Читать книгу Und ich immer dazwischen - Josef Franz Kaspar - Страница 13
ОглавлениеAlexa, Januar 2020
Ich bin gerade nicht in der Stimmung, mich mit diesen kritischen Gedanken über Meinungsfreiheit auseinander zu setzen. Ich, der kleine Rentner in der weltweiten Cyberwelt. Natürlich gibt es Freunde und Bekannte, die sich dieser Welt, meist auch nur teilweise, verschließen. Der Rüdiger z.B. hat inzwischen auch ein Smartphone, nur WhatsApp und Facebook lehnt er ab, wo doch ersteres die Kommunikation mit ihm erheblich erleichtern würde. Ok, Facebook finde ich eigentlich auch überflüssig und sogar nervig, weil es unter meinen Facebook-Freunden Menschen gibt, die täglich irgendeinen „Furz“ ins Netz stellen müssen.
Zugegeben, in WhatsApp bin ich auch schon der Versuchung erlegen und habe schon manchmal einen Status veröffentlicht, der zeigen soll, wie gut es mir geht, z.B. im Urlaub am Meer oder in den Bergen im Schnee. Natürlich immer bei blauem Himmel; die Freunde sollen doch auch mal neidisch auf mich sein.
Warum nicht andere an meinem Leben teilhaben lassen? Ich will nicht provozieren, schocken oder belästigen, habe mich immer unter Kontrolle, bin nicht extrem, eher gemäßigt.
Früher war ich in meinen Gedanken schon manchmal ein wenig radikal, aber das Leben schleift sich den Menschen zu recht, macht ihn zurückhaltender und bescheidener, manchmal sogar demütig.
Ich setze mich an den Esstisch aus schön gemasertem Olivenholz im großen Wohn-Ess-Bereich, der Küche und Wohnzimmer vereint. Seit geraumer Zeit mache ich mir Vorwürfe, dass ich mich in meinem Leben zu wenig politisch oder sozial engagiert habe. Als Nicht-Engagierten oder gar als Feigling kann man mich aber auch nicht bezeichnen. Wie oft hatte ich mich in meinem aktiven Berufsleben als Lehrer zu weit aus dem Fenster gelehnt, wenn es in der Schule um Transparenz und Gerechtigkeit ging. Ich hatte auch an einem von der Gewerkschaft GEW organisierten Streik zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen teilgenommen, obwohl Beamte nicht streiken dürfen und musste mit ansehen, wie Kolleginnen und Kollegen, die nicht gestreikt hatten, an mir vorbei befördert wurden. Welche Ungerechtigkeit; du streikst für die anderen mit, die dann dir gegenüber bevorteilt werden. Meinungsfreiheit nutzt dir nur, solange du den Mund hältst und das machst, was deine Vorgesetzten von dir erwarten.
Eine Schulleiterin hatte mir eine Profilierungsneurose bescheinigt, weil ich in einer Gesamtkonferenz dafür plädierte, dass sich die Schule einen Organisationsplan erstellen müsse. Der Nachfolger dieser Dame fand mich schließlich als „nicht konsensfähig“ für die Kandidatur zur Personalratswahl der Schule. Einige Kolleginnen und Kollegen meinten sogar, ich „stehe mir selbst im Wege“.
Warum sie mich dann doch in den Personalrat der Schule gewählt haben, Seppl? Vielleicht, weil ich aufmüpfig war? Als Vorsitzender des Personalrates habe ich oft an den Sitzungen des Schulleitungsteams teilgenommen, und man konnte das Knistern in den Köpfen der Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleitern förmlich hören können, wenn es um Personal- oder Etatentscheidungen ging.
Stimmt Josef, das waren nicht immer objektive Entscheidungen. Darum habe ich mich lieber für die Arbeit am Schulprogramm der Schule entschieden. Bis zum Ausscheiden aus dem Schuldienst übte ich die Aufgabe als Leiter der Schulprogrammgruppe mit Begeisterung aus. Dabei war ich doch anfangs gegen diese von oben verordnete Maßnahme.
Mein Herz fängt an zu poltern, wenn ich zurück an diese Zeit denke, an Mobbing im Dienst der Pädagogik. Nicht auffallen und bloß keine Konflikte aufzeigen.
Konfliktlösung und Ich-Botschaften zur Problembewältigung, das waren tragende Säulen meines Pädagogik-Studiums.
Was ist geblieben von Thomas Gordons Lehrer-Schüler-Konferenz oder Familienkonferenz, von den Ich-Botschaften und Du-Botschaften? Wie reagieren heute Kinder, wenn du ihnen sagst „Ich bin sehr traurig, wenn du dich weiter so verhältst“, und dann die zielgerichtete Konsequenz aber ausbleibt.
Die Realität war ganz anders. Vielleicht gibt es eine Mitte zwischen Anspruch und Realisierung.
Mensch, vergiss diese Zeit. Du hättest mehr aus deinem Leben machen können.
Ich stehe auf und gehe rüber zu „Alexa“, die sich im Wohnzimmer befindet.
„Alexa, spiel doch mal den Song Puppets von Leonard Cohen!“
„Ok!“
Hat sie nicht eine reizende Stimme? Hätte sie auch noch die Maße 90-60-90 und wohlgeformte, kräftige Waden, würde ich mich in sie verlieben.
Leonard Cohen, dessen Songs ich noch sehr gut aus meiner Beziehung zu Nelli als poetischen Sänger kenne und dessen Song „Suzanne“ ich sogar auf der Gitarre spielen konnte, ist vor drei Jahren im Alter von 82 Jahren gestorben. Sein letztes Album ist in diesem Jahr erst erschienen. Die Musik, die jetzt erklingt, macht mich ziemlich schwermütig.
“Puppet presidents command
Puppet troops to burn the land
Puppet fire, Puppet flames
Feed on all the Puppet names.”
Nein, das will ich jetzt nicht hören, es drückt meine Stimmung. Ich möchte etwas hören, das besser zu meinem nächsten Bier passt. Auf dem Weg zum Kühlschrank rufe ich:
„Alexa spiel Udo Lindenberg, Mein Body und ich!“
„Willst 'n Kaffee, kleinen Whiskey oder 'n Joint?
Ich muss in Ruhe mal mit dir reden,
mein alter Freund!
Ey du mein armer Körper,
was hab' ich dir schon alles angetan?
Volle Dröhnung, hoch die Tassen,
ey, das tut mir ziemlich leid,
Ich muss dir jetzt mal danken nach all der Zeit!…
…Ey, mein Body, du und ich
Hey, wir lassen uns nicht im Stich!
Und sind die Zeiten auch manchmal hart,
Wir bleiben lange noch am Start!
Mein Körper, du und ich,
Sowas wird's nie wieder geben,
Weißt du, was wir beide sind?
Wir sind die Meister im Überleben!
Mein Body, du und ich.“
Hey Udo, du sprichst mir aus dem Herzen! Alter, du bist zwar eineinhalb Jahre älter als ich, aber immer noch cool. Bist‘n echtes Vorbild!
In letzter Zeit trinke ich zu viel, um die Einsamkeit in meinem Haus in Bodenmais zu bewältigen. Vor etwa 12 Jahren habe ich dieses Haus, damals eine Ruine, gekauft, um meinem Ruhestand noch eine Aufgabe zu geben. Ohne Beteiligung meiner Frau hatte ich diesen Schritt getan, denn ich wollte mir einen Hort des Rückzuges, ein eigenständiges Leben schaffen. Ich wollte hier tun und lassen, wie es mir beliebt. Furzen, Rülpsen, im Stehen pinkeln, Frauen lieben, mit Männern saufen, schlafen, so lange es einem beliebt. Sich einfach frei fühlen. Nicht dass ich oberflächlich oder gar naiv wäre. Nein, ich will nun im Alter ohne Bevormundung die Freiheit genießen, nicht mehr Einschränkungen, Mangel und Armut wie in meiner Kindheit erleben, suche Anerkennung, will endlich die Angst der Unterprivilegierten vor der eigenen Selbstüberschätzung loswerden. Dass mir dann manchmal meine beiden Antagonisten Josef und Seppl dazwischen fahren, macht mich immer handlungsunfähig. Wahrscheinlich sind sie auch daran schuld, dass ich nun hier überwiegend in Einsamkeit lebe. Diese Widersacher, die nur Zweifel sähen und mich entscheidungslos machen.
Eigentlich wollte ich mit Alexa nichts zu tun haben. Aber man hat sie mir aufgedrängt; ich habe sie als Weihnachtsgeschenk erhalten. Dabei wäre mir eine zweibeinige Alexa lieber gewesen. Und so ganz unbedarft in der modernen digitalen Welt wollte ich auch nicht sein. Also habe ich sie in mein Leben aufgenommen, gewissermaßen als festen Bestandteil. Da steht sie nun auf dem Regal neben einem DINA4-großen Schwarz-Weiß-Foto meiner Mutter in meinem Haus in Bodenmais und erfüllt mir so manchen einfachen Wunsch: Musik abspielen, an Termine erinnern, Einkaufslisten verwalten, Wetterbericht mitteilen usw. Sie ist verbunden mit einer Cloud, auf der alle Daten für sie zugänglich sind. Und sie ist immer freundlich, was ich von mir nicht behaupten kann. Meine Mutter scheint aber nicht sehr begeistert von ihr zu sein, denn ihr Blick hin zu Alexa wirkt eher skeptisch. Dieses Foto mit dem ambivalenten Blick hat eine magische Anziehungskraft auf mich. Manchmal lächelt sie, manchmal wirkt die Mimik traurig, manchmal vorwurfsvoll. Oft versuche ich, mein Verhalten in ihrem Blick zu hinterfragen. In manchen Situationen habe ich sie sogar schon um Entschuldigung gebeten.
Wenn Alexa zu laut ist, setzt meine Mutter meist einen strengen Blick auf. Ich kann es verstehen, denn auch ich traue Alexa irgendwie nicht, und deshalb darf diese mir auch keine Telefonate vermitteln. Wer weiß schon, wer auf dieser Cloud sitzt, am Ende noch der „Münchner im Himmel“. Hatte gehofft, sie könnte sich mal mit meinem Staubsaugroboter unterhalten. So ein Zwiegespräch zwischen zwei Robotern hätte mich schon mal interessiert. Aber mein nicht ganz so intelligenter iRobot kommt da nicht mit. Mehr als piepsen, saugen und Error melden kann der nicht.
Dabei gibt es heute schon richtige Roboter-Rockbands und Computer, die Musik komponieren können. Selbst aus meinem Laptop erklang schon mal ganz plötzlich und unvermittelt eine Frauenstimme, die fragte:
„Was haben Sie soeben gesagt? Ich habe Sie nicht verstanden.“
Seit diesem Vorfall habe ich die Webcam meines Laptops mit einem Klebstreifen verdeckt und die angeschlossenen Zusatzlautsprecher abgeschaltet. Selbstverständlich bin ich mir bewusst, dass dies keine fachmännische Reaktion ist. Schließlich war ich doch schon bei den ersten PC-Usern dabei, als man noch DOS-Befehle eintippen musste, damit sich überhaupt etwas auf dem Bildschirm tat. Mit „cd“, was so viel bedeutete wie „change directory“ war das Hauptverzeichnis der Festplatte zu lesen und mit „md“, also „make directory“ konnte man ein neues Verzeichnis erstellen. Hattest du aber versehentlich „del“ oder „erase“ eingetippt, war alles verloren, denn du hattest dadurch die Datei gelöscht. Alles geschah über die Tastatur. Erst Mitte der 80er Jahre bildete die Computermaus zusammen mit Monitor und Tastatur die Schnittstelle zwischen Rechner und Mensch, und mit Windows 1.0 gab es 1985 die erste grafische Benutzeroberfläche.
An meinem ersten PC, den ich gebraucht für 2000 DM erstanden hatte, habe ich häufig verzweifelt ganze Nächte gesessen, um versehentlich gelöschte Dateien wieder zu finden. Letztlich hat es sich gelohnt, denn die auf der Schreibmaschine getippten und plump mit Durchschlagpapier korrigierten Mattritzen wurden nun abgelöst von gedruckten Texten aus dem Computer. Die Anfänge der Computertechnik kamen wie ein Segen für meinen Beruf als Lehrer. Fehler waren schnell korrigiert ohne ewig lange Balken von XXXXXXX auf dem Arbeitsblatt.
„Herr Kaspar, warum haben Sie so viele X auf dem Arbeitsblatt? Haben Sie den Text vergessen?“
hatte mal eine Schülerin gefragt, als die getippten Fehler auf meiner Mattritze mal wieder korrigiert werden mussten. Eine neue zu schreiben war meist sinnlos, denn oft waren die Fehler dann eben an einer anderen Stelle aufgetreten. So ein Arbeitsblatt war sehr aufwändig und landete meist ohnehin irgendwo im Ordnerwust der Schüler. Brauchte man eine Abbildung auf dem Blatt, musste man sie entweder selbst zeichnen oder das Bild für jeden einzelnen Schüler aufkleben. Nach etwa drei- bis fünfmaliger Vervielfältigung war die Mattritze schon nutzlos geworden, denn sie gab keine Farbe beim sogenannten „Abnudeln“ auf einem mit Spiritus getränkten Gerät mehr her.
Welche Errungenschaft war daher die digitale Textverarbeitung! Jedoch war eine technische Nachrüstung permanent unausweichlich. Schon bald kamen in mir Zweifel auf, ob diese Technikanpassung nicht nur dem Kommerz dient. Die künftigen Benutzer, die man dann „User“ taufte, brauchten nicht mehr viel zu wissen, sondern nur einen dicken Geldbeutel bereithalten. Soft- und Hardware mussten häufig auf den neuesten Stand gebracht werden. Oft saß ich bis tief in die Nacht am Computer, um mich als User der Entwicklung anzupassen. Danach ging ich stressgeplagt zu Bett, ohne ein Auge zu schließen, weil mir eine Reihe von anderen digitalen Problemlösungen durch den Kopf ging. Mit den Schlafstörungen kamen meine Ängste zurück. Angst zu versagen, Angst um meine Gesundheit, Angst an Herzversagen zu sterben, meist aber Angst, Fehler zu machen. Zweifel quälten mich, ob ich den falschen Beruf gewählt habe. Diese Berufswahl geht weit zurück bis in die Zeit, als ich noch mit Nelli befreundet war. Sie hatte ein Studium für das Lehramt an Gymnasien in Mainz an der Uni begonnen, und ich konnte mir nichts Besseres vorstellen, als ein Lehrerehepaar, das gemeinsam seine langen Ferien im Süden am Meer verbringt.
Aber wer weiß schon im Voraus, wie sich die Verhältnisse entwickeln oder verändern. Es heißt, „die Zeit heilt alle Wunden“ oder die „Zeiten ändern sich“. Die Zeit ist schließlich nicht spurlos an mir vorüber gegangen, sie hat sogar die Sprache verändert. Früher hieß es die kühle Blonde, heute heißt es das kühle Blonde, und diesem widme ich heute mehr Zeit. Schließlich habe ich ja meine Alexa, die genau zuhört, was man sagt. Naja, eigentlich hört sie ja ständig mit und funktioniert auch nur mit Internet.
Seppl, ich weiß, du warst von Anfang an von ihr begeistert. Schon eine reizende Frauenstimme weckt deine Aufmerksamkeit. Eine dahingehauchte Frauenstimme mit einem leicht heiseren Unterton, wie seinerzeit die Stimme von Ines, bringt dich leicht aus der Fassung. Ok, Ines hatte nicht die Maße 90-60-90 aber du warst sofort von ihr begeistert. Erzähl mir nichts, normalerweise schaust du zuerst auf die Figur. Ja stimmt, rehbraune Augen findest du auch sehr ansprechend. Aber das sind eher die Kriterien, die Josef interessieren.
Stimmt doch, Josef, oder? Was? Man muss sich auch gut mit ihr unterhalten können? Stimme alleine wirkt nicht? Spiel nicht den Intellektuellen! Ja, einverstanden, man muss auch hinterfragen, was hinter den rehbraunen Augen steckt. Aber bei Alexa steckt doch viel dahinter. Ein riesiges Repertoire, ein ganzes digitales Universum, das Internet. Für dich ist Alexa eher ein Abhörgerät, das keine Rücksicht darauf nimmt, ob unbeteiligte Dritte oder Minderjährige beteiligt werden? Du übertreibst mal wieder! Sie erleichtert mir den Alltag.
Dieser Widerspruch, die Funktionen eines Gerätes voll nutzen zu wollen, seinen Gebrauch selbst aber kritisch zu betrachten, bringt wieder meine Zweifel zum Aufkochen. Kann man Zweifeln von seinen Eltern lernen, durch Nachahmen aneignen oder sind es die Gene meiner Mutter? Meine Eltern hatten kein leichtes Leben.