Читать книгу Emmanuel Macron - Joseph de Weck - Страница 16
PERMANENTER AUSNAHMEZUSTAND
ОглавлениеDas mediale Narrativ eines nationalen Versagens spiegelt die trübsinnige Grundstimmung in der Bevölkerung. Seit Jahrzehnten bestätigen Umfragen, dass die Franzosen die Zukunft besonders pessimistisch einschätzen.
2019 glaubten 73 Prozent, Frankreich sei im Niedergang begriffen (und historisch gesehen ist das ein eher tiefer Wert!).31 Nur gerade 34 Prozent der Franzosen befanden im Sommer 2020, die Lage im Land sei «gut»: In der Bundesrepublik waren es 73 Prozent. Und 76 Prozent der Franzosen, aber bloß 43 Prozent der Deutschen bezeichneten die wirtschaftliche Lage als schlecht.
Gefragt, ob ihre nationale Kultur anderen überlegen sei, stimmen in einer anderen Umfrage 36 Prozent der Franzosen zu — im Vergleich zu 45 Prozent der Deutschen und 50 Prozent der Schweizer.32 Sage noch einer, die stolzen Franzosen seien chauvinistisch! Sie gehen unbarmherzig mit sich selbst ins Gericht.
Das hat nicht nur mit dem Auf-der-Stelle-Treten der Wirtschaft zu tun. Frankreich kommt seit Jahren einfach nicht zur Ruhe. Zum einen sind da die Terror-Anschläge: die Bluttat in der Redaktion der Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo und die Geiselnahme in einem koscheren Supermarkt am 7. Januar 2015; das Massaker im Pariser Konzerthaus Bataclan und auf zwei Barterrassen am 13. November 2015, während zur selben Zeit ein Anschlag auf das Freundschaftsspiel Deutschland–Frankreich im Stade de France fehlschlägt; die Lastwagen-Attacke am Nationalfeiertag 2016 auf der Promenade des Anglais in Nizza; die Attacke auf den Straßburger Weihnachtsmarkt am 11. Dezember 2018. Dazwischen traumatisieren immer wieder Messer-Attentate mit meist zufälligen Opfern — auf der Pariser Prachtstraße Champs-Élysées, aber auch in mittleren Städten und kleinen Ortschaften in der Provinz. Schockierend sind auch die zielgerichteten Morde an Juden, Priestern und Soldaten. Einer der jüngsten Anschläge in dieser Reihe ist die Enthauptung des Geschichtslehrers Samuel Paty am 16. Oktober 2020. Er hatte in einer Unterrichtsstunde zum Thema Meinungsfreiheit Karikaturen des Propheten Mohammed gezeigt.
Seit 2015 hat die Republik 31 solcher Terroranschläge erlebt, zuzüglich einer Vielzahl verhinderter Attentate. Zehntausend Soldatinnen und Soldaten der «Opération Sentinelle» patrouillieren jahraus, jahrein in Frankreichs Bahnhöfen, Gotteshäusern und Einkaufsstraßen. Man hat sich vollkommen daran gewöhnt, am Eingang eines Einkaufszentrums einen in Camouflage gekleideten Soldaten mit Maschinengewehr im Anschlag zu sehen. Nicht nur die Straßen sind militarisiert: die Geheimdienste haben freie Hand, Anti-Terror-Gesetze werden laufend verschärft. Individuelle Freiheit hin oder her: In der Krise setzen die Franzosen auf den Staat und erwarten, dass er sie mit seiner geballten Kraft beschützt. Die Armee (85 Prozent), gefolgt von der ebenfalls militärischen Gendarmerie (81 Prozent) und der Polizei (69 Prozent) sind die Institutionen, die in der Bevölkerung das größte Vertrauen genießen.33
Dieser Widrigkeiten nicht genug: Macrons Wahlsieg befeuert sofort die sozialen Spannungen. Den Anfang machen die von «Schwarzen Blocks» vereinnahmten und außergewöhnlich gewalttätigen Kundgebungen gegen Macrons Arbeitsmarktreform im Herbst 2017. Im April 2018 beginnt der Streik der Bahnarbeiter gegen die Abschaffung ihres arbeitsrechtlichen Sonderstatus. Über einen Zeitraum von drei Monaten steht der Bahnverkehr ganze 36 Tage still: ein Rekord, und trotzdem erleiden die Gewerkschaften am Ende eine Niederlage. Dann entsteht, anscheinend aus dem Nichts, im Winter 2018–19 die Gelbwesten-Bewegung. Die Protestierenden legen Verkehrskreisel und Autobahnen lahm. Samstags nehmen sie jeweils Frankreichs Stadtzentren in Beschlag, eine spektakuläre Kulisse für heftige Auseinandersetzungen mit der Polizei. Im Winter 2019–20 folgt dann eine breite Mobilisierung gegen die Rentenreform. Die Bahnarbeiter brechen mit 43 Streiktagen abermals den Rekord, und diesmal beteiligen sich auch die Angestellten der Pariser Metro, die Mitarbeiter des staatlichen Energielieferanten EDF und die Lehrer. Hinzu kommen die globalen Klimaproteste von Fridays for Future, die auch Frankreich erfassen. Und die Black-Lives-Matter-Bewegung geht nach dem Mord an George Floyd durch Polizeibeamte in Minneapolis auch in Frankreich auf die Straße und geißelt die systematische Polizeigewalt gegen die dunkelhäutige Minderheit.
Lang vor der Coronavirus-Pandemie haben sich die Franzosen damit abgefunden, dass «Normalität» nicht mehr die Norm ist. Freunde in einen anderen Landesteil mit der Bahn zu besuchen oder am Wochenende in die Stadt zum Einkaufen zu fahren: All das verhinderten oft genug die Streikwellen. Die nicht gerade sport-affinen Pariser steigen en masse aufs Fahrrad um, sie wollen die Proteste und die Terrorangst umfahren. Oder sie verwandeln sich in Fußgänger. Fitnesscentern und Damenschuhgeschäften laufen buchstäblich die Kunden davon: Wer braucht noch Kardio-Training oder hochhackige Schuhe, wenn der tägliche Fußweg zur Arbeit fünf Kilometer quer durch Paris führt? Und jeden zweiten Sommer überrollt eine Hitzewelle die Stadt. Bürgermeisterin Anne Hidalgo ruft die älteren Pariser auf, in klimatisierte Bibliotheken, Supermärkte und Kinos zu gehen, sobald ihnen zu heiß ist. 2019 steigt das Thermometer in einer der am dichtesten besiedelten Metropolen Europas (Paris zählt 20 909 Menschen pro Quadratkilometer) mit wenig Grünflächen auf 42,6 Grad Celsius.
Den abendlichen Konzertbesuch überlegt man sich zweimal seit dem Bataclan-Massaker. Das Weintrinken im Straßenbistro feiert man schon lange nicht mehr als Akt des republikanischen Widerstands gegen die Terroristen. Als im Spätsommer 2020 die Restaurants und Bars eine Weile wieder öffneten, galt manchen die Push-Benachrichtigung auf dem Mobiltelefon, es habe im Viertel eine Messerattacke gegeben, als definitives Anzeichen der Rückkehr zur «Normalität» des Pariser Lebens.
Die Fernsehserie In Therapie, die bei Arte läuft und sechs fiktive Französinnen und Franzosen beobachtet, wie sie beim Psychiater ihr Bataclan-Trauma zu bewältigen versuchen, wird zum Publikumshit. Ein ganzes Land schaut auf der Fernsehcouch dem Geschehen auf der Psychologencouch zu, irgendwo zwischen Panikattacke und Erschöpfungsdepression.
Am 15. April 2019 brennt auch noch Notre-Dame de Paris. Die nach fast 200-jähriger Bauzeit 1345 fertiggestellte Kathedrale, die Kriege und Revolutionen überlebt hat und 2016 Ziel eines missglückten islamistischen Bombenattentats war, steht im sonst versöhnlichen Pariser Feierabendhimmel in Flammen. Das Land bietet all den Zeitgenossen, die für Weltuntergangsstimmung anfällig sind, das volle Programm.
Selbst die kollektive Euphorie nach dem Sieg der équipe tricolore bei der Fußballweltmeisterschaft 2018 unterstrich letztlich die gedrückte Stimmung. Die Mannschaft wollte der Nation einen seltenen Augenblick des Glücks, der Sorgenlosigkeit und der nationalen Einheit schenken, wie beim legendären ersten Weltmeistertitel 1998. Kylian Mbappé, geboren 1998 als Sohn eines Kameruners und einer Algerierin, aufgewachsen in Seine-Saint-Denis, einem der Schauplätze der Pariser Banlieue-Revolten von 2005, sagte vor dem Turnier: «Ich will Frankreich verkörpern, es repräsentieren, alles für Frankreich geben.» Denn «eine Weltmeisterschaft löst viele Probleme. Sie macht das Land glücklich. Ob die Kassiererin, der Bürgermeister oder der Präsident: Alle machen sich mit einem großen Lächeln wieder an die Arbeit.»34
Frankreichs individualistische Fußballstars bändigten ausnahmsweise ihre Egos. Die oft zerstrittenen Les Bleus fanden zueinander. Sie bildeten kein Team ziemlich bester Freunde. Aber die elf Franzosen, die am Tag des Finales in Moskau aus voller Kehle die Marseillaise sangen, stellten sich in den Dienst der gemeinsamen Sache. Mit wenig Glanz, aber dank ihrer Eintracht holen die Franzosen den zweiten Weltmeistertitel. Das Volk, das sich eigentlich nur lauwarm für den Fußball begeistert, tanzt in den Straßen. Frankreich feiert die Feste, wie sie fallen.