die Eisenwarenhandlung zu, die sich an der Ecke gegenüber befand.

Ein stechender Kopfschmerz machte Tomás darauf aufmerksam, dass er die ganze Zeit über so fest die Zähne aufeinandergebissen hatte, dass sich sein Kiefer völlig verspannt hatte. Er atmete einmal tief durch und sagte sich, dass die Gefahr vorbei sei.

Er sah sich nach dem weißen Lieferwagen um. Der Fahrer war ausgestiegen und lehnte an der Motorhaube, von wo er aufmerksam zu ihm herüberschaute. Dann schien er einen Entschluss zu fassen und kam auf ihn zu. Tomás wich instinktiv zurück und fragte sich, welche Möglichkeiten der Verteidigung er hatte. Der Mann erreichte die Apotheke, sah ihn kurz an und sagte: »Ganz ruhig, Doktor Simi.« Er wandte sich an einen Angestellten und verlangte eine Packung Kondome. Nachdem er mit einem Hundert-Peso-Schein bezahlt hatte, kehrte er zum Lieferwagen zurück.

Der Fahrer wartete weitere fünfzehn Minuten, die sich für Tomás wie Stunden anfühlten, dann marschierte er los, um seine Kollegen einzusammeln und zu verschwinden. Ob sie auch den Taxifahrer mitnahmen oder diesen einfach bewusstlos in dem Wagen zurückließen, wusste er nicht.

Der Journalist wartete, bis es dunkel wurde, dann erst wagte er es, aus dem Kostüm zu klettern. Er bedankte sich bei den Mitarbeitern der Apotheke und versicherte ihnen mehrmals, dass er kein Straftäter sei; der Jüngere schien ihm zu glauben, bei dem Älteren war er sich nicht so sicher. Es war offensichtlich, dass sich keiner der beiden in die Sache einmischen wollte, weder um ihm zu helfen noch um ihn anzuzeigen.

Die nächsten drei Stunden verbrachte er damit, zu Fuß durch die Stadt nach San Ángel zu laufen. Bis zu dem Treffen mit Amelia war noch Zeit, und er verspürte nicht den Wunsch, noch einmal in ein Taxi zu steigen.

Die Korrupten

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