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Soziale und moralische Unverschämtheit

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Unverschämtheit heißt, die anderen, die einen sehen und deshalb in der Öffentlichkeit bloßstellen könnten, bewusst nicht zu sehen, nicht zu beachten, zu missachten. Dasselbe gilt für Schamlosigkeit. Scham ist insofern gebunden an das moralisch-praktische Prinzip der Anerkennung. Dennoch kann man abwägend sagen, dass der Unverschämte in einen eher sozialen, der Schamlose dagegen in einen eher moralischen Zusammenhang gehört. Schamlos oder eine »Schande« nennen wir etwa jene Schicht der Reichen, die sich unverhältnismäßig weiter bereichert, unverhältnismäßig, weil sie all das Geld, das diese Menschen besitzen, »nicht in tausend Leben ausgeben könnten« und weil sie zu einer Welt beitragen, in der die reichsten acht Menschen – in Zahlen: 8 – mehr als die untere Hälfte der Weltbevölkerung, also 3,6 Milliarden Menschen, besitzen.28 Schamlos ist, dass man sich maßlos bereichert, unverschämt, wie man dies tut. Schamlos sind Menschen, die Smartphone-Fotos und Filmchen verletzter, sterbender, toter Menschen via Internet in »Car Crash Compilations« freigeben für die likes und dislikes. Schamlos ist ein Verhalten, das basale moralische Maßstäbe unterbietet, unverschämt ist, dies auch noch öffentlich zu tun. Der Unverschämte zeigt allen, dass sein schlechtes Handeln kein schlechtes Gewissen kennt. Warum, so fragt er sich selbstbewusst, sollte ich mich in einer Warteschlange anstellen, wenn Warten etwas für die Masse (im abwertenden soziologischen Sinn des Wortes), für loser und underdogs, ist, ich aber eine Herrscherperson bin, ein Chef? Ich bin nicht wie die vielen anderen. Ich bin etwas Besseres. Schämen würde der Unverschämte wie jeder andere Mensch sich nur vor seinesgleichen, also vor Menschen, die er anerkennt und deren Urteil er schätzt.

Mit anderen Worten: Wer sich nicht schämt, kann oder will sich nicht vorstellen, wie die anderen ihn sehen, das heißt wahrnehmen und wertschätzen. Ihm fehlt daher jene Außenperspektive, die ihn lehren könnte, wo seine Grenzen liegen. Insofern kann Scham, moralisch gesehen, ein lehrreiches Gefühl sein. Erst wer gelernt hat, sich mit den Augen von Anderen zu sehen, kann sich ja, wie wir spätestens seit George H. Mead wissen29, deren Erwartungen zu eigen machen und in seinem Verhalten danach ausrichten.

Psychologisch und philosophisch besteht generell weitgehend Konsens darüber, dass Scham nur auf der Basis von intersubjektiven und sozialen Beziehungen entsteht.30 In der Philosophie ist vornehmlich Sartres entsprechende Analyse aus Das Sein und das Nichts (1943) berühmt geworden. Schon Hegel hat in den Jahren, die er als junger Dozent in Jena verbringt und mit seiner Phänomenologie des Geistes (1807) abschließt, die Theorie eines Kampfes der Subjekte um wechselseitige Anerkennung erarbeitet. Sartre bezieht sich darauf, dreht sie aber in ihrem Effekt um: Indem zwei Subjekte sich (als gegenseitig sich anerkennend) anerkennen, legen sie nicht (nur) die Grundlage zu wirklicher Freiheit, sondern (zugleich) zu Unfreiheit. In dem Augenblick, in dem ich sehe, dass ein anderes Subjekt mich ansieht, begreife ich, dass es mit mir tut, was ich mit ihm tue oder vorher schon getan habe: Dieses Subjekt macht mich in derselben Weise zum Objekt, wie ich es zum Objekt mache. In dieser Objektivierung aber kommt einem Freiheit abhanden, die Freiheit, anders zu sein als dasjenige, worauf man als Objekt festgelegt wird. Schamsituationen beschreibt Sartre dabei als spezifische Anlässe der Dramatisierung dieser phänomenologisch-ontologischen Situation des Erblicktwerdens. Denn in der Scham bringt mich der ertappende Blick des Anderen in eine Zwangslage, aus der ich nicht entrinnen kann. Ich bin sozusagen nur noch ein nacktes Faktum, abgeschnitten von meinen Möglichkeiten. Insofern steht die Scham just bei Sartre nicht nur für eine soziale und moralische, sondern für eine ontologische Reaktion.31

In einem engeren, nämlich moralischen, aber nach wie vor sozialen Rahmen verortet John Rawls das Phänomen. Scham definiert er als »Empfindung verletzter Selbstachtung«, und Selbstachtung erscheint ihm als das »vielleicht wichtigste Grundgut«. Denn ohne Selbstachtung »scheint nichts der Mühe wert« und »man versinkt in Teilnahmslosigkeit und Zynismus«.32 Scham ist ein Gefühl, das diesen passivierenden und isolierenden Effekt verletzter Selbstachtung zum Ausdruck bringt. Die asoziale Tendenz ist kennzeichnend für dieses Gefühl. Insofern muss man sagen, dass Scham ein notwendiges Gefühl im negativen Sinne ist, eines, das man als Beschämungshandeln vermeiden muss, wenn man – moralisch – den Anderen in seiner Selbstachtung nicht kränken will, wenn man – sozial – an teilnehmenden Mitmenschen interessiert ist, und wenn man schließlich – politisch – an partizipierenden Mitbürgern interessiert ist. Das Gefühl der Scham ist eine Mauer für das Mitfühlen (compassion)33, ganz allgemein für das Sein mit Anderen. Es isoliert, ja vernichtet den Weltbezug; man schlägt die Augen nieder, weicht dem Blick des Anderen aus, ja man möchte, wie man sagt, am liebsten im Boden versinken (you want the ground to swallow you up), also sich selbst ver- und begraben, unsichtbar werden, sich überhaupt dem Kontakt mit anderen entziehen, was wiederum den negativen Effekt mit sich führt, dass man das Beschämende nicht mitteilen, nicht mit anderen teilen kann.34 Scham gehört zu den am meisten privaten und privatisierenden Gefühlen.

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