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2 ZWEIFEL UND VERZWEIFLUNG IN FRANKREICH

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Eine Tür ist entweder offen oder geschlossen. Oder aus den Angeln gehoben, somit das Schloss dringend zu reparieren ist.

— BORIS VIAN

Ein Held braucht immer eine Bühne: Frankreich ist eine. Nach wie vor ist es das mit Abstand meistbesuchte Land der Welt. Die «Stadt der Lichter» glänzt in Netflix-Serien wie Emily in Paris und bleibt ein Magnet für globale Nomaden mit romantischen Selbstverwirklichungsentwürfen. Aber für die Einheimischen stellt Frankreich keine sonderlich gefällige Lebenskulisse dar. Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass das Land schon seit Jahrzehnten in einer kollektiven depressiven Grundstimmung verharrt.

Schon vor Kaffee und Croissant geht es los. Der Radiowecker schrillt, und es läuft la matinale. Die Hälfte der Franzosen hört oder schaut täglich eines der unzähligen Morgenprogramme. Je nach politischer Ausrichtung schalten Madame et Monsieur France Culture (links), France Inter (Mitte-links), Europe 1 (Mitte-rechts), RTL (rechts) oder RMC (populistisch) ein. Während in Deutschland die morgendlichen Radio- und Fernsehsendungen kaum politisch gefärbt sind und primär gute Laune zu verbreiten suchen, genießen die Franzosen bei Tagesanbruch Polemik pur. Die Moderatoren berichten nicht über das politische Geschehen, sondern sie besprechen es kritisch-kämpferisch und oft mit zynischem Unterton, sie wollen abgebrüht wirken. Der Höhepunkt ist jeweils das Interview mit Exponenten aus der Politik oder der Literatur, die ein Klagelied gegen die Regierung, die Opposition, Brüssel oder allemal über die Welt anstimmen (und dabei meist ihr jüngstes Buch vorstellen).

Dem Land gehe es schlecht, so die veröffentlichte Meinung. Seit den 1970er Jahren hat Frankreich bekanntlich seine liebe Mühe mit dem globalen Kapitalismus. Der internationale Standortwettbewerb hat die steuerfinanzierte Umverteilungspolitik und den starken Schutz der Arbeitnehmer erschwert, auch das gut ausgebaute Gesundheitssystem kam unter Druck, was sich in der Pandemie gerächt hat. Die Abwanderung von Unternehmen, délocalisation genannt, weckt eine allgemeine Malaise.

Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hat seit der Präsidentschaft Giscard d’Estaings (1974–1981) jede Regierung zu ihrer obersten Priorität erklärt. Doch mit wenig Erfolg. Frankreich ist im Grunde eine Gesellschaft von Anarchisten. «Wie wollen Sie ein Land regieren, in dem es 258 Käsesorten gibt?», fragte einmal Charles de Gaulle. So fanden die Franzosen keine gemeinsame Antwort auf den globalen Wettbewerb, anders als die weniger individualistischen und stärker am Gemeinwesen orientierten Deutschen. Die Bundesrepublik zelebriert in Sonntagsreden den Wettbewerb, aber werktags verständigen sich Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften zum Beispiel darauf, Lohnzurückhaltung im Übermaß zu üben.

François Mitterrand versuchte es mit dem Sozialismus à la française, einem Mix aus Nationalisierungen, Senkung des Rentenalters, Arbeitszeitverkürzung und keynesianischer Konjunkturpolitik. Doch die Rechnung des studierten Literaturwissenschaftlers ging nicht auf. Das Land geriet noch stärker in Schieflage. Nach zwölf Jahren an der Macht stellte der erste sozialistische Präsident der Fünften Republik 1993 resigniert fest: «Wir haben alles gegen die Arbeitslosigkeit versucht.»

Konservativ-liberale Regierungen hofften immer wieder, eine Schwächung des Arbeitnehmerschutzes und niedrigere Löhne würden die Leute wieder in Arbeit bringen, scheiterten jedoch mit ihren Reformplänen am Widerstand der Gewerkschaften, die jedes Mal die öffentliche Meinung für sich einnahmen und bei Bedarf das Land lahmlegten.

Die sozialistische Regierung unter Premierminister Lionel Jospin (1997–2002) setzte ein weiteres Mal auf großzügige Frührenten, und sie verkürzte die Wochenarbeitszeit von 39 auf 35 Stunden. Schließlich aber strich auch Jospin die Segel, als der Reifen-Hersteller Michelin ein Werk schloss: «Man kann nicht alles vom Staat erwarten. Man kann die Wirtschaft nicht mehr allein mit Gesetzen und Texten regulieren.»

Die hohe Arbeitslosigkeit war und ist ein Drama für die Betroffenen — vor allem für die jüngere Generation, sie trägt die Hauptlast. Die Jugendarbeitslosigkeit (15 bis 24 Jahre) fluktuiert seit den 1990er Jahren bei knapp 20 Prozent und erreichte nach der Finanzkrise 2009 sogar fast 25 Prozent. Im langjährigen Schnitt sind 8 Prozent der Gesamtbevölkerung erwerbslos.

Das Scheitern aller Regierungen legt den beschränkten Handlungsspielraum der Politik offen, ja ihre Machtlosigkeit. Das ist fatal für die Republik, denn das Land ist, im Unterschied zur deutschen Kulturnation, eine Staatsnation: Der Staat hat die Nation überhaupt erst geschaffen. Er ist die primäre Identifikationsgröße und ein idealistisches Projekt. L’État (den man mit großem E schreibt, obwohl die Sprache fast nur Kleinbuchstaben verwendet) soll den Franzosen Rechte und somit die Freiheit geben, nach ihrer Fasson zu leben; er soll umverteilen und dadurch Gerechtigkeit schaffen; und er soll die Bürgerinnen und Bürger «zusammenführen» (das Zauberwort rassembler), das heißt sie miteinander verbrüdern. Dazu gehört das in der französischen Verfassung verankerte Recht auf Arbeit, das auf die sozial-republikanische Revolution von 1848 zurückgeht. Aber wozu ist dieser Staat noch gut, wenn er die Lebensrealität der Franzosen nicht mehr zu gestalten und die Rechte, die er festschreibt, nicht durchzusetzen vermag?

Emmanuel Macron

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