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3. Die Kommunikationssituation
ОглавлениеDie Versuche, den „Hirten“ zu datieren – und das trifft in gesteigertem Maße auf das autobiographisch reichere Visionenbuch zu –, konvergieren im zweiten Viertel des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts. Die Überlegungen zum theologiegeschichtlichen Ort treffen mit den Beobachtungen zur Wirkungsgeschichte zusammen; einen vielleicht konkreten Anhaltspunkt bietet die Aussage des Canon Muratori, Hermas sei der Bruder des römischen Bischofs Pius gewesen, in dessen Amtszeit er die Schrift verfasst habe (Zeile 73 – 77). Damit käme man nach der traditionellen Datierung in die 140er Jahre.13 Auch wenn es zu dieser Zeit in Rom noch keine monarchischen Episkopen der späteren Vorstellung gab und die Datierung in ihren Details ein Konstrukt der Folgezeit darstellt, ist der implizierte Synchronismus von hoher Bedeutung und bedarf einer kurzen Betrachtung.
Zunächst ist festzuhalten, dass im heute überlieferten Text kein Anhaltspunkt für die Datierung oder verwandtschaftliche Beziehung gegeben ist; weder ein Pius noch ein Bruder werden erwähnt, wohl aber eigene Kinder und namentlich zwei leitende Personen der römischen Gemeinde. Verfolgen wir zunächst die Hypothese, die Nachricht des von dem Gelehrten Muratori Anfang des achtzehnten Jahrhunderts entdeckten Fragments sei erfunden. Wenn der Verfasser lediglich polemische Intentionen hatte (Spätdatierung des Hermas, um seinen quasi-kanonischen Status zu diskreditieren), wäre eine Datierung in die Zeit des Pius hinreichend gewesen; eine Identifizierung als Bischofsbruder hätte eher gegenteilige Wirkung.14 Geht die Nachricht lediglich auf die Identifizierung des Visionärs mit einem ansonsten unbekannten Bischofsbruder Hermas zurück,15 wäre die genaue Bestimmung der Abfassungszeit eine unnötige Erfindung.
Die römische Gemeinde dürfte angesichts ihres Schriftverkehrs mit auswärtigen Gemeinden und ihres schnell wachsenden Ansehens als Christengemeinde des imperialen Zentralortes Rom schon seit Anfang des zweiten Jahrhunderts über ein gepflegtes Archiv verfügt haben.16 Nachrichten des im Canon Muratori vertretenen Typs dürften damit potenziell verfügbar gewesen sein. Unter der Hypothese, die biographische Einordnung des Hermas wäre korrekt, ist nun aber die Tatsache, dass ein Bruder nicht genannt wird, der einen so herausgehobenen Platz unter den römischen Presbytern einnahm, dass ihn eine spätere Systematisierung der Überlieferung zum Bischof machen konnte, als auffällig zu bezeichnen – auffällig in einem Text, der das Problem der eigenen Durchsetzung in der Gemeinde explizit zum Thema erhebt.
Aus diesem Befund ergeben sich zwei Deutungsmöglichkeiten, die beide das Fehlen des Namens im Text erklären könnten. Erstens: Pius wurde später zum Bischof gemacht, gerade weil er Bruder des erfolgreichen Visionärs Hermas war. Oder zweitens: Der ohnehin angesehene, aber keineswegs monarchisch führende Presbyter Pius setzte seine theologischen Vorstellungen innerhalb des auf Konsens angewiesenen Presbyterialkollegiums gerade mit Hilfe einer von außen kommenden Autorität, nämlich der visionären Schrift des Bruders, um. Ein solches Verfahren wäre weder religionsgeschichtlich noch stadtrömisch ungewöhnlich: Auch die Bücher des sagenhaften Königs Numa wurden auf dem Grundstück interessierter Parteien gefunden, allerdings nicht im richtigen Moment: Sie landeten nach intensiver Diskussion in der römischen Führungsschicht des beginnenden zweiten vorchristlichen Jahrhunderts auf dem Scheiterhaufen.17 Hier wie ein Jahrhundert früher bei der Publikation juristischer Formeln übernahm jeweils ein Schreiber (scriba) des Kollegiums der Pontifices in eigenem Namen die Rolle des von außen kommenden Auf- oder Entdeckers. Hermas und (nach dieser Hypothese) auch Pius waren offensichtlich erfolgreicher.18
Letztlich konvergieren beide Hypothesen: Die erste formuliert nur die langfristigen Folgen der zweiten. So sehr ich die Hypothese in ihrer zweiten Formulierung favorisiere, so wenig beeinflusst sie die folgende Analyse des Textes (wenn auch seine Gesamtinterpretation). Die Tatsache, dass Hermas nicht darauf vertrauen darf, über den Einfluss des Pius schon Gehör zu finden, hat zur Folge, dass die Strategie des Textes – von der zur Kaschierung weitergehender Intentionen notwendigen Vermeidung des Pius abgesehen – mit jener identisch sein muss, die ein Nichtbischofsbruder, ein Mann aus dem Volk, verfolgen müsste.
Überträgt man die autobiographischen Angaben des mit Hermas angeredeten Ich-Erzählers des Visionenbuches auf den Verfasser – eine, wie sich im nächsten Abschnitt zeigen wird, problematische, aber, wie sich im übernächsten Abschnitt zeigen wird, wahrscheinliche Annahme –, so tritt dieser vor uns als Freigelassener, als gebürtiger Haussklave (verna) oder Findling,19 der es zu einer eigenen Familie bringt und mit wechselndem Erfolg Geschäfte, wohl Handelsgeschäfte betreibt. Die unvermittelte autobiographische Eröffnung des Textes ist zu knapp, als dass sich weitere Einzelheiten der autobiographischen Realität oder Fiktion sicher erschließen ließen. Die Wiederbegegnung mit der ehemaligen Zweitbesitzerin, der Römerin Rhode, nach langen Jahren, die dazu führt, dass Hermas sie „wie eine Schwester“ liebt, scheint mir aber weniger ungeschickte Romannachahmung zu sein, als vielmehr Anspielung auf Sachverhalte, die den Primäradressaten zumindest potenziell bekannt waren: Rhode könnte Hermas etwa nach ihrer eigenen Konvertierung zum Christentum freigelassen und auf weitere Dienste verzichtet haben; Hermas wäre ihr dann in der christlichen Gemeinde wiederbegegnet: „anfangen zu lieben wie eine Schwester“ wäre dann ein Terminus technicus. Das Verhältnis zur Mitchristin und Patronin erhält erst durch Gedanken, welche die dem Bade im Tiber nackt20 Entsteigende auslöst, eine neue, erotische Wende, welche die gesamte weitere Handlung in Gang bringt – eine szenische Verdichtung, deren Assoziationen, unabhängig vom Realitätsgehalt, für den weiteren Verlauf des Textes entscheidend sind.
Die Organisation der römischen Gemeinde, in der Hermas keine erkennbare institutionalisierte Rolle einnimmt, lässt sich in Grundstrukturen dem Visionenbuch entnehmen.21 Nicht näher bestimmte Leitungsfunktionen übt das Kollegium der Presbyter aus; der Begriff scheint synonym mit „Episkopen“ verwendet zu werden. Dieses Kollegium bildet das Forum, in dem Hermas den ihm geoffenbarten Text selbst vorliest (8,3). Die Gemeindeversammlung, die vielleicht in den Anreden „Brüder“ angezielt ist, spielt als Institution explizit keine Rolle; möglicherweise impliziert die Verlesung vor den Presbytern die Bitte um Erlaubnis, den Text dann unter presbyterialer Aufsicht vor den größeren Kreis zu bringen. Speziellere Öffentlichkeiten bilden Treffen der Witwen und Waisen, die durch eine gewisse Graptē ermahnt werden sollen (8,3) – der organisatorische Rahmen ist hier besonders unklar. Lehrer, und damit christliche Unterweisung, existieren, spielen aber als Kommunikationsschiene für Hermas keine Rolle. Erwähnt werden muss schließlich auch, dass Hermas einen Clemens beauftragen soll, den Text brieflich in anderen Gemeinden zu verbreiten (ebd.): Rom wird hier, wie es schon der Paulusbrief an die Römer und die Briefe des Clemens Romanus erkennen ließen, als eines der christlichen Kommunikationszentren deutlich. Zugleich könnte hier eine Rezeption der johanneischen „Offenbarung“ mit ihrer Briefform vorliegen.
Ohne Zweifel zielt der Verfasser des Visionenbuches auf eine Textwirkung, die nicht von ihm allein als kritischem Gegenüber direkt an die Gesamtgemeinde ergeht – Hermas’ Rolle ist problematisch und nicht durch den Rückgriff auf eingespielte Institutionalisierungsformen gedeckt.22 Vielmehr erfolgt die Kommunikation durch die eingespielten Instanzen, und zwar von oben nach unten. Verschriftlichung dient hier also nicht der unautorisierten Präsenz des Textes in „Gegenöffentlichkeiten“ (Leutzsch), sondern der Beschleunigung der Kommunikation in einem komplexen System: Der Text ist innerhalb der Gemeinde in verschiedenen sozialen Räumen, gegebenenfalls durch die üblichen Leiter oder Leiterinnen, vorzulesen, zu oralisieren.