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Politisch-demokratische Unverschämtheit

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Rhetorische Beschämungsstrategien gehören bekanntlich auch zur parlamentarischen und zivilgesellschaftlichen Demokratie. Für einen Minister, der das eine Mal selbstgerecht auftrumpfend und das andere Mal feige wegduckend agiert, muss man sich, so sagen einige, schämen.42 Polizisten, die auf friedliche Demonstranten einschlagen, ruft man ein: »Schämt euch! Schande über euch!« entgegen. Im breiten öffentlichen Diskurs erfüllen vor allem die Boulevardpresse und seit einiger Zeit die sogenannten sozialen Medien die Funktion der individuellen Schuldzuweisung und Beschämung. Dann brechen shit storm und hate speech über einen herein.43 Aber auch breitere gesellschaftspolitische Kampagnen nutzen die Beschämungsstrategie: Ein Film, der zeigt, wie Männer mit stumpfen Waffen Robben, diese zutraulichen Tiere, vor allem – so der geschickt gewählte Ausdruck – »Robbenbabies« erschlagen; oder einer, der zeigt, wie Delphine, diese intelligenten und kommunikationsfreudigen Tiere – und jeder, der in den 1960er oder 1990er Jahren Kind war und die bekannte US-amerikanische Fernsehserie und die Kinofilme verfolgt hat, kennt Flipper, unseren »besten Freund« – sich in den Treibnetzen von Thunfisch-Jägern verfangen und verenden, stellt diese Jäger und die Profit- und Luxusinteressen, die sie bedienen, an den Pranger. Die Durchsetzung eines Fair-Trade-Zertifikats auf inzwischen zahlreichen Waren, von Kaffee bis Kleidung, ist Resultat derselben Strategie.

Verschiebt man die Aufmerksamkeit von der empirischen auf die normative Ebene, kann man mit Rawls und Nussbaum noch einmal daran erinnern, dass Selbstachtung eine notwendige Bedingung für die Partizipation am sozialen und politischen Leben ist und dass Scham, die Erfahrung eines Verlustes an Selbstachtung, daher gefährlich ist für demokratisch-partizipative Gesellschaftsformen sowie für das sozial und moralisch relevante Mitfühlen (compassion) überhaupt.

Und diese Gefahr besteht nicht nur auf der individuellen, sondern auch auf der kollektiven Ebene. Demokratie braucht Bürgerinnen und Bürger, die sich sehr wohl schämen können, aber nicht in Grund und Boden schämen für ihre Traditionen. Es gibt Anlässe und Gründe, für die man sich als Kollektiv schämen muss. Die verstörenden Bilder von Demütigungs- und Folterszenen aus dem Militärgefängnis von Bagdad, Abu Ghuraib, sind das jüngste Memento für die USA. In der jüngeren deutschen Geschichte kennen wir den Sachverhalt nur allzu gut unter dem Titel »Schuld und Scham angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus«. Auch die gesellschaftspolitische Entwicklung nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten zeigt überdeutliche Spuren von ostdeutscher Abwertungserfahrung, Scham, Enttäuschung und Wut – einer Abwertung nicht nur im sozialökonomischen, sondern auch kulturellen Sinn (es gab keine neue gemeinsame Verfassung, keine neue Fahne, keine neue Nationalhymne); Scham über all die Demutsgesten im öffentlichen Alltag des real existieren Sozialismus; Enttäuschung darüber, doch nicht die bestimmende Kraft der Politik, nicht »das Volk« zu sein, das 1989 auf den Straßen Ost-Berlins und Leipzigs seine Stimme so mächtig hören ließ; und schließlich Wut auf die neuen »Eliten«, die sich mit »nachgeholtem Widerstand« gegen die alten Eliten verbündet.44

Aber eine Gemeinschaft kann so wenig mit einem Übergewicht an Scham leben wie ein Einzelner mit einem Übergewicht an Selbstmissachtung. Wir müssen die individuelle und kollektive Selbstwertschätzung nicht unbedingt »Stolz« und »Nationalstolz« (»Patriotismus«) nennen. Kollektive Selbstwertschätzung gibt es zudem nicht nur auf der Ebene der Nation, sondern auf der Ebene jeder kollektiven Identitätsformung, etwa bei einer »Klasse«, einer politischen Bewegung wie der Studentenbewegung der 1960er Jahre (die »Leidenschaftlichkeit« des Protestes kam »aus der Scham! Der Empörung! Aus einem überempfindlichen Rechtsgefühl!«45), dem Feminismus, »Black Power« oder auf der Seite der nationalistischen Rechten. Aber Richard Rorty mahnt meiner Meinung nach zu Recht an, dass nationale Selbstwertschätzung oder Nationalstolz für ein Land dasselbe ist wie Selbstachtung für den Einzelnen: »eine notwendige Bedingung der Selbstvervollkommnung« (self-improvement), und das schließt ein, dass letztlich ein – mit aristotelischer Betonung – maßvoller »Stolz die Scham überwiegt«.46

Wie aber steht es, wenn man nicht Stolz als kompensierenden Gegenpol zur Scham betrachtet, sondern Unverschämtheit und Schamlosigkeit als sozial-moralisch herausfordernde Gegenspielerinnen der Scham?

Zunächst muss man auch hier im engeren politischen Kontext konstatieren, dass das Gerede über das Ende der Scham, über die Zunahme an rüdem und unzivilisiertem Verhalten eine Reaktion ist auf den zunehmenden Egalitarismus, und das heißt soziologisch: auf die zunehmende Inklusion von sozialen Gruppen in das gesellschaftlich-repräsentative Ganze, die vorher ausgeschlossen waren. Die Ängste, die sich in diesem Lamento ausdrücken, sind vor allem die vor den unteren sozialen Schichten, auf die die demokratischen Rechte im Laufe der Jahrhunderte schubweise ausgedehnt werden. Das Lamento moduliert insofern also einen nostalgischen Grundton, die Sehnsucht nach einer Zeit, in der Scham, wie man meint, über alle sozialen Unterschiede hinweg das Reglement gesichert hat.47

Unverschämtes Verhalten gibt aus dieser kritischen Perspektive also nicht einfach einen Grund zur Klage. Eher einen erneuten Grund zur Vorsicht bezüglich politischer Standards und standardisierter Denkformen. Die sozial Ausgeschlossenen haben oft gar keine andere Wahl, als dagegen mit grenzüberschreitenden, provozierenden und dadurch tendenziell unverschämten Protestformen vorzugehen. So inszenieren sich Aktionen zivilen Ungehorsams seit den 1960er Jahren als bewusste symbolische Verstöße gegen rechtliche Normen, symbolisch, weil im juristischen Sinn niemand einen körperlichen oder materiellen Schaden erleiden darf, aber auch, weil diese Verstöße ein bildhaft-anschauliches, auf einen tieferen Sinn verweisendes Zeichen setzen. Unverschämt in jeder Hinsicht des Wortes (anmaßend, keck, ungezogen, übermütig, kühn) war dagegen die Ohrfeige, die Beate Klarsfeld 1968 Hans Georg Kiesinger gab, dem damaligen Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Unverschämt war auch der Zwischenruf des Bundestagsabgeordneten Joschka Fischer während einer Parlamentsdebatte 1984: »Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch!« Unverschämt war 2016 das Schmähgedicht von Jan Böhmermann auf den autokratischen türkischen Präsidenten Erdogan – eine Aktion, mit der er zudem in der Folge beweisen konnte, dass Satire gesellschaftlich-politisch etwas bewirken kann, denn der Paragraph 103 des deutschen Strafgesetzbuches, der die Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhauptes unter Strafe stellte, wurde ein Jahr später abgeschafft.

Im politischen Zusammenhang sind Akte der Unverschämtheit dabei weitaus besser als im alltäglichen Zusammenhang gefeit davor, narzisstisch zu wirken. Dennoch muss noch einmal daran erinnert werden, dass Unverschämtheit grundsätzlich mehrere, schematisch gesprochen zumindest zwei Gesichter haben kann, ein eher narzisstisches und ein emanzipatives Gesicht. Wenn Menschen sich in den sogenannten social media bewusst zur Schau stellen als jemand, der nicht den Mode- und Körpernormen einer Gesellschaft entspricht, die auf superschlanke Models oder auf Männerkörper aus einem Body-Building-Magazin fixiert ist, sind wir Zeugen einer Unverschämtheit, die manchmal keck und spielerisch auftritt, aber sicher auf Mut und verletztem Stolz beruht. Diese Menschen zeigen ihre Verletzbarkeit und Unvollkommenheit. »Ecce homo« im digitalen Zeitalter. Sie riskieren damit, ausgelacht und verspottet zu werden, gewinnen aber ihre Selbstachtung zurück. Künstlerinnen wie Cindy Sherman und Marina Abramović haben dieser Umpolung von öffentlicher Verachtung in Selbstachtung schon lange vorgearbeitet. Auch in diesem Fall bietet die Kunst also wieder ein Modell der Transformation von Gefühlen. Es ist hilfreich, dabei von einer Unterscheidung Gebrauch zu machen, die die englische Sprache zur Verfügung stellt: shameless (schamlos) ist die passende Bezeichnung für Menschen, die vor allem die negative, arrogante, anti-egalitäre Seite von Schamlosigkeit und Unverschämtheit zeigen, unashamed (unbeschämbar, sich nicht mehr schämend) dagegen die Bezeichnung für Menschen, die ihre Scham sozusagen durchstreichen, also ihre Scham sehr wohl noch sehen lassen, aber auch, dass sie darüber hinaus kommen (wollen).48 Im alltäglichen wie im politischen Zusammenhang handelt es sich hier um demonstrative Aktionen im doppelten Sinn des Wortes: Aktionen, die etwas demonstrativ – anschaulich, auffallend – demonstrieren – zeigen – wollen.

Der unverschämte Bürger ist demnach eine ambivalente Figur. Er scheint demokratisch ebenso notwendig wie gefährlich. Er zeigt sich auf der progressiven wie auf der konservativen bis reaktionären Seite, in raffiniert provozierenden politischen Aktionen wie in grölenden Pöbeleien gegen die etablierte Politik, im demonstrativen Einfordern wie im demonstrativen Verhindern von Minderheitenrechten, im mutigen Verteidigen der Zivilgesellschaft gegenüber Autokraten wie in der Vulgarität des politisch-kulturellen Proleten. Unverschämtheit gehört offenbar zur Demokratie wie der mündige, für sich selbst sprechende und tendenziell ein loses Mundwerk gebrauchende Bürger, im Englischen geschlechtsneutral: the citizen.

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