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Kompensation und Transformation

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Zorn ist eine treibende Kraft des Handelns. Er speist das Handeln mit Energie, hält es aufrecht und stellt ihm ein Ziel vor Augen. Er ist, literarisch-physikalisch ausgedrückt, »für alles Lebendige …, was für die Mühle das Wasser und der elektrische Strom für das Rad sind«.10 Er richtet sich gegen etwas oder jemanden (der dieses Etwas, eine Institution oder ein Unternehmen, repräsentiert). Er ist umso stärker, je größer die moralisch-psychologische Verletzung ist, aus der er hervorgeht. Je stärker er ist, desto obsessiver, unangenehmer und zerstörerischer kann er allerdings auftreten. Auch im Allgemeinen weiß man beim Zorn nie so genau, woran man bei ihm ist. In der alltagssprachlichen Beschreibung und Metaphorik »packt« er einen wie eine starke Gewalt und »bricht aus« wie ein Vulkan. Physiologisch zeigt er sich nicht nur in der Körperhaltung, sondern im offenen Visier des Gesichts, das rot anläuft und die angeschwollene Stirnader hervortreten lässt. Am Ende »verraucht« er womöglich wie ein Feuer. So erscheint er als menschliche Naturgewalt oder als ein Beleg für »das Tier in uns«, das Animalische der Emotion, nüchtern gesehen als ein Affekt, der Physisches und Psychisches, Leib und Seele gleichermaßen betrifft.11

Ein Paradebeispiel für die eruptive Naturgewalt des Zorns oder der Wut kann man etwa in schauspielerischen Leistungen John Goodmans bewundern, der filmischen Verkörperung eines immer nur vorläufig in sich ruhenden Kolosses. In The Big Lebowski (1998) hat er einen großen Auftritt, wenn er als Walter Sobchak mit einem Baseball-Schläger einen roten Sportwagen demoliert, weil er fälschlicherweise annimmt, er gehöre einem jungen Kerl, von dem er, zusammen mit seinem Freund und Bowling-Kumpel Jeff Lebowski, genannt »the Dude«, wiederum fälschlicherweise annimmt, er habe das Lösegeld von 1 Million Dollar gestohlen, das die beiden Bowling-Brüder eigentlich im Zuge einer – vorgetäuschten – Entführung übergeben sollten, aber dann lieber für sich behalten wollten. Da der junge Mann sich in den Augen von Walt nicht als kooperativ erweist, entlädt sich der aufgestaute Zorn in einer Strafaktion am Auto, das allerdings, wie sich zu spät herausstellt, einem Nachbarn gehört. In der HBO-Fernsehserie Treme (2010 bis 2013), die das Leben einer Gruppe von Einwohnern von New Orleans, vor allem Musikern und Mardi-Gras-Indians, nach dem verheerenden Hurrikan im Jahr 2005 verfolgt, spielt Goodman einen College-Professor, der sich eines Nachts dazu entschließt, dem Vorbild seiner Tochter zu folgen und das Internet als Kommunikationsmöglichkeit zu nutzen. Seine politische Wutbotschaft, gerichtet an George W. Bush und all jene, die meinen, man solle New Orleans, diesen Sündenpfuhl, am besten gar nicht mehr aufbauen, endet mit dem – mittlerweile in bestimmten Kreisen legendären – Ausruf: »Fuck you, you fucking fucks!«12 Der ausgestreckte Zeigefinger erfüllt dabei die ihm zugedachte Funktion: Er zeigt in die Kamera, auf all die fucking fucks aus streng gescheitelter Politik und Meinungsmache, um ihnen klarzumachen, dass sie die Letzten sind, die das Sagen haben sollten.

Unübersehbar hat der Zorn unberechenbare und daher gefährliche, sozial unverträgliche und moralisch dubiose Qualitäten. Man begegnet ihm insofern mit Achtung im Sinne von »Vorsicht«. Darüber hinaus steht er aber im abendländischen Wertekanon für ein Gefühl, dem man Achtung auch im Sinne von »Wertschätzung« entgegenbringt. Das beginnt schon mit dem ersten Dokument der europäischen Literatur und einem der berühmtesten Helden unserer Kultur: »Sing den Zorn des Achill«, lautet die erste Zeile von Homers Illias (in der klassischen deutschen Übersetzung von Johann Heinrich Voß). Genauer besehen ist »Zorn« oder »Groll« sogar das erste Wort in dieser ersten Zeile des Epos, das bis in unsere Tage die kollektive Imagination mit Bildern und Geschichten beliefert, wenn auch zumeist für den vereinfachten Fantasy-Gebrauch. (Wolfgang Petersens Troja aus dem Jahr 2004, mit Brad Pitt als Achill, fällt unter die Kategorie »mythologie- und daher fantasyfreies antikes Kriegsspektakel mit gutaussehenden jungen Schauspielerinnen und Schauspielern«.) »Menin aeide«, so heißt es also wörtlich, »den Zorn singe, Göttin, des Peleussohns Achilles, den unheilbringenden Zorn …«

Von zentraler Bedeutung für das antike Verständnis des Zorns, nach der maßgeblichen Interpretation von Aristoteles und mit Achill als Inkarnation dieser Emotion, ist zum einen die gekränkte Ehre, die »Geringachtung« (oligorio) durch Andere, die der »Überlegenheit«, die man sich selbst zuerkennt, entgegenwirkt, zum anderen die aufkeimende Lust, die mit der Aussicht auf Rache verbunden ist. Es sind dies Zuschreibungen von Macht: Zorn steht hier, und das heißt in großflächiger Verallgemeinerung: von der Antike bis in die Neuzeit, allein Gestalten mit Macht zu: Göttern, Heroen (und Heroinen), Herrschern und Herrscherinnen (die racherasende Medea ist eine Königin). Sklaven, Bauern und Menschen, die nichts Außergewöhnliches (arete) vorzuweisen haben, können nicht geringgeachtet werden und verfügen zudem nicht über die Mittel, sich zu rächen, da sie nicht als Gegenmacht auftreten können. In den Worten von Aristoteles: Man glaubt, »Anspruch darauf zu haben, von denen geehrt zu werden, die geringer sind an Herkunft, Macht, Tugend, ja überhaupt daran, woran man selbst in großem Maße überlegen ist«.13

Nicht mehr von Zorn, sondern von Hass ist dagegen, aus der modernen, feministischen Sicht von Christa Wolf, Kassandra getrieben, die trojanische Königstochter und Seherin, der niemand glaubt. Der Hass hört bei ihr auf den Namen »Achill«, »Achill das Vieh«, der seine Feinde in ungekannter Brutalität tötet und schändet. Die Erzählerin, die Kassandra die Worte leiht, möchte den Namen dieses Mannes aus dem Gedächtnis aller Menschen tilgen, stattdessen brennt sie ihn mit jeder Zeile unvermeidlich immer tiefer in die Köpfe der Leserinnen und Leser ein. »Wenn nichts mich überlebte als mein Haß. Wenn aus meinem Grab der Haß erwüchse, ein Baum aus Haß, der flüsterte: Achill das Vieh. Wenn sie ihn fällten, wüchse er erneut. Wenn sie ihn niederhielten, übernähme jeder Grashalm diese Botschaft: Achill das Vieh, Achill das Vieh.«14

Die jüdisch-christliche Tradition bringt dem Zorn ebenfalls, wenn auch in relativierter und manchmal paradox zugespitzter Form, eine gewisse Wertschätzung entgegen. Der im Alten Testament, bei Paulus und Luther dramatisierte »Zorn Gottes« und der seit dem 4. Jahrhundert n. Chr. aktenkundige menschliche Zorn als Todsünde stehen sich hier gegenüber. Vor allem Thomas von Aquin rechtfertigt Mitte des 13. Jahrhunderts den Zorn, sofern er ein gewisses Maß nicht überschreitet; maßlos und ungezügelt, gilt er als Sünde. Er kann sogar zu einem »heiligen Zorn« werden, wenn er auf ein Unrecht reagiert, das anderen angetan worden ist und wenn Gott selbst verunehrt worden ist. Dann treibt Jesus die Händler aus dem Tempel. (Und diejenigen, die darin ein politisches Vorbild sehen, prophezeien, dass in Amsterdam und anderen Universitätsstädten dieser Welt der nächste stürmische Protest kommen wird, der die neoliberalen Händler wütend aus dem säkularen Tempel der Wissenschaft vertreibt.) Die jüdisch-christliche Tradition verkoppelt den Zorn demnach nicht vorrangig mit beleidigter Ehre und rächender Gewalt, sondern mit Recht, Gerechtigkeit und Strafe. Es sind, auch wenn die entsprechende Argumentation problematisch bleibt, ethische Prinzipien, die hier den Zorn und die Gewalt, die absolute Macht Gottes begrenzen; eine Gegenmacht, wie in der Welt Homers, ist innerhalb des Monotheismus nicht vorstellbar. Die göttliche Allmacht setzt dabei zugleich, wiederum im Unterschied zur griechischen Antike, einen Zorn der Ohnmacht frei, den Zorn derjenigen, die keinerlei Macht haben und durch den allmächtigen Gott Kompensation ersehnen. Gott wird zur Instanz der Vergeltung jeglicher Ungerechtigkeit. Zugleich deutet sich hier bereits an, was im Zeitalter der Moderne seit dem späten 18. Jahrhundert dann entscheidend wird: die Wut einer zwar politisch zur Herrschaft gelangten, aber doch von übermächtigen Gesellschaftsstrukturen in Ohnmacht gehaltenen, weil in ihren Lebensmöglichkeiten eingeengten Subjektivität.15 Die demokratisierte Wut erscheint im öffentlichen Raum.

Auch in der Philosophie ist Zorn schließlich ein anerkannter Begriff, denn im Unterschied zu anderen aggressiven Affekten, also Affekten, die Aktivität und Gewalt befördern, etwa Hass, Neid und Eifersucht, drückt Zorn sich in einer moralischen Sprache aus. Er reagiert, wie in der Religion des Judentums und des Christentums, auf Ungerechtigkeit. Auch insofern, nicht nur theologisch, ist die Rede vom »gerechten« Zorn angebracht. Er reagiert darauf, dass einem selbst oder anderen ein (der eigenen Überzeugung nach) gerechtfertigter Anspruch versagt wird. Dementsprechend kommt er auf, wenn jemand gegen eine Norm verstößt, die für einen selber hoch bedeutsam und geradezu identitätssichernd ist. Im Unterschied zum Hass ist Zorn dabei nicht exzessiv und schließt keine Feindschaft ein. Wiewohl nicht klar ist, ob er, wie ein Gefühl generell, konstitutiv ist für Moral, kann man gewiss sagen, dass ein Gefühl als Indikator wirkt: Ist es nicht vorhanden, hat die Sache, die entsprechende Norm, keine subjektive Relevanz.16 Das heißt nicht, dass eine Norm, der man keine Relevanz zuerkennt, nicht gerechtfertigt sein kann. In den Nachrichten zu lesen, dass jemand eine Bank ausgeraubt hat, mag kein merkliches Gefühl in einem hervorrufen, dennoch kann man der Überzeugung sein, dass die Norm: »Du sollst nicht stehlen!« im Prinzip richtig ist. Der Bankraub hat in dem Moment lediglich keine lebenspraktische, das eigene Handeln wirklich leitende Bedeutung für den distanzierten Zeitgenossen. Hätte er eine solche Bedeutung, würde man mit einer merklichen Gefühlsäußerung reagieren und zornig werden (auf die Missachtung von Eigentum), sich empören (über asoziale Kriminelle) oder sich schämen (weil der kriminelle Akt durch ein hehres politisches Ideal legitimiert worden ist, das damit kriminalisiert worden ist).

Wenn Empörung, Wut und Zorn menschliches und speziell politisches Handeln in dominanter Weise bestimmen, laufen sie letztlich ins Leere und erweisen sich als kontraproduktiv. Der ewige Wüterich wird irgendwann als tragikomisches Klischee wahrgenommen, die Empörung des Kapitalismuskritikers als Ritual, der »Zorn der Straße« als politisch gelenkte populistische Strategie, auf die sich René Girards kulturanthropologische Theorie insofern anwenden lässt, als der Zorn hier gesellschaftlich und politisch durch die Erfindung einer Sündenbock-Rolle in eine Richtung gelenkt wird, die die bestehende gesellschaftlich-kulturelle Ordnung bestätigt, statt sie zu verändern; der Zorn wird auf eine bestimmte Person oder Gruppe (»die Juden«, »die Muslime«, »die Elite«) gelenkt und somit ordnungsstabilisierend abgeführt.17

Empörung, Wut und Zorn haben ihre Stärke vielmehr darin, anstoßende und treibende Gefühle in der Dynamik des Handelns zu sein. Um produktiv wirken zu können, müssen sie sich aber in eine spannungsreiche Verbindung mit anderen Gefühlen, moralischen Werten oder strategischen Prinzipien setzen.

Was die Verbindung mit Strategie betrifft, ist die Rache des Odysseus ein klassisches Vorbild. Nachdem er aus seinen langen Irrfahrten nach dem Trojanischen Krieg endlich zurückgekehrt ist in sein Haus, wo seine Gemahlin auf ihn wartet, und er dort eine Horde von Freiern vorfindet, gibt er seinem zornigen Impuls nicht sofort nach, sondern wartet, wie schwer es ihm auch fällt, einen günstigen Zeitpunkt ab – aus heutiger cinematischer Sicht würde man sagen: den finalen Tarantino-Zeitpunkt –, in dem sich die Rache entlädt. Es ist instrumentelle Vernunft, die ihn leitet. Er schiebt die Realisierung seiner aggressiven Gefühle auf, unterdrückt sie für eine gewisse Zeit, um sie schließlich fokussiert auszuleben.

Eine andere Manier, mit ihnen umzugehen, ist dagegen, traditionell aristotelisch und christlich gesprochen, die Mäßigung oder besser der Ausgleich, die Kompensation. Unter den Gefühlen, Werten und Haltungen, die den Zorn kompensieren und ausbalancieren können, lässt sich etwa das Mitgefühl anführen (»Der Andere ist auch nur ein Mensch«), der Humor (der bekanntlich »trotzdem lacht«), der Stolz oder die Selbstachtung (»Was juckt es die Eiche, wenn sich ein Wildschwein an ihr reibt?«) oder die Achtung allgemein. Was Letztere betrifft, scheint es angebracht, einer mehrfachen Unterscheidung zu folgen und Achtung im Sinne eines akuten Gefühls (das uns »überfällt« und daher nicht von unserem Willen kontrolliert werden kann), einer Disposition zu diesem akuten Gefühl und einer habitualisierten Einstellung, einer Haltung zu begreifen, die sich zum einen als Höflichkeit, als neutrale Einstellung äußert (die selbst diejenigen umfasst, die man verachtet), zum anderen als universalisierte moralische Gesinnung.18 Im Zusammenhang der Politik, dem ritualisierten, aber auch heftigen Streit um das kollektive gute Leben, wird die Achtung öffentlich auf eine Probe gestellt, die sie meistens besteht, mitunter aber auch nicht. Dann muss man sich gegebenenfalls rüde verbale und manchmal auch symbolisch-körperliche Attacken gefallen lassen, die, eben weil sie eine symbolische Bedeutung haben, nicht in schlichte körperliche, gar tödliche Gewalt münden, sondern diese einfrieden; dann trifft den ehemaligen deutschen Außenminister Joschka Fischer während eines Parteitags zum Krieg rund um das zerfallende Jugoslawien ein roter Farbbeutel, den ein Kriegsgegner auf ihn geworfen hat, da er den Politiker der eigenen Partei als mitverantwortlich für diesen Krieg erachtet. »It’s politics, not personal«, wäre die Formel dazu, analog zu der aus der Geschäftswelt bekannten Redeweise: »It’s business, not personal«, mit der ein Unternehmer nach vielen Jahren gemeinsamer Geschäfte den Vertrag mit einem befreundeten Unternehmer aufkündigt, für den diese Entscheidung einschneidende Konsequenzen hat.

Kompensation bzw. Ausbalancierung ist aber, wie gesagt, nur eine Möglichkeit, mit Gefühlen im öffentlich-politischen Raum umzugehen. Eine andere ist ihre Transformation. In diesem Falle treten die ästhetischen Elemente im Umgang mit Emotionen erheblich stärker in den Vordergrund.

Eine Transformation beginnt häufig unscheinbar, die Veränderung des kruden Zornausbruchs wird dann im ersten Moment gar nicht bemerkt. Der oben zitierte, mit Youtube in die Welt geschleuderte Ausruf: »Fuck you, you fucking fucks!«, klingt zunächst nur wie ein üblicher US-amerikanischer Fluch, aber er hat, wie ein Kollege des wütend fluchenden College-Professors anerkennend feststellt, zugleich eine literarische Note: »Fuck is a command, fuck is an adjective, fuck is a noun.« Und das Ganze in schulgerechter Alliteration. Der Zorn hat sich hier also vom puren Affekt in eine ästhetische Exklamation transformiert. Er braucht Sprache, Stimme, Mimik und Gestik, all jene Bestandteile, die er auch in nicht-ästhetischer Form nötig hat, wenn er sich ausdrücken will, bevor er sich womöglich und dann womöglich verheerend in einer praktischen Handlung ausdrückt. Aber er braucht all dies in einer bestimmten, eben ästhetischen Weise. Die Kunstform, die ihm diesbezüglich politisch am besten entspricht, ist das Kabarett, in der US-amerikanischen Kultur die Stand-up-Comedy (man denke an Lewis Black) und die Late-Night-Show. In Deutschland hat bis 2014, dem Jahr seiner Verabschiedung von der Bühne, Georg Schramm dem Wutbürger, lange bevor es dieses Wort gab, ein Denkmal gesetzt mit der von ihm schauspielerisch verkörperten Figur des Rentners und Weltkriegsveteranen, der seine Prothese am rechten, stets angewinkelten Arm unter einem schwarzen Handschuh versteckt, und in scharfzüngigen, aber immer genau informierten Tiraden, in gerade noch gezügelter altpreußischer Korrektheit, die kleinen und großen Unverschämtheiten aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft kommentiert.

Konzentriert man sich speziell auf politische Aktionen, kann man feststellen, dass sie vor allem auf drei Ebenen Gebrauch machen von ästhetischen Ausdrucksformen: auf der Ebene der Sprache (Rhetorik), der Bilder und der körperlichen Vergegenwärtigung. Als bei der »Night of Protest« in Amsterdam, organisiert von Studierenden der Geisteswissenschaften, eine Studentin ihre kurze Rede mit den Worten beendet: »I am human. I am humanities«, hat der Protest seinen ersten Slogan. Poster nehmen ihn auf, eines davon mit einem Selbstportrait Van Goghs von 1889, seinem hager eingefallenen Gesicht, dem brennenden Orange des Barts und der Haare, leuchtend kontrastiert von Absinthgrün und Türkis, darunter in großen Lettern: »I am human.« Ein Bildnis von Humanität soll die Manager der Humanities der Universität von Amsterdam daran erinnern, dass alteuropäische Kultur sich nicht in der schnöden Anzahl von Studierenden, Studienabschlüssen, Promotionen und Publikationen verrechnen und zu Geld machen lässt. Selbstverständlich findet der Kampf um die politische Öffentlichkeit heute wesentlich in den digitalen Medien statt. Auf Twitter werden neue Informationen, Lesehinweise, Aufrufe verbreitet, zwischendurch auch Klatsch (der eine effektive politische Waffe sein kann), und manchmal gehen den Agierenden die Nerven und Emotionen durch. Das lässt sich im verbalen Handgemenge nur schwer vermeiden. Aber wenn es gut geht, fängt die gemeinschaftliche Intelligenz ihre Ausreißer schnell wieder ein. Der amor intellectualis zum Stammtisch und zu den Fan-Kurven der Fußballstadien bleibt sublim. Tweets, die rhetorisch-politisch funktionieren, verbreiten ihre Botschaft mit Hilfe einer bereits zum populären Kulturgut gewordenen anderen Botschaft. Das Spiel von De- und Rekontextualisierung ist dabei fast immer mit Witz verknüpft. Nachdem das Rektorat (niederländisch: das College van Bestuur, CvB) nach Wochen des Protests endlich einen entgegenkommenden Schritt tut und einen Zehn-Punkte-Brief zur weiteren, dieses Mal – laut Ankündigung – konstruktiven Diskussion vorlegt, taucht auf Twitter sogleich der Kommentar auf: »The #CvB proposal seems like a huge step for them, but it’s a small step for humanity (#houstonwestillhaveaproblem)«, in Anspielung an das berühmte Zitat des ersten (wirklichen) Mannes auf dem Mond 1969 (»That’s one small step for (a) man, one giant leap for mankind«). Und da die Protestbewegung skeptisch ist über die wirklichen Absichten des Rektorats, schickt man ihm per Tweet eine Warnung zu, die auf einen Song von Sting Bezug nimmt, der seinerseits auf einen Slogan der Überwachungsgesellschaft anspielt (»Big Brother is watching you!«) und ihn für ein zartes, aber zwielichtiges Liebeslied nutzt: »#CvB Every word you say, every game you play, we’ll be watching you.« Als das Rektorat der Universität schließlich das Maagdenhuis, das zentrale Verwaltungsgebäude, durch die entsprechende Spezialeinheit der Polizei räumen lässt, obwohl zunächst zugesagt worden ist, dass die Protestgruppen nach einem letzten Wochenende mit einem Wissenschaftsfestival das Gebäude freiwillig (und besensauber) verlassen können würden, ist das wiederum ein großer Fehler des Managements. Nun entziehen nämlich auch die Mitbestimmungsgremien der Universität ihrer Leitung das Vertrauen. Die Rektorin muss abtreten.

Wie meistens bei Protestbewegungen – oder im größeren Stil Demokratiebewegungen – lässt sich also ein Ausbruch von Kreativität auf dem weiten Feld der populären Kultur beobachten. Und was noch wichtiger ist: Diese Kreativität ist Ausdruck und zugleich rückwirkend Aufbaumedium von positiver Motivation. Diese Motivation zieht ihre Energie nicht aus einer Anti-Haltung und bleibt daher auch nicht, wie schon Hegel gelehrt hat, negativ an ihren Antipoden gekettet. Wenn diejenigen, die eine protestierende Gruppe formen, sich selbst stilisieren als Kämpfer gegen den Rest der Welt, philosophisch formuliert: als Kämpfer gegen eine Gesellschaft im Bann negativer Totalität, ist eine große Portion Humor, Gelassenheit oder – eine zwiespältige Option – intellektueller Narzissmus nötig, um nicht dauerfrustriert zu werden. Politisches Handeln mündet dann entweder in Gewalt oder bescheidet sich damit, eine Flaschenpost zu senden. Theodor W. Adorno steht für die zweite, die gewaltfreie, verzweifelnd hoffende Option. Die Kunst sieht er dementsprechend als versprengte Botschaft, als eine im Kunstbetrieb umherirrende Untote. Aber Hanns Eisler hat ihn, einer Anekdote zufolge, bereits flapsig darauf aufmerksam gemacht, was denn in dieser Flaschenpost schon anderes zu lesen sein solle als: »Mir ist so mies«.19 Die politischen Aktionen rund um das Maagdenhuis in Amsterdam erzählen, wie zahlreiche andere Aktionen der letzten Jahrzehnte, eine andere Geschichte, eine, die einem Kollegen und Freund Adornos näher steht, nämlich Herbert Marcuse.20 Es sind demnach auch und vor allem ästhetische Erfahrungen, die, in Anspielung an einen Song der Rolling Stones, dazu motivieren, dass die »poor boys« – und inzwischen auch girls und alles, was queer hinzukommt – weitermachen, keep on rollin’, mit ihrem »fighting in the street«. Manchmal geschieht es dann, dass man, The Police im Hinterkopf, kaum glauben kann, was man sieht: die Flaschenpost von Millionen anderer (»seems I’m not alone at being alone«), angespült in den Städten dieser Welt, um sich zu einer Demonstration der Stärke zu formen und sich wie das Meer wieder zurückzuziehen. »Message in a Bottle« ist eine zeitgemäße Antwort auf Adorno.

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