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1 WER IST EMMANUEL MACRON?

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Man verbringt sein Leben damit, Beweggründe zu romantisieren und Sachverhalte zu vereinfachen.

— BORIS VIAN

Frankreichs Karikaturisten tun sich schwer mit Emmanuel Macron. Jacques Chirac war der hünenhafte Bonvivant. Nicolas Sarkozy der ordinäre Kleine, der sich aufplustern muss. François Hollande der lüsterne, schwabbelige Angsthase. Doch was genau soll man an Macron überzeichnen?

Er ist weder groß noch klein. Der Nordfranzose misst einen Zentimeter weniger als der Durchschnitt, nämlich 1,73 Meter. Schmächtig, aber nicht zu übersehen. Eine gewisse Eleganz, wiewohl mit Zahnlücke. Ein Mann, mehr Kopf als Körper. Mit der schmalen Krawatte und dem noch enger geschnittenen Anzug gleicht er auf frappierende Weise Boris Vian, dem Chansonnier und Kultautor der 1950er Jahre. «Was kümmert es mich, ob ich hässlich oder hübsch bin. Es kommt einzig darauf an, den Leuten zu gefallen, die mich interessieren», schrieb Vian.

Frankreichs Kommentariat ist sich bis heute im Unklaren, wen sich die Franzosen 2017 da eigentlich angelacht haben. Der linken Philosophin Myriam Revault d’Allonnes erscheint Macron als «ungreifbar».3 «Er ist ein seltsamer Mensch. Nicht fassbar. Er lässt sich nicht dechiffrieren», konstatierte Michel Houellebecq.4 Macron sagt selbst immer wieder: «Die Franzosen wissen nicht, wer ich bin.»5

Die Linke beschimpft ihn als «Präsident der Reichen» und «neoliberalen Abbauer des Sozialstaats». In der Tat: Reiche, die ihr Vermögen in Aktien und Finanzmarktanleihen halten, profitieren übermäßig von Macrons Steuersenkungspolitik. Er ist stolz darauf, «pro business» zu sein, und schwächt, ohne zu zögern, den Arbeitnehmerschutz. Und wo sein Vorgänger François Hollande die Spitzenverdiener mit 75 Prozent besteuern wollte, erwiderte Macron, das mache Frankreich «zu einem Kuba ohne Sonne».

Aber: Als Präsident hat er den Netto-Mindestlohn und die Mindestrente stärker angehoben als seine beiden Vorgänger zusammengenommen. Ein neues Gesetz, das die Nationalversammlung auf seine Initiative hin verabschiedet, erlaubt der Steuerfahndung, Daten sozialer Netzwerke wie Instagram zu verwenden, um Steuerhinterziehern auf die Schliche zu kommen — wenn sie beispielsweise behaupten, nicht in Frankreich zu leben oder arm zu sein. Macron verdoppelt die Vaterschaftsurlaubstage und halbiert die Größe von Schulklassen in sozialen Brennpunkten (auf maximal zwölf Schüler). Er stellt dazu Tausende neue Lehrkräfte ein und hebt ihre Löhne um 3 000 Euro jährlich an. Er sagt der «Menstruations-Armut» den Kampf an und lässt in Frauengefängnissen und bei lokalen Tafeln für Bedürftige Automaten mit kostenfreien Hygieneartikeln aufstellen.

Den Karikaturisten ist es misslungen, Macron als Geldmenschen zu entlarven; irgendwie fehlt ihnen eine griffige Chiffre. Macron trägt weder eine Ray-Ban-Sonnenbrille auf der Nase noch eine Rolex ums Handgelenk wie Sarkozy, ebenso wenig lässt er sich auf die Yacht französischer Industriekapitäne einladen, zu denen er allemal Abstand hält. Die «old economy» interessiert ihn nicht sonderlich. Lieber mischt er sich unter französische Start-up-Gründer. In seinen vier Jahren bei der Investmentbank Rothschild & Co. hat er zwar insgesamt 2,9 Millionen Euro verdient. Aber laut der staatlichen Stelle, die die Konten der Präsidentschaftskandidaten durchleuchtet, verfügte Macron 2017 über eins der kleinsten Vermögen aller Bewerber: nur ein Drittel des Kapitals von Linksaußen Jean-Luc Mélenchon. Und er fährt einen Volkswagen Baujahr 2005. Geldgetrieben sieht anders aus (umweltbewusst möglicherweise auch).

Macrons Wirtschaftspolitik ist orthodox, sie könnte als Checkliste der Politikempfehlungen des Internationalen Währungsfonds durchgehen. Die Reden des Staatspräsidenten sind viel zu lang; er liebt es, vor Publikum die Einzelheiten seiner Reformpläne durchzudeklinieren. Dennoch entspricht er nicht dem Klischee des kühlen, der Realität entrückten Technokraten wie der einstige Präsident Valéry Giscard d’Estaing, der Ende 2020 verstorben ist.

Macron ist immer auch der geschichtsbewusste Philosophenpräsident; er will weniger ein Manager als vielmehr ein in langen Zeiträumen denkender Staatsmann sein. Indessen sucht er mehr als seine Vorgänger den Kontakt zur Bevölkerung. Auf dem Höhepunkt der «Gelbwesten»-Proteste im Winter 2018–19, die das ganze Land lahmlegten, lancierte Macron den Grand Débat National: Binnen 80 Tagen fanden 10 134 Gesprächsrunden statt; die Franzosen waren eingeladen, ihre Anliegen und Sorgen zu äußern. Macron ging auf Frankreich-Tournee und reihte 16 Aussprachen von insgesamt 93 Stunden aneinander. Er hörte zu, gab recht, widersprach und erläuterte, was das Zeug hält. In diesen «Großen Debatten» war manchmal geradezu körperlich zu spüren, wie sich im Publikum die Frustration und Spannung in Luft auflösten. Trotz des anbrechenden und in Frankreich stets rebellischen Frühlings verebbten die Proteste.

Macron trägt Europas hartherzige Migrationspolitik mit. Er lässt keine Gelegenheit aus klarzustellen, dass er die «illegale Zuwanderung» bekämpfen und den Schleppern das Handwerk legen will. Er zieht die Stellschrauben des eher liberalen französischen Ausländerrechts an, vor allem pocht er auf eine unbarmherzige Umsetzung. Den Kampf gegen den Islamismus zeichnet er als eine zivilisatorische Auseinandersetzung zwischen dem Europa der Aufklärung und dem Obskurantismus. Zur Debatte um Denkmale und sonstige Darstellungen historischer Figuren, die im Sklavenhandel involviert waren, erklärt Macron «klipp und klar», die Republik werde keine Statuen vom Sockel stoßen.6 Der erste Rechtsakt, den die neue Macron-Mehrheit 2017 im Parlament verabschiedete, ist ein Terrorismus-Gesetz, das viele einschränkende Bestimmungen aus dem temporären Notstandsgesetz in die permanente Rechtsordnung übernahm.

Trotzdem taugt Macron nicht als der typisch wertkonservative, geschweige denn «abendländische» Politiker. Er mimt weder den wohltemperierten Aristokraten, wie das Giscard d’Estaing tat, noch den rustikalen, authentischen homme du terroir, die Rolle, mit der Chirac seine Provinzliebe herauskehrte. Er hat keine Kinder. Gottesdiensten bleibt er grundsätzlich fern, und dies nicht nur, weil er Präsident einer laizistischen Republik sei, so Macron. An den öffentlichen Schulen baut Macron den Arabischunterricht aus. Er anerkennt, dass man als weißer Mann privilegiert ist,7 und lädt eine Truppe schwarzer Transsexueller für eine Performance in den Élysée-Palast. Neben der in Netz-Shirts gekleideten Tanztruppe lässt er sich knabenhaft grinsend ablichten.

Mit Emmanuel Macron sitzt zum ersten Mal seit François Mitterrand ein Intellektueller im Élysée. Keine grundsätzliche politische Entscheidung, ohne dass er sie argumentativ in seinem philosophischen Koordinatensystem unterzubringen versucht, und sei es auf Kosten der Kohärenz. Keine Rede ohne Schriftstellerzitat, ohne Verweise auf die antike Mythologie, die auch dem Bildungsbürger erst nach Wikipedia-Konsultation präsent sind. In einer Fernsehansprache zu Beginn der Pandemie forderte er die Französinnen und Franzosen auf, die freie Zeit mit Lesen zu verbringen.

Gleichzeitig hält Macron Distanz zum Tout Paris, denn diese Groß-stadt-Schickeria erscheint ihm linkskonformistisch und zynisch. Mitterrand charmierte die Presse und die Intellektuellen, die ihn verehrten. Macron zeigt den französischen Leitmedien und der Pariser Intelligenzija die kalte Schulter. Selten gibt er Interviews und wenn, dann mit Vorliebe internationalen, regionalen und sozialen Medien, was ihm den Vorwurf einträgt, er entziehe sich Frankreichs «vierter» Gewalt.

Ein Monsieur normal, wie Hollande sich zu vermarkten suchte, ist Macron schon gar nicht. Der Wahlmonarch umgibt sich zwar mit Insignien der Populärkultur, aber rasch wirkt es peinlich, so wenn er sich das T-Shirt seines Lieblingsfußballklubs Olympique Marseille überzieht. Nach dem Tod der allseits geliebten, aber nicht gerade subtilen Rocklegende Johnny Hallyday sagte Macron: «Wir haben alle ein Stück Johnny in uns» (der bekennende Hallyday-Fan ließ in seiner Loge vor Wahlkampfmeetings das Lied Gabrielle laufen, in dem der Sänger sich von den Ketten einer ungesunden Liebesbeziehung freischreit). Doch in bewusster Abgrenzung zu Hollande erklärte Macron bei seinem Amtsantritt, er werde ein «jupiterhafter Präsident» sein.8 Er möchte über dem politischen Klein-Klein schweben als Jupiter, der römische Gott der Götter. Das «normale Leben» liebt er sowieso nicht, wie er unumwunden zugibt.

Und im Gegensatz zu seinen Vorgängern ist Macron kein Frauenheld. Er flirtet zwar mit jeder und jedem, die ihm über den Weg laufen. Ein Händedruck hier, ein Augenzwinkern da. Macron ist physisch, im permanenten Charmeur-Modus. Der Schriftsteller Emmanuel Carrère berichtete nach einer gemeinsamen Reise, Macron sei im direkten Kontakt so gewinnend, dass er gar einen Stuhl verführen könnte.9

Aber der Mann, der davon besessen scheint, alle mit seiner Intelligenz und seinem Charme einzunehmen, macht keine abendlichen Spritztouren mit dem Motorroller zur Geliebten wie Hollande. Er heiratet nicht drei Mal wie Sarkozy. Er hat keine geheime Zweitfrau und Zweitfamilie wie ehedem Mitterrand. Macron hat eine 24 Jahre ältere Frau geheiratet, die bereits dreifache Mutter war. Und dann doch wieder ganz konventionell Macrons Nachnamen annahm.

Kurz: Emmanuel Macron entspricht keinem der Bilder eines Präsidenten der Fünften Republik, das die Franzosen kennen. Schwierig festzumachen — und genau deshalb unverkennbar? Oder muss man das Rad der Geschichte weiter zurückdrehen? Napoleon kam aus dem Nichts und war nur 30 Jahre alt, als er zum Ersten Konsul avancierte, politisch schwer einzuordnen, autoritär und ein Meister der Macht-Inszenierung. So wie Macron?

Emmanuel Macron

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