Читать книгу Und ich immer dazwischen - Josef Franz Kaspar - Страница 8

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März 2020

Ich fühle mich wie eine Eidechse, die unter den Steinen hervorkriecht, um die Sonne auf ihrer Haut zu spüren, ihren Stoffwechsel als Wechselbluter wieder anzuregen. Nach diesem Winter, der eher durchgehend wie ein unangenehmer, nasskalter November war, wirkt die Frühlingssonne wie ein Lebenselixier. Gestern erst kam ich aus dem Bayerischen Wald hierher nach Südhessen und war begeistert von der Blütenpracht, die der Frühling hier schon ausgesät hat.

So einen Tag muss man in der freien Natur verbringen, muss den Kopf der Sonne entgegen strecken und die nasse Kälte des Winters abschütteln wie eine überflüssige Hülle. Wir lassen uns nicht einsperren in den vier Wänden, die uns nun schon die längste Zeit des Winters umgaben. Wir müssen raus, auch wenn alle Warnungen vor einer Pandemie des Corona-Virus Zurückhaltung in sozialen Kontakten verlangen. Schließlich stärkt die Sonne unser Immunsystem und frische Luft unsere Atemwege. Was also sollte uns davon abhalten, ein Ausflugsziel an der Bergstraße anzusteuern. Man bewegt sich in der sauerstoffreichen Luft des Odenwaldes, sitzt im Freien ohne sichtliche Nähe zu eventuell Infizierten und stärkt sein Immunsystem durch UV-Strahlung.

Auch meine Frau Ute ist davon überzeugt, dass eine Wanderung vom Fürstenlager bei Bensheim-Auerbach zum Kirchberghäuschen in exponierter Lage über Bensheim das geeignete Event für einen Mittwoch im März ist. Eingepackt in Übergangskleidung mit Thermovlies und Notfall-Schal fahren wir, nein, man könnte sagen „schweben wir“ in ihrem gelben Nissan Juke auf der A5 entlang der Bergstraße und bewundern die Blütenpracht auf beiden Seiten der Autobahn. Der Staatspark Fürstenlager, der eigentlich im 18. Jahrhundert zu einem Badbetrieb ausgebaut werden sollte, jedoch wegen versiegender Quellen als Bad wieder aufgegeben wurde, ist heute ein wunderbares Ausflugsziel mit exotischer Vegetation. Mammutbäume, Sicheltannen, Sumpfzypressen, Buschkastanien, Ginkgos und vor allem im Frühjahr herrlich blühende Magnolien begleiten unseren Einstieg auf dem Weg zum Kirchberghäuschen.

Als wir dieses nach ca. vierzig Minuten erreichen, wundern wir uns über das rotweiße Absperrband, das über viele Tische des Biergartens gewickelt ist. Gleich am Zugang zum Biergarten empfängt uns der Betreiber der Gastronomie mit dem Hinweis, dass er heute wegen des Corona-Virus nur 18 Plätze belegen dürfe und alle Gäste einen Mindestabstand von zwei Metern einzuhalten haben. Wir sollten uns gedulden, bis ein Platz für uns frei würde, könnten aber schon Speisen und Getränke bestellen. Er selbst bedauere diese Anordnung, die auch für ihn bei einem Sitzplatzangebot von ca. 200 Sitzplätzen einen enormen wirtschaftlichen Verlust bringe. Wahrscheinlich wird das Kirchberghäuschen ab morgen dann bis auf weiteres ganz geschlossen werden.

Wir haben Glück und bekommen einen Biertisch für ca. acht bis zehn Personen mit herrlicher Aussicht über Bensheim nur für uns Beide. Direkt hinter unserem Tisch steht eine herrlich rot blühende japanische Zierquitte. Ich kann nicht widerstehen, sie mit meinem Smartphone zu fotografieren und dieses Foto Freunden per WhatsApp zu senden. Dass ich damit einen Sturm von Nachrichten auslösen würde, war mir in diesem Augenblick nicht bewusst. Von Vorwürfen über Leichtfertigkeit bis hin zu Verschwörungstheorien zur Pandemie wird mein Smartphone bis an die Leistungsgrenze des Akkus mit WhatsApp-Nachrichten versorgt. Eine Nachricht, die darauf hinweist, dass das Corona-Virus gegen Alkohol empfindlich sei, verstärkt meine Absicht, noch ein zweites Weizenbier zu trinken und auch meine Frau entscheidet sich für ein zweites Glas Wein. Weil unser geräumiger Platz mit der herrlichen Aussicht zu längerem Verweilen einlädt, bestellen wir uns weiteren „Nachschub“. Der Weg zurück zum Fahrzeug braucht dann einige Schritte mehr als der Hinweg, aber wir kommen zufrieden mit der Erkenntnis, alles richtig gemacht zu haben, schließlich wieder heil zu Hause an. Doch die Nachrichten zur Pandemie verdichten sich, die Medien bedienen fast nur noch ein Thema: Corona-Virus und seine Folgen. Aktienkurse fallen ins Bodenlose, Panikkäufe in Supermärkten, Drogerien und Apotheken führen zu Verknappung, Firmen und Betriebe schicken ihre Beschäftigten in Kurzarbeit oder nach Hause, Kindergärten, Schulen und öffentliche Einrichtungen, Sporteinrichtungen, Skibetriebe und Hotels schließen ihre Pforten. Reisen, Flüge, Veranstaltungen, Konzerte, Sportwettkämpfe, national wie international, werden abgesagt. Homeoffice und Videokonferenzen werden in verschiedenen Arbeitsbereichen unverzichtbar. Der soziale, gesellschaftliche Alltag bricht zusammen und viele Unternehmen stehen vor dem Aus. Ist es Schicksal oder kann das jemand gewollt haben?

Einige Nachrichten spielen das Problem ironisch herunter und lassen mich wenigstens zwischendurch auch mal über die ausgebrochene Hysterie lachen. Nachdem Toilettenpapier in allen Supermärkten ausverkauft ist, geht ein Foto durchs Internet, auf dem man eine Toilettenpapierrolle im Fond eines Autos sieht, und darüber steht der Text: „Die Polizei rät: Lassen Sie keine Wertgegenstände von außen sichtbar im Fahrzeug liegen.“

Andere wieder verbreiten Verschwörungstheorien und versuchen wirtschaftliche Interessen oder Machtinteressen hinter der Verbreitung des Virus auszumachen.

Dennoch verunsichern die täglichen Hiobsbotschaften und Widersprüche zur Pandemie, die über alle Medien auf mich einwirken. Ist das ganze nur ein Medienspektakel, das in vier bis sechs Wochen vorüber ist oder steckt dahinter ein Interesse von Machthabern oder gar wirtschaftliches Interesse? Am Ende weiß ich nicht mehr, wer oder was ich in diesem Räderwerk bin.

Beim Versuch, in mich rein zu horchen, verfolge ich meinen Atem und vernehme ein leicht rasselndes Geräusch. Sollte ich vielleicht besser zum Arzt gehen und mich auf das Corona-Virus testen lassen? Seit vielen Jahren beschäftigen mich Herzrhythmusstörungen und mit zweiundsiebzig Lenzen gehöre ich schließlich zur Risikogruppe. Mein Herz fängt wieder an zu stolpern und vermittelt mir ein Gefühl, als würden zwei Herzen in meiner Brust schlagen.

Und ich immer dazwischen

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