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Unverschämtheit: eine erste Annäherung
ОглавлениеUnverschämtheit ist ein soziales Verhalten. Es kann sich in einer Handlung oder in einer Äußerung zeigen. Die typische Reaktion lautet: »Es ist eine Unverschämtheit, das zu tun« oder »das zu sagen«. Und mit »das« meinen wir etwas Schamloses, Freches, Dreistes. »Dann besaß er noch die Unverschämtheit,« – der ältere Herr, der sich hier echauffiert, zögert, weiter zu reden, der deutschen Literatur mächtig, fährt er aber fort – »den Schwäbischen Gruß, das Götz-Zitat auszusprechen, ›Leck mich (am Arsch)!‹«21 Im Englischen steht dafür das berühmte f…-Wort. Der historische Hintergrund für das Götz-Zitat ist eine Schmach-Geste aus dem Mittelalter, die man dem vorüberziehenden Feind, oft von der Burgmauer herab, entgegenbrachte: Man zeigte ihm den nackten Hintern. Heutzutage kann man sie manchmal bei Fußballfans oder Demonstranten gegenüber der Polizei beobachten. Schleudert einem jemand besagten Ausspruch entgegen, ist die Reaktion darauf in der Regel konsterniert – man fühlt sich vor den Kopf gestoßen – und ratlos, aber auch erzürnt und, in der Steigerungsform, wütend. Der Unverschämte – aber ebenso der Schamlose – tut etwas, wofür er sich schämen müsste, ohne sich zu schämen. Der alltägliche Sprachgebrauch lässt allerdings wertende Abstufungen zu. Dreist nennen wir jemanden, der anmaßend, aber auch keck ist. Und frech nennen wir nicht nur jemanden, der sich ungezogen verhält, sondern auch übermütig, vorlaut, ja sogar kühn und verwegen. Das sind durchaus zugestandene, ja positive Charaktereigenschaften. Entsprechend variiert die Bandbreite der emotionalen Reaktionen von Ärger, Wut, Empörung und Zorn einerseits zu Scham andererseits. Entsprechend changiert auch der Ausdruck »Wutbürger« zwischen einer anerkennenden und abwertenden Bedeutung; man kann ihn respektvoll und diffamierend gebrauchen. In seiner respektvollen Bedeutung spielt er (im Deutschen) hinüber zum »Mutbürger«22, der sich von der geballten polizeilichen Staatsmacht nicht schrecken lässt. Wut, Mut und Unverschämtheit erscheinen so als politisch-demokratische Tugenden. Unverschämtheit im Reden und Handeln erscheint dann demokratisch nicht allein als akzeptabel, sondern sogar als notwendig.
Orientieren wir uns zu Beginn am unverschämten Charakter in seiner deutlich negativen Ausprägung. Die gegenwärtige philosophische Diskussion erlaubt es, diesbezüglich auf ein forsch zupackendes, aber zugleich auch bescheidenes Buch zurückzugreifen, auf Aaron James’ Assholes. A Theory.23 Man sollte sich kurz daran erinnern, dass zur Vorgeschichte dieses Büchleins zwei weitere gehören, zum einen On Bullshit (2005) von Harry Frankfurt, in dem der angesehene Philosoph bullshit, den Blödsinn, den man sich alltäglich, politisch und auch philosophisch anhören muss, als etwas beschreibt, das dem fake und bluff nahesteht. Das andere Buch ist The No Asshole Rule (2007) von Robert Sutton, ein Bestseller, in dem der Stanford-Professor für Management Science beschreibt, in welcher Weise das Schikanieren von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen – meist praktiziert durch Männer, die ihre Macht missbrauchen – Arbeitsmoral und Produktivität verschlechtert.24 Auf dieser Linie schildert James einen Charakter, den wir alle gut kennen. Meistens ist er männlich; an einer Warteschlange spaziert er erhobenen, man möchte sagen königlichen Hauptes vorbei; Diskussionen unterbricht er in selbstherrlicher Geste; er überfährt mit seinem chromglänzenden Fahrrad beinahe einen Fußgänger, der bei Grün die Straße überqueren möchte; und wenn man ihm erzürnt nachruft, zeigt er einem cool den ausgestreckten Mittelfinger; auf der Autobahn wechselt er wie ein wild gewordener Rennfahrer die Spur, drängt sich in Lücken und bedient sich ungeduldig der Lichthupe. Diesen Typus gibt es aber auch, um ein naheliegendes Missverständnis zu vermeiden, in der Sphäre jenseits des Alltags, dort, wo unter anderem die Kunst regiert. »Viele halten Sie – Pardon! – für ein Arschloch,« sagt etwa eine Journalistin zu dem berühmten deutschen Theaterregisseur Claus Peymann, dessen Antwort aber nur lautet: »Das würde ich sofort bestätigen.« Nicht nur haben er und die nicht minder berühmten Schauspieler Bernhard Minetti oder Traugott Buhre sich auf den Proben immer wieder angeschrien – es geht in der Kunst schließlich um »etwas Existenzielles« –, sondern »gerade jungen Schauspielern gegenüber« ist Peymann eingestandenermaßen »oft aggressiv«.25 Der Schriftsteller Thomas Bernhard, zu dessen wenigen Freunden Peymann sich zählen durfte, tritt ebenfalls durch einen ausgeprägten Drang nach Geltung und zudem noch Geld hervor. Seine zum Teil schamlosen Tricks gegenüber dem Verleger des Suhrkamp Verlags, Siegfried Unseld, sind dokumentiert, auch wenn sich die jahrelange Alimentierung für den Verlag letztlich ausgezahlt hat. Es ist, als habe Bernhard versucht, die Selbstbeschreibung eines anderen österreichischen Autors, Heimito von Doderer, einzulösen: »Der Schriftsteller ist ein ekelhafter Kerl.«26
Was diese Menschen zu einem Typus vereint und zu einem theoretisch interessanten Objekt macht, ist laut James eine Verbindung dreier Eigenschaften: Man erlaubt sich, erstens, spezielle Vorteile, ist aber, zweitens, immun gegen Kritik, und zwar deshalb, weil man, drittens, glaubt, einen Anspruch auf diese Vorteile zu haben. Man ist also anmaßend aus Überzeugung, das heißt, man glaubt, gute – soziale oder moralische – Gründe für diese Anmaßung zu haben. Schon Aristoteles definiert Unverschämtheit in diesem Sinn: Wir empfinden keine Scham gegenüber Menschen, »die wir gänzlich verachten«.27 Für James ist der zentrale Begriff der der Anerkennung. Der Typus von Mensch, den wir ein asshole oder einen Idioten oder einen Blödmann nennen, in meinem halbabstrakten Sprachgebrauch: das unverschämte Ich, ist nicht in der Lage, andere anzuerkennen, das heißt, sie als ihm gleichgestellt anzusehen. Er ist zumindest der selbsternannte Erste unter Gleichen (wie im Falle von Peymann und Minetti oder Peymann und Buhre). In diesem Sinne ist er nicht in der Lage, andere überhaupt zu sehen. Scham heißt, von den anderen – in einer Bloßstellung – gesehen zu werden; es gibt keine Scham ohne (zumindest vorgestellte) Zuschauer. Unverschämtheit heißt, die anderen, die einen sehen, bewusst nicht zu sehen und auszublenden.
Auf diese beiden Punkte – Scham und Gesehenwerden, Scham und Gleichheit – werde ich im Folgenden ausführlicher eingehen. Und ich möchte das tun, indem ich einige Bedeutungsebenen im Konzept der Unverschämtheit unterscheide.