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VORWORT
Оглавление«Die Franzosen wollen mit Träumen regiert werden», sagte Napoleon Bonaparte einmal über seine Landsleute. Und es stimmt, Frankreich ist eine Nation, die an Träume glaubt. Liberté, Égalité, Fraternité, das ist das idealistische Versprechen, das Vermächtnis der Französischen Revolution von 1789 und der Aufklärung. Die drei Wörter stehen über der Eingangstür jeder Schule im Land. Aufgabe der Politik ist es, das einzulösen, diesem republikanischen Dreiklang gerecht zu werden — und zwar auch, um der Welt als Vorbild zu dienen. Ein hoher Anspruch, zumal wenn Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit immerzu im Widerstreit stehen.
Die träumerische ist zugleich eine frustrierte Nation. Unablässig folgen Politik-Skandale auf Sex-Affären, Streiks auf Terroranschläge. Immer wieder flammen gewalttätige Protestbewegungen auf. Ein sehr freigiebiger und zugleich sehr repressiver Staatsapparat wahrt den sozialen Waffenstillstand — er verwaltet die politische und wirtschaftliche Stagnation. Lange vor der Coronavirus-Pandemie trat das Land in einen permanenten Ausnahmezustand, mental und real.
In der Psychologie gelten Idealisten mit hohem Anspruch an sich selbst als anfällig für Lebenskrisen. Öffnet sich eine Kluft zwischen Realität und Erwartungen, bauen sich innere Spannungen auf. Dann schwindet das Selbstvertrauen, es weicht der Niedergeschlagenheit. Zwischen Traum und Trauma: Aus diesem Stoff macht man gute Romane. Ungleich schwieriger, daraus gute Politikgeschichte zu schreiben. Michel Houellebecq, der erfolgreichste, aber auch der pessimistischste französische Schriftsteller, befindet nüchtern: «Frankreich hat ein Talent zur Depression.» Um nicht ohne Ironie anzufügen: «Ich ähnele Frankreich.»1
Frankreich wirkt stets gefährdet, am Rand der (Selbst-)Überforde-rung. Das weckt Ängste, durchaus auch in Deutschland. Berlin sorgt sich, dass der wichtigste europäische Partner irgendwann abhandenkommen könnte. Was, wenn jenseits des Rheins die Frustration überhandnimmt: wenn die Mehrheit der Französinnen und Franzosen aus Politikverdrossenheit bis hin zur Verzweiflung die Rechtspopulistin Marine Le Pen in den Élysée-Palast wählt? Das Houellebecq’sche Traumszenario eines Austritts Frankreichs aus der Europäischen Union ist vielleicht mehr als eine Romanfantasie.
Doch Frankreich ähnelt nicht einzig Houellebecq. Es erkennt sich auch in einem anderen, ebenso leidenschaftlichen Kritiker der Verhältnisse: Emmanuel Macron.
Im Präsidentschaftswahlkampf 2017 rief Macron die Franzosen auf, ihre Träume nicht preiszugeben. «Denen, die an nichts mehr glauben — den Zynikern, Defätisten und Niedergangs-Propheten ringsum —, sagen wir: Das Beste liegt vor uns!» Es ist einer der Schlüsselsätze zum Verständnis des Rätsels Macron, vorgetragen in einem Lyoner Sportstadium.2
Er hatte — und hat noch heute — einen glaubwürdigen Plan: Frankreichs Wirtschaft dem Wettbewerb zu öffnen und im Gegenzug Europa nach außen zu stärken, auf dass die EU mit aller Macht die Unternehmen, die Menschen und die europäische Identität schütze. Aus dem «Markteuropa» soll ein «Machteuropa» werden. Denn ein bloßer Markt kann weder die Wohlfahrt der Europäerinnen und Europäer noch ihr Vertrauen in die Demokratie sichern.
Aus dem Stand heraus und geradewegs durch die neue Mitte überflügelte Monsieur «Weder-links-noch-rechts» die Bewerber aller etablierten Parteien. Sein Appell an den Mut zur Hoffnung, der in den Franzosen schlummert genau wie die Lust am Pessimismus, brachte ihn in Frankreich an die Macht und in Europa ins Scheinwerferlicht. Am Tag seines Amtsantritts als der achte Präsident der Fünften Republik sagte er: «Frankreich hat entschieden, der Aufklärung nicht den Rücken zu kehren, sondern sich der Zukunft zuzuwenden.»
Was ist wirklich neu an der politischen Philosophie des Mannes, der eine Politik jenseits aller Lager predigt und die heutige Debatte als eine Auseinandersetzung zwischen reaktionären Nationalisten und progressiven Europäern zu ordnen versucht? Wie erklärt sich, dass Macron die Republik durch den globalen Kapitalismus, den islamistischen Terror und die neue Identitätspolitik amerikanischer Prägung zugleich gefährdet sieht? Welche Politik verfolgt Macron, seit er im Machtzentrum angekommen ist? Hat er Frankreich revolutioniert und Europa neu gegründet, wie er es als Kandidat gelobte? Und die Präsidentschaftswahl im April 2022 wirft die Kernfrage auf: Träumen die Franzosen Macrons Traum?