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Kulturelle und kulturkritische Unverschämtheit

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Die soziale und moralische Bedeutungsebene bildet den unumgänglichen Hintergrund für jene Bedeutungsebene, die in meiner Darstellung zentral steht: die kulturelle und kulturkritische. Denn auf dieser Ebene wird einsichtig, warum Unverschämtheit im heutigen gesellschaftlichen und daran anschließenden politischen Selbstverständnis einen so auffälligen Status erlangt hat. Hier wird einsichtig, warum Unverschämtheit ein unvermeidbar modernes Problem geworden ist; warum Unverschämtheit notwendig zur Moderne gehört.

Mit der kulturellen Bedeutungsebene meine ich nicht primär den Sachverhalt, dass der Begriff der Kultur im deskriptiven Sinn, verstanden als Lebensform, im Plural auftritt, während das im normativen Sinn (etwa in dem Ausruf: »Dieser Mensch hat keine Kultur!«) nicht möglich ist. Im deskriptiven Sinn gibt es also viele Kulturen, die sich in ihren Wertüberzeugungen unterscheiden. Und das gilt natürlich auch für die Einstellung hinsichtlich der Scham: Sie unterscheidet sich je nach historischer Epoche und geografischer Region.35 Mit der kulturellen Bedeutungsebene meine ich vielmehr einen soziologischen und kulturgeschichtlichen Sachverhalt, und der Theoretiker, der in diesem Kontext als erster zu nennen ist, ist Georg Simmel.

Wie andere auch beschreibt Simmel die Moderne als eine hoch ambivalente Epoche. Er untersucht diese Ambivalenz unter anderem in zwei unterschiedlichen Formen des Individualismus, nämlich des von ihm so genannten »quantitativen« und »qualitativen« Individualismus. Der quantitative Individualismus bildet sich demnach analog zum Ideal der Gleichheit nach und nach mit dem Christentum, der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und dem ethischen Sozialismus des 19. Jahrhunderts heraus. Der qualitative Individualismus und das ihm in gewisser Weise entsprechende Ideal der Freiheit kennt Vorläufer in der aristokratisch verfassten griechischen Antike, tritt exemplarisch hervor in den Persönlichkeitsdarstellungen bei Shakespeare und Rembrandt und entwickelt sich schließlich vollständig von Goethe und der Romantik bis zu Nietzsche: Der Einzelne in seiner Besonderheit, Unvergleichlichkeit, Außergewöhnlichkeit, Genialität tritt hervor. Die Moderne ist aus Simmels Sicht dann jene Epoche, in der das Streben nach qualitativem Individualismus zu einem allgemeinen Problem wird auf der Basis eines realisierten quantitativen Individualismus. Nachdem rechtsstaatlich und demokratisch, vor dem Gesetz und als Wähler, alle gleich geworden sind, entsteht sowohl die allgemeine Möglichkeit als auch die spezifische Notwendigkeit zur Unterscheidung. Und die moderne Realisierung des Widerspruchs zwischen quantitativem und qualitativem Individualismus konzentriert sich im Phänomen der Visualisierung: Man muss in der Öffentlichkeit als Individuum erscheinen.

Simmel ist sich also bewusst, dass im Rahmen einer politisch egalitär ausgerichteten Gesellschaft der Differenzierungsaufwand für die Einzelnen zunimmt. Und diese Differenzierung kann innerhalb dieses Rahmens für die Masse der Einzelnen nur auf der Ebene der Wahrnehmung, im altgriechischen Sinn der aisthesis, also der ästhetischen Erscheinung, erreicht werden. Die Moderne, die aus dem Kampf um fundamentale Rechte des Einzelnen hervorgegangen ist, bedingt nun einen Kampf um verfeinerte Anerkennung, der primär auf einer ästhetisch-visuellen Ebene ausgetragen wird. Diese Ebene erlaubt uneingeschränkte Differenzierung im Modus der Selbstdarstellung. In seiner nach wie vor beispielhaften Studie über »Die Großstädte und das Geistesleben« (1903) beschreibt Simmel dementsprechend all die »Extravaganzen des Apartseins, der Kaprice, des Pretiösentums«, denen die Menschen der Moderne, die Bewohner der Metropolen, huldigen.36

Walter Benjamin hat dieser Theorie der Moderne eine dezidiert marxistisch-politische und filmästhetische Wendung gegeben in seinem Mitte der 1930er Jahre verfassten berühmten Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«.37 Benjamin stellt hier die These vor, dass die Aura der Kunstwerke, ihre Erscheinung von Einmaligkeit und Unnahbarkeit, verfällt, wenn sie technisch reproduziert werden. Während die Aura der Kunst von ihrem »Kultwert« zehrt, ihrer Herkunft aus dem magischen und religiösen Ritual, entsteht mit der technischen Reproduzierbarkeit eine Kunst, die einen »Ausstellungswert« hat. Die moderne Kunst will den Menschen nicht in jeder Hinsicht unnahbar gegenüberstehen, sondern sichtbar sein, das heißt auf Augenhöhe stehen mit den Rezipienten. Der Film ist für Benjamin das zeitgemäße Medium für diese demokratische bis kommunistische Egalisierung. Hier verändert sich das Verhältnis des Publikums zum Werk von betrachtender Passivität zu partizipierender Aktivität, denn jede und jeder aus dem Publikum kann, so Benjamin, einen »Anspruch« vorbringen, »gefilmt zu werden«, also selber zum Darsteller, sei es auch nur zu einem Statisten zu werden. Diese Behauptung muss man sicherlich in den Kontext der 1920er Jahre zurückversetzen, in dem Benjamin sich wie viele andere Intellektuelle zunächst allgemein ein kämpferisch-erwartungsfrohes Bild von der Sowjetunion malt und speziell die Filme jener Zeit im Blick hat, in denen es, wiederum im sowjetischen Kino, aber auch bei Fritz Lang und King Vidor, darum geht, die proletarischen Massen und ihre alltäglichen Helden und Heldinnen in Szene zu setzen. Aber es ist offensichtlich, dass diese Kunst- und Filmtheorie auch einen prognostischen Zug aufweist. Die Moderne erfüllt das politische Programm der Durchsetzung von Freiheit und Gleichheit, indem sie eine Kultur oder Alltagsästhetik der Selbstdarstellung, der Ausstellung seiner selbst, der Selbstinszenierung etabliert.

Und wo die Selbstdarstellung Triumphe feiert, ist die Unverschämtheit nicht fern. Zur-Schau-Stellung oder Bloßstellung des Anderen ist der Kern des Beschämens; bloßgestellt oder gegen den eigenen Willen zur Schau gestellt zu werden, ist umgekehrt der Kern des sich Schämens.38 Sich in einer peinlichen39, beschämenden oder sozial ärgerlichen Situation freiwillig zur Schau zu stellen, sich dann den Blicken der anderen bewusst darzubieten, sich auszustellen wie eine Schaufensterfigur heißt demgegenüber, den Stellenwert der Scham und den Mechanismus des Beschämens umzudrehen. Die eigene Zur-Schau-Stellung wird zum Kern der Unverschämtheit.

Von hier aus ist es nur ein Schritt zur scharfen Kulturkritik. In einer Gesellschaft, in der die Einzelnen sich massenhaft darin gefallen, sich selbst auszustellen, muss diese Obsession zur Paradoxie werden, zur Illusion einer Masse von Individualisten. »Bei vielen Menschen«, so konstatiert entsprechend Theodor W. Adorno, »ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen.« Adorno hat diesen Aphorismus 1944 in seinen Minima Moralia niedergeschrieben und Mitte der 1960er Jahre in einer Auseinandersetzung mit Rolf Hochhuth wiederholt. Ein Beispiel liefern ihm Zeitgenossen, US-amerikanische Spießbürger (babbitts), die über ein großes Kunstwerk zu urteilen meinen mit dem Satz: »I like it.«40 Ein AllerweltsStatement, das wie eine Beleidigung des Kunstwerks in seiner begrifflichen Unerschöpflichkeit wirkt.

Wie immer man diese Unverschämtheit kulturkritisch und gesellschaftstheoretisch werten mag, eher negativ mit Adorno oder eher positiv mit Benjamin und Simmel, sie ist in jedem Fall konstitutiv modern. Die exzessive Lust an der Visualisierung, die durch die digitalen Medien unserer Zeit möglich geworden ist, von den Video- und Youtube-Filmchen bis zu den Selfies, und die produktive Lust an der Interaktivität des Mediums Internet können vor diesem Hintergrund keineswegs überraschen. Sie gehören zur spezifischen, mit Simmel doppelpoligen Individualitätskultur der Moderne. Selbstverständlich lassen sich dabei historische Verschiebungen beobachten. So beschreibt die Soziologie seit der Mitte des 20. Jahrhunderts eine zweifache Erosion der Kultur, die man seit dem 19. Jahrhundert eine »bürgerliche« genannt hat, zunächst seit den 1970er Jahren durch die gesellschaftspolitisch linken Protestbewegungen, im Verein mit Rock- und Popmusik, sodann seit den 1980er Jahren durch eine kulturelle Proletarisierung oder besser Proletisierung, die sich vor unser aller Augen und Ohren in den Soap Operas, Talk- und Castingshows, dem Reality-TV und der Event-Kultur der privaten Fernseh- und Radiosender vollzieht.41 Und es gehört zu den Eigenheiten der neuen Proleten-Kultur, dass sich auch die Intellektuellen zu einem großen Teil in ihr wiedererkennen.

Unverschämtheit ist aber nicht bloß konstitutiv modern. Sie ist – mein diesbezüglich abschließender Punkt – wenigstens zum Teil auch eine demokratische Tugend.

Demokratie der Gefühle

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