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DER 21. APRIL

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So kam es 2002 zu dem Tag, der als le 21 avril in die Geschichtsbücher eingegangen ist: Der sozialistische Kandidat Jospin, der gegen Amtsinhaber Jacques Chirac antritt, erhält bei der Präsidentschaftswahl im ersten Durchgang lediglich 16 Prozent der Stimmen. Der Kandidat des rechtspopulistischen Front National, der rechtskräftig verurteilte Antisemit Jean-Marie Le Pen, zieht in den zweiten Wahlgang gegen Chirac, der mit knapp 20 Prozent selber ein lamentables Ergebnis erzielt hat. Viele Franzosen erleben den Tag als nationales Trauma. Zwei Wochen später gewinnt Chirac den zweiten Wahlgang mit 82 Prozent der Stimmen, die Wahlbeteiligung liegt bei fast 80 Prozent.

Romane, Filme und unzählige Sachbücher haben seither das «politische Erdbeben» vom 21 avril aufgegriffen und zu deuten versucht. Das einhellige Urteil: Es lag an der desolaten wirtschaftlichen Lage.

Das im deutschen Sprachraum meistgelesene (wiewohl in Frankreich kaum bekannte) Buch zu der These «Armut schafft Unmut» ist Didier Eribons halb autobiographische, halb soziologische Studie Rückkehr nach Reims, 2009 erschienen. Der Marxist Eribon, der wie Macron aus dem deindustrialisierten Norden stammt, erläutert anhand seiner Familiengeschichte, warum vormals links wählende Arbeiter zum Front National (heute Rassemblement National) gewechselt sind.

Die Erklärung des Soziologen: Die linken Parteien verstünden Politik nicht länger als Klassenkampf; sie verfolgten einen wirtschaftsliberalen Kurs, sie hätten die Arbeiter fallengelassen. Es gebe mehr Armut und darum mehr Front-National-Wähler, so die schlichte These, verkürzt sie doch den Rechtspopulismus auf eine rein ökonomische Frage. Liberale und Rechte bleiben ihrerseits in dieser Logik gefangen, wenn sie die Gegenthese vertreten und die missliche Lage am Arbeitsmarkt auf die «Reformblockade» der Linken zurückführen.

Doch wirtschaftliche Aspekte sind offensichtlich nur ein Teil der Erklärung. Von Dänemark über die Schweiz und Österreich bis nach Ungarn und Polen: In den wirtschaftlich erfolgreichsten und sozial mobilsten Ländern Europas sind Rechtspopulisten zum Teil noch erfolgreicher als in Frankreich. Autoritarismus, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit sind für viele Zeitgenossen auch dann attraktiv, wenn sie gute Chancen auf eine sichere Stelle und sozialen Aufstieg haben. Eribon lässt dies übrigens selbst anklingen. Das Arbeitermilieu, dem er als Homosexueller nach Paris entfloh, sei dem konservativen Gesellschaftsbild der Rechten schon immer nahe gewesen, schreibt er. In der patriarchalen Arbeiterwelt mit sexistischen und rassistischen Reflexen sei der Kampf der Linken für die Rechte von Ausländern oder sexuellen Minderheiten auf Unverständnis gestoßen.

Trotz des ganzen Kraftaktes einer Post-Rationalisierung des Aufstiegs des Front National durch Frankreichs Intellektuelle: Richtig verarbeitet haben sie das «Erdbeben» trotzdem nie. Chirac, Sarkozy und Hollande: Seit dem 21 avril agierten auch Frankreichs Präsidenten in steter Angst vor den Rechtspopulisten. Und viele Franzosen fühlen sich als Opfer einer nicht enden wollenden Farce. Präsidenten kommen und gehen. Doch egal, wen das Volk wählt, ob links oder rechts, jede Regierung sieht sich gezwungen, wegen des wachsenden Schuldenbergs und der anhaltenden Schwäche der Wirtschaft Einschnitte am Sozialstaat hier und Abstriche an den Arbeitnehmerrechten dort vorzunehmen.

Das gibt Nahrung für das in Frankreich sehr präsente Narrativ eines déclassement: eines französischen Abstiegs in die zweite oder dritte Liga. Frankreich werde abgehängt, dem Land gehe es schlecht, so die von Buch zu Buch und von Leitartikel zu Leitartikel bekräftigte Dauermeinung. Streitschriften wie Der französische Selbstmord: 40 Jahre, die Frankreich zerstört haben30 werden zu Bestsellern. Jede literarische Saison bringt immer neue Variationen des Themas: Das französische Malheur, Frankreich stürzt ab, Besessen vom Niedergang — die Liste ist endlos. Rundfunksendungen widmen sich Fragen wie: «Kann es einem gut gehen in einem Land, dem es schlecht geht?»

Deutschland kommt hier eine besondere Rolle zu. Permanent wird der Vergleich mit dem großen Nachbarn am anderen Ufer des Rheins gesucht, ob es denn um Wirtschaftswachstum, Arbeitslosigkeit, die Zahl der jährlichen Streiktage oder die der Patentanmeldungen geht. Rundum scheint die Bundesrepublik besser abzuschneiden. Selbst bei den Geburtenziffern — lange Frankreichs Stolz — holt der Nachbar allmählich auf.

Emmanuel Macron

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