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DER GRENZGÄNGER
ОглавлениеIn der Tat böte Macrons Leben Stoff für eine rasante Erzählung in der Kategorie «stranger than fiction», zuzüglich einer Prise Heldenepos. Hinzu kommen Romantik, überraschende Wendungen — und viel Spannung. Dies nicht nur, weil der Ausgang offenbleibt.
Die Erfahrung aus der jüngsten Geschichte lehrt uns: Reformer aus der politischen Mitte haben immer mal Populisten den Weg geebnet. Donald J. Trump folgte auf den übervorsichtigen Barack Obama, das Tandem der Links- und Rechtspopulisten Luigi Di Maio und Matteo Salvini auf den selbsternannten zentristischen «Bulldozer» Matteo Renzi. Wird sich die Geschichte wiederholen und Macron als tragischer Verlierer die Stufen des Élysée-Palasts ein letztes Mal herabschreiten und seiner Nachfolgerin, der rechtsnationalistischen Marine Le Pen, die Hand schütteln müssen?
Auf jeden Fall hat Frankreichs jüngster Staatspräsident der Geschichte zwei Qualitäten eines typischen Romanhelden. Erstens glaubt Macron, seines Glückes Schmied zu sein, Autor der eigenen Lebensgeschichte. «Soweit ich mich erinnern kann, hatte ich immer diesen Willen: Selbst mein Leben zu wählen und zu bestimmen»,12 schreibt Macron 2016 in seiner Kampagnenschrift Révolution.
Als Fünfjähriger will er von seinem Elternhaus zur Großmutter ziehen. Mit zwölf Jahren beschließt der in einer nicht-religiösen Familie aufgewachsene Macron, sich taufen zu lassen. Mit 16 Jahren verliebt sich der Teenager in Brigitte Auzière, eine Französischlehrerin an seinem Gymnasium. Mit 38 Jahren entscheidet er sich ohne Rückendeckung einer Partei, für das höchste Amt der Republik zu kandidieren. Und seiner neuen Ich-Partei En Marche! gibt er die Initialen seines Namens.
Macron entscheidet, wen er liebt, wem er dient, was er tut. Er ist autonom, sein Wille ist ihm Gesetz — das imponiert den Franzosen. Ob Jacques Chirac über die Metro-Schranke sprang oder der Chansonnier Serge Gainsbourg live im Fernsehen Banknoten in Flammen aufgehen ließ: Frankreich hegt eine große Liebe zum kleinen Regelbruch, es hat viel Sympathie für denjenigen, der eine verbotene Abkürzung nimmt, und eine Faszination für Eigenwillige, die sich über Konventionen hinwegsetzen, ja ganz und gar nach ihren Gesetzen leben.
An Macron fasziniert die Franzosen insbesondere die Liebesgeschichte mit seiner Ehefrau. Fast ein Vierteljahrhundert älter ist die Studienrätin, die Macron als Leiterin der Theater-AG seines Jesuiten-Gymnasiums La Providence in der Picardie kennenlernt und die nun Frankreichs première dame ist. Es ist die Geschichte einer amour interdit im Wortsinn: In Frankreich werden sexuelle Beziehungen (auch einvernehmliche) von Lehrpersonen mit minderjährigen Schülern und einem Altersabstand von mehr als 15 Jahren mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft.
Diese liaison dangereuse ist vor allem ein Bruch gesellschaftlicher Normen. Ganz Amiens tuschelt über die Affäre. Brigitte Auzière ist nicht irgendwer. Sie entstammt einer alteingesessenen Chocolatier-Familie. Sieben Confiserien betreibt das Unternehmen, das mittlerweile in der sechsten Generation geführt wird und dessen Spezialität macarons (!) sind, ein luftiges Mandelgebäck. Und: Brigitte ist verheiratet und Mutter; eine ihrer Töchter ist Macrons Klassenkameradin.
Die Situation wird 1993 etwas entschärft, als Macron mit 16 Jahren von Amiens nach Paris wechselt. Am Elitegymnasium Henri IV, das seine Schüler unter den Besten der Republik auswählt, absolviert er sein Abitur, das Baccalauréat. Doch auch die Hauptstadt bringt Macron nicht auf andere Gedanken, hartnäckig drängt er Brigitte in stundenlangen Telefonaten, sich von ihrem Mann zu trennen.
Ein Jahr darauf verlässt Brigitte nun ebenfalls Amiens und unterrichtet an einem Pariser Gymnasium, um bei Macron zu sein. 2007 heiratet das Paar, das auch in Paris Aufsehen erregt. «Wir hatten einigen Gegenwind. Wollten wir eine Liebe wie die unsere leben, mussten wir uns ein dickes Fell zulegen, um böswilligen Kommentaren, dem Spott und den Gerüchten standzuhalten. Wir mussten Schulter an Schulter stehen, mutig und lebensfroh sein», sagt Brigitte später in einem Interview.13
Wer wagt, gewinnt: Das Leben scheint Macron recht zu geben. Der gemeinsame Kampf für die Akzeptanz ihrer Liebe hat ihn geformt. «Unsere Geschichte hat uns den unbedingten Willen eingeimpft, nichts dem Konformismus zu opfern, wenn man mit Kraft und Ernst daran glaubt», lautet der letzte Satz des autobiographischen Teils von Révolution.
Diese ungewöhnliche Beziehung beeindruckt selbst die linke Schriftstellerin Virginie Despentes, die sonst kein gutes Haar an Macron lässt. Er habe ein «befriedetes Verhältnis zur Männlichkeit». In seinem Fall sei die Frau eines Politikers nicht lediglich eine Trophäe. Vor allem zeige sich Macrons Emanzipation und Fähigkeit, «das Leben zu leben, wie er es will».
Diese Liebe contre jede Konvention ist mittlerweile Teil von Macrons politischem Kapital geworden. Sie kennzeichnet ihn als selbstbestimmte, durchsetzungsstarke und zuweilen transgressive Persönlichkeit, die sich so leicht nicht beeindrucken lässt und selten Risiken scheut. Macron kultiviert seit Beginn seiner politischen Karriere gezielt dieses Image als Solitär jenseits der Parteien und Konventionen.
Nebem seinem Liebesleben ist sein bestes Instrument dazu auch sonst der wohlbedachte Tabubruch. Als Minister einer sozialistischen Regierung fordert er die Abschaffung der 35-Stunden-Arbeitswoche. Er macht Europa zum zentralen Kampagnenthema in einem Land, in dem alle Parteien seit dem Debakel der Volksabstimmung zum Europäischen Verfassungsvertrag 2005 die Frage zu umschiffen versuchen, wie sie denn zur Europäischen Union stünden — damals hatten 55 Prozent mit Nein gestimmt. Er bewertet Frankreichs Kolonialgeschichte als «Verbrechen gegen die Menschlichkeit», ungeachtet der vielen älteren Bürger, die im Algerienkrieg kämpften, und der 3,2 Millionen pieds-noirs («Schwarzfüße»), Algerien-Franzosen und ihrer Nachkommen, die seit 1830 in das nordafrikanische Land einwanderten und nach der Unabhängigkeit Algeriens zurück nach Frankreich gingen. Emmanuel Macron «ist dieses Kind, das Spaß daran hat, in Pfützen zu stapfen», abseits der Skipiste zu fahren und genau das Gegenteil dessen zu machen, was man von ihm erwartet, schreibt die Journalistin Corinne Lhaïk, die Macron seit neun Jahren beobachtet.14
Mit kleinen oder waghalsigen Grenzüberschreitungen zieht er die Aufmerksamkeit auf sich. Er rechtfertigt sich damit, dass er eben Klartext rede und den Franzosen die Wahrheit sage. Das Land sei zu lange vom politischen Personal mit einem «sterilisierten Diskurs» abgespeist worden. Die Wahrheit zu sagen: Ist das, ganz nach dem italienischen Philosophen Antonio Gramsci, den Macron gern zitiert, nicht der eigentliche «revolutionäre Akt», mit dem man eine Gesellschaft zwingt, in den eigenen Begriffen zu denken?
Es ist nicht so, dass seine Landsleute diese Transgressionen unisono gutheißen. Aber sie provozieren fast jedes Mal eine Debatte, die es ihnen erlaubt, miteinander ins Gespräch zu kommen, und jeden Einzelnen dazu einlädt, seine Position zu definieren. Und Widerspruch setzt zumindest Anerkennung voraus. Wenn Macron etwas bekommen hat, das sein Vorgänger Hollande nie erhielt, dann ist es dies: Anerkennung für seine Eigenständigkeit und das Wagnis, sich zu exponieren. Auch für die Chuzpe, seinen Wählerinnen und Wählern etwas zu zumuten.