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Einleitung Eine ästhetische Antwort auf die emotionale Wende im politischen Diskurs

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Ob man die Welt aus einer ästhetischen oder aus einer politischen Perspektive wahrnimmt, ist ein Unterschied. Ein großer Unterschied sogar. Doch ist die Verbindung zwischen Ästhetik und Politik immer kennzeichnend gewesen im Kontext jener philosophisch-gesellschaftstheoretischen Denkrichtung, die im 20. Jahrhundert im Zeichen des Hegel-Marxismus ein Paradigma bietet: die Kritische Theorie der Frankfurter Schule. Zunächst gilt das für die sogenannten Gründerväter, von denen namentlich Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse in dieser Sache viel diskutierte Vorschläge unterbreitet haben. Auch an der fundamental demokratischen, also spezifisch politischen Überzeugung der Kritischen Theorie ist nicht zu zweifeln. Die Repräsentanten der ersten Generation sind aus historischen und biographischen Gründen auf die Erfahrung und kritische Reflexion des »autoritären Staates« (Max Horkheimer) und die entsprechende Formung des »autoritären Charakters« fokussiert, auf die kulturellen und rationalitätshistorischen Bedingungen, die die Herausbildung selbständiger, im Kantischen Sinne mündiger Individuen verhindern und damit einer demokratischen Gesellschaft entgegenwirken. Mit der zweiten und dritten Generation, mit Jürgen Habermas, Albrecht Wellmer, Axel Honneth, Seyla Benhabib und Nancy Fraser, tritt die demokratische Grundorientierung aber ausgearbeitet hervor. Schwieriger steht es um das Verbindungsglied der Gefühle. Sie gelten, vor dem Hintergrund eines politisch dubiosen, irrationalistischen Kultus der Romantik, auch innerhalb der Kritischen Theorie als ideologieverdächtig und gefährlich für den demokratischen Diskurs. Dennoch sind auch sie zumindest im ästhetischen Zusammenhang legitim. Marcuses grundsätzliche und in den Studentenprotesttagen der späten 1960er Jahre aktualisierte Betonung der »Sinnlichkeit« und Adornos oft sublimer, aber doch insistierender Rekurs auf das »Somatische« liefern die entscheidenden Stichworte. Erst recht macht die nachfolgende Generation die Chronik der Gefühle (Alexander Kluge) und eine um die affektive und emotionale Dimension erweitere Rationalitätstheorie zu ihrem Thema.

In diesem Buch möchte ich eine Vorstellung davon geben, wie der Zusammenhang von demokratischer Politik, Gefühlen und Ästhetik unter wiederum veränderten historischen und wissenschaftlich-philosophischen Bedingungen aussehen kann. Historisch gesehen hat sich der Zusammenhang zumindest von Politik und Gefühlen am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts selbst zu einem Politikum verknotet. Das tonangebende Stichwort heißt hate speech. Nachdem der Ausdruck in den 1980er Jahren gebräuchlich wird, in den USA zunächst vor allem im Kontext der campus speech codes, breitet er sich gesamtgesellschaftlich im selben Maße aus, in dem die digitale Technologie sich als kulturprägendes Phänomen etabliert, auf der politischen Ebene ein kriegerisch-brutaler Zerfall von Nationen in Ethnien einsetzt – in Europa vor Augen geführt durch den Zerfall Jugoslawiens – und auf der politisch-kulturellen Ebene, am symbolkräftigsten mit den Flugzeugattentaten auf die Twin Towers in New York am 11. September 2001, sich eine schier endlose Reihe von terroristischen Anschlägen und Selbstmordattentaten in Szene setzt. In den digitalen Netzwerken der sogenannten sozialen Medien finden seither die Gefühle von Empörung, Wut, Zorn und Hass im Schutz der Anonymität massenhafte Verbreitung und formen sich vor allem unter dem alten Banner religiöser und nationalistischer Ideologien zu politischer Schlagkraft, während parallel dazu, wenn auch auf ganz unterschiedlichen Niveaus, die theoretische Reflexion einsetzt.

Neben der technologischen, staatspolitischen und politisch-kulturellen Dimension ist es die ökonomische, die der Politik der Emotionen die Schleusen öffnet. Es ist das Jahr 2010, als »der Wutbürger« in Deutschland ausdrücklich die politische Arena betritt. Der Kontext, in dem das geschieht, ist ebenso überraschend wie bezeichnend. Das Projekt »Stuttgart 21«, das den Bahnhof dieser Stadt hochgeschwindigkeitskompatibel und insofern zeitgemäß machen soll, spitzt sich nämlich politisch zu einem andauernden Protest zu, der verschiedene soziale Schichten und Generationen zusammenführt, aber doch vornehmlich getragen wird von älteren, wohlhabenden und konservativen Bürgerinnen und Bürgern. Überraschend ist nicht nur die Hartnäckigkeit des bürgerlichen Widerstands gegen die Staatsgewalt, sondern auch der Anlass. Der Protest gilt der Bewahrung eines Baudenkmals, er gilt, allgemeiner gesagt, dem Erhalt des Bestehenden gegenüber der rasenden Veränderung. Er drückt damit eine allgemein verbreitete Stimmung aus. Die ökonomisch-technisch-kulturelle Veränderung, die seit den 1990er Jahren auf den Namen »Globalisierung« hört und – teils optimistisch, teils resignativ – als alternativlos bezeichnet wird, weist nämlich eine Kehrseite auf, eben die einer anscheinend nicht still zu stellenden Veränderung, die über das Althergebrachte gefühllos hinwegrauscht. Entweder man passt sich an, oder man wird angepasst. So lautet die einfache und brutale gesellschaftstheoretische Alternative. Der Wutbürger aber weigert sich, sie so einfach hinzunehmen. Und er ist erfolgreich. Mit Donald Trump, so hat man ein paar Jahre später konstatiert, erreicht der Wutbürger sogar das Weiße Haus in Washington.1

Parallel zu diesen eingreifenden Veränderungen vollzieht sich in den Wissenschaften, vor allem den Geistes- und in Deutschland so genannten Kulturwissenschaften, ein affective oder emotional turn. Man ist, jedenfalls zumeist, nicht so vermessen, diese Wende mit einem Paradigmenwechsel im Thomas Kuhn’schen Sinne gleichzusetzen und somit akademisch zu adeln. Man meint damit keine fundamentale und revolutionäre Umorientierung einer Wissenschaftsform, sondern lediglich eine Ergänzung und Erweiterung bestehender Wissensperspektiven. Seit den späteren 1990er Jahren ist die Gefühlsforschung jedenfalls im deutschen Sprachraum nicht nur in Philosophie, Psychologie, Medizin, Neuro- und Kognitionswissenschaften etabliert, sondern auch in den Literatur-, Kunst-, Film- und Medienwissenschaften.2

Die jüngste Verknotung von Politik und Gefühlen einerseits und die Akzeptanz der Gefühle als Forschungsgegenstand andererseits erleichtern es, die spezifische Frage nach dem Zusammenhang von Gefühlen und Politik unter demokratischen Bedingungen zu stellen und sie zudem mit einer ästhetischen Perspektive zu verbinden. Welche Rolle also spielen Gefühle (faktisch und normativ) in einer demokratischen Lebensform? Und welche Rolle kommt den von Kunst und populärer Kultur angeleiteten Erfahrungen dabei zu?

Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf die Engführung von Demokratie und Diskurs. Die Idee der Demokratie – als Resultat einer historischen Entwicklung innerhalb der europäischen und nordatlantischen Kultur – ist gewiss vielschichtig, aber sie gründet wesentlich auf dem Konzept von Selbstbestimmung. Freie und gleiche politische Subjekte haben demnach die institutionell garantierte Möglichkeit, den Prozess der Beratung (deliberation) und Gesetzgebung zu gestalten. Diese Idee ist, zwar nicht intrinsisch, aber doch dominant, verbunden mit einem Konzept von Vernunft und rationalem Diskurs, das dazu tendiert, Affekte und Gefühle auszuschließen. Denn der Beratungs- und Gesetzgebungsprozess soll verständlicherweise von guten Argumenten bestimmt werden und nicht von rhetorischen Tricks, psychologischer Manipulation oder gar kruder Gewalt.

Aber die Idee einer rationalen Debatte in Sachen der Politik sieht sich zumindest drei grundsätzlichen Einwänden gegenüber. Erstens dem naheliegenden Verweis auf die faktischen Umstände, die unübersehbar zeigen, dass Gefühle nie, jedenfalls nie vollständig, aus politischen Debatten ausgeschlossen werden können. Zweitens einer kulturhistorischen Analyse, in Nietzsches Terminologie einer Genealogie des abendländischen Denkens, die den Verdacht ausformuliert, dass das andauernde Betonen der Vernunft seinerseits als eine Leidenschaft und damit auch als etwas Irrationales verstanden werden kann; dass sich, mit anderen Worten, in unserer Vernunftkultur eine »irrationale Leidenschaft für leidenschaftslose Rationalität« verbirgt.3 Und schließlich lässt sich mit verschiedenen philosophischen und psychologischen, heutzutage auch neurowissenschaftlichen Einwänden seriös bezweifeln, dass Vernunft und Gefühle einander grundsätzlich ausschließen. Es ist vielmehr plausibel, dass die Ausschlussthese im Großen und Ganzen einem prämodernen Denkmodell entspricht, das Mitte des 18. Jahrhunderts abgelöst wird und im Rahmen verschiedener philosophischer und wissenschaftlicher Theorien die spezifische Rationalität von Gefühlen herausarbeitet.4

Ausgehend von diesen grundsätzlichen Erwägungen kann die entscheidende Frage somit nicht sein, ob, sondern in welchem Ausmaß und in welchem Sinn Gefühle eine Rolle im demokratischen Streit spielen und spielen sollen. Und auf diese Frage – so meine erste These – gibt es vier zentrale Antworten. Sie lassen sich unter die akademischen Stichworte »Präsentation«, »Moderation«, »Kompensation« und »Transformation« bringen. Im politischen Zusammenhang verlangen Gefühle – erstens – nach einer zeitgemäßen Form der Darstellung, nach – zweitens – Milderung und Mäßigung, nach einem – drittens und eng damit verbundenen – balancierenden Ausgleich und – viertens – nach einer sinnvollen Umwandlung. Diese vierfache Reaktion – so meine zusätzliche These – lässt sich entweder unter Mithilfe von ästhetischen Erfahrungen oder sogar in ausgezeichneter Weise durch sie erreichen.

Was ein Gefühl »ist«, wissen wir demnach, erstens, oft erst durch ein Kunstwerk. Es ist »Mutter unserer Gefühle« (Wassily Kandinsky), indem es ein Gefühl zur Welt bringt, ihm Gestalt verleiht und einen Namen gibt. Mit Hegel gesprochen, gibt das Kunstwerk uns eine »Vorstellung«, eine Repräsentation von dem, was ein Gefühl beinhaltet, die sich aber nicht auf etwas Vorgegebenes bezieht, sondern dieses Etwas erst »gibt«, ihm also Präsenz verleiht. Erneut lässt sich dies mit einer Namensgebung vergleichen; das Kunstwerk stellt uns dann ein Gefühl vor, wie man eine Person in einen sozialen Zusammenhang einführt.5 Der mildernde Effekt, zweitens, gehört zur Kunst, weil sie Gefühle nie bloß unmittelbar, ungestaltet zum Ausdruck bringt. Gewiss ist die Kunst der Moderne von Rimbaud über Kafka und Beckett zu Heiner Müller gekennzeichnet, passenderweise müsste man sagen: gezeichnet, durch das Abstoßende, Widerwärtige, auch Ekel Erregende, aber schon indem sie das Somatisch-Affektive gestaltet, tritt es einem im wörtlichen Sinn als Gegenstand gegenüber und verliert dadurch von seiner Macht. Hässliche Kunst ist ein Widerspruch in sich; sie ist in ihrer gestaltgebenden Form immer zu schön, um wirklich, ungefiltert hässlich zu sein. Die Funktion der Kompensation von Emotionen, drittens, ist in der Kunst nicht zentral. Für diese Funktion sind vielmehr schlichtweg andere Emotionen und darüber hinaus soziale Institutionen zuständig. Scham lässt sich demnach gut durch Stolz ausbalancieren, und umgekehrt; Furcht lässt sich nicht begreifen ohne Hoffnung, und umgekehrt. Unterstützt wird diese emotionale Ausbalancierung durch eine bestimmte Lebensform, eine Art von Intersubjektivität, die sich konkretisiert in Beziehungen der Freundschaft, Liebe und Solidarität. Ein soziales Netzwerk dieser Art ist in der Lage, Gefühle wie Angst, Aggression, Neid und Scham in ihren demokratiegefährdenden Effekten auszugleichen. Transformation ist demgegenüber, viertens, wieder eine ausgezeichnete Leistung der Kunst. Ein uraltes Bild dafür ist Pegasus, das geflügelte Pferd aus der griechischen Mythologie und Sinnbild der Dichtung, dem in einer Variante nachgesagt wird, es sei aus dem Blut der Medusa entsprungen, als Perseus ihr das grässliche Haupt abschlug. Eine romantisch-moderne Ausdrucksweise für die Verwandlung, die ästhetisch statthat, kommt dagegen aus Hollywood: »Take your broken heart and make it into art.«6

Meine Überlegungen konzentrieren sich auf drei Teile. Am Anfang steht, ausgehend von Protesten im Jahr 2015 an der Universität, an der ich zuletzt gearbeitet habe, der Universität von Amsterdam, eine teilnehmend-beobachtende Analyse politischer Gefühle. Systematisch orientiert sie sich an dem Gegensatzpaar von Zorn und Scham, denn Zorn, Wut und Empörung, manchmal auch Hass, sind die motivationalen Startbedingungen für Protest, Scham dagegen heißt, im passiven Sinn, von den Anderen in einer Bloßstellung gesehen zu werden, oder im aktiven, vor allem im politischen Sinn, den Anderen in einer Bloßstellung zu exponieren; »Schäm dich!« oder »schämt euch!« hält man den Menschen dann entgegen. Speziell interessant ist gegenwärtig die Verquickung der gegensätzlichen Gefühle von Zorn und Scham in der Haltung der Unverschämtheit, die sich für eine moderne demokratische Gesellschaft als hoch ambivalent erweist, als ebenso notwendig wie gefährlich.

Zweitens gebe ich einen ausgebreiteten Überblick über den gegenwärtigen Stand der philosophischen Diskussion zum Zusammenhang zwischen Demokratie und Gefühlen, stets mit Blick auf die mediatisierende Rolle der Ästhetik, und stelle dementsprechend vier Modelle heraus: das kognitivistisch-narrativistische Modell, das in einer aristotelisch-stoischen Variante gegenwärtig von Martha Nussbaum vorgestellt wird; das Empathiemodell der schottischen Aufklärung, namentlich von David Hume und Adam Smith; das spinozistische Affektivitätsmodell, das unter postmarxistischem Vorzeichen von Gilles Deleuze repräsentiert wird; und schließlich das hegelianische Freiheitsmodell. Die Rolle, die der Ästhetik in diesen Modellen zugewiesen wird, ist unterschiedlich – und unterschiedlich überzeugend.

Drittens unterbreite ich daher einen eigenen theoretischen und spezifisch ästhetisch-philosophischen Vorschlag, basierend auf Immanuel Kants und John Deweys Analyse der ästhetischen Erfahrung, eine philosophische Verbindung, die sich – nur auf den ersten Blick überraschend – in das Konzept einer erweiterten Rationalität einfügen lässt, wie es auch auf Seiten der Kritischen Theorie entworfen worden ist, und zwar von Horkheimer, Adorno und Marcuse bis zu Habermas und der nachfolgenden Generation; Kritische Theorie ist Kritik einer absolutistisch überzogenen, szientistisch eingeengten und relativistisch aufgelösten Rationalität im emanzipatorischen, das heißt hier radikal-demokratischen Interesse. Es geht am Ende um eine Ästhetik, die im intellektuellen Diskurs und in der politischen Praxis interveniert. Sie ist als Wissensmodell, als eine »symbolische Form« (Ernst Cassirer) eine kulturell formative Kraft. Sie kann daher gar nicht anders, als Streit zu provozieren. Aber das ist genau das, was auch in der Theorie allgemein stattfinden muss. Als Theoretiker oder Theoretikerin hat man eine hypothetische Einstellung zu dem, was der Fall ist. Unsere Theorien sind nur bis auf Weiteres gültig; sie sind nicht für die Ewigkeit gemeint. In der Ästhetik, der Philosophie der Kunst und der Kunstkritik, eigentlich für das ganze weite Feld der altmodisch so genannten Geisteswissenschaften, ist die mit unterschiedlicher Akzentuierung von Gadamer, Habermas und Rorty erneuerte hymnische Einsicht Hölderlins bestens am Platz, dass »ein Gespräch wir sind und hören voneinander«. Oder, um es weniger freundlich auszudrücken: dass wir streiten müssen, kämpfen mit den zivilisierten Waffen von Argumenten, von Behauptungen, die in einem weiten Sinn von Rationalität mitgeteilt, also gemeinschaftlich geteilt und daher auch kritisiert werden können.

Demokratie der Gefühle

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