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DER HEGELIANER

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Tatendrang ist eine weitere Eigenschaft des Emmanuel Macron, die ihn zum Romanhelden qualifiziert. Ursprünglich wollte der Junge aus Amiens Schriftsteller werden.15 In Frankreich wird dem erfolgreichen Intellektuellen oder Künstler zuteil, was in den Vereinigten Staaten dem Selfmade-Milliardär vergönnt ist: der sichere Weg zum Einzug in das Pantheon der Geschichte der Nation.

Man stelle sich vor: Bis zu einer Million Menschen kamen im Dezember 2017 in den Straßen von Paris zusammen, als der Gedenkgottesdienst für die Rocklegende Johnny Hallyday in der Pfarrkirche Madeleine abgehalten wurde. Weitere 15 Millionen verfolgten die Live-Übertragung im Fernsehen. Dass Hallyday Jahre zuvor in die Schweiz gezogen war, um Steuern zu sparen, war vergeben und vergessen.

Die 40 Mitglieder der Académie française, jener Institution, die seit 1635 die französische Sprache «pflegen» soll und den Inhalt des französischen Wörterbuchs bestimmt, werden buchstäblich «les immortels» («die Unsterblichen») genannt. Die Aufnahme ist die Krönung einer intellektuellen Karriere und in erster Linie Schriftstellern und Philosophen vorbehalten. Unsterblichkeit und ungeteilte Bewunderung erlangt man in Frankreich durch kulturelles Schaffen, seltener als Politikerin oder Politiker, und schon gar nicht, indem man Geld verdient.

Denn Kultur ist in Frankreich nicht Nebensache, sondern allgegenwärtig und alltäglich. Man kauft seinen trendigen deux-pièces (Zweiteiler) bei Zadig & Voltaire, den man dann beim Hamburgeressen im Take-away Le Flaubert mit Ketchup bekleckert, worauf man ihn im Kleinwagen Citroën Picasso zur Kleidereinigung Molière bringt. Bäckereien nennen sich in Anwandlung an Marcel Proust schon mal «Auf der Suche nach dem verlorenen Brot». Jeder Politiker, selbst ein Sarkozy oder eine Le Pen, will kultiviert erscheinen. Während der Gelbwesten-Krise debattiert Macron mit 64 Intellektuellen, vom Physik-Nobelpreisträger Serge Haroche bis zur Glücksökonomin Claudia Senik, live übertragen vom Radiosender France Culture.

Der Stil, die Sprache, die Umgangsformen zählen. Auf den Profilen der Internet-Dating-Plattform Tinder schreiben nicht wenige, das Gegenüber müsse bitte schön die französische Grammatik und den spielerischen Umgang mit der Sprache beherrschen. Das TV-Duell vor der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen 2017 gewann Macron nicht nur, weil Le Pen vor laufender Kamera inhaltlicher Fehler überführt wurde, sondern auch, weil sie absichtlich etwas vulgär auftrat. Es sind oft die feinen Unterschiede, die entscheidend sind. Schließlich war es der Franzose Pierre Bourdieu, der das Konzept des «kulturellen und sozialen Kapitals» in die Soziologie einführte und damit den Gedanken in die Welt setzte, dass Ungleichheit nicht nur eine Frage der Verteilung materieller Mittel sei.

In der Kulturnation Frankreich versucht sich auch Macron als Autor. Drei Bücher hat er angeblich bislang geschrieben. Als 19-Jähriger verfasste er einen ersten Roman über den spanischen Eroberer des Aztekenreiches, Hernán Cortés. Das zweite Werk handelt laut Aussage Brigitte Macrons von einer «enigmatischen, älteren Dame».16 Ein drittes Buch soll Macron über sein Leben geschrieben haben. Als Präsidentschaftskandidat dachte er darüber nach, Letzteres zu veröffentlichen. Macrons Berater sollen ihm jedoch davon abgeraten haben. Das Buch habe nicht unbedingt «literarische Qualitäten».17

Macrons erste Bücher bleiben also unter Verschluss. Und auch seine ursprünglich angepeilte Karriere als Intellektueller kommt anfangs nicht in die Gänge. Zweimal scheitert er an der Aufnahmeprüfung zur École normale supérieure (ENS), der Kaderschmiede der französischen Akademiker. Er sei abgelenkt gewesen und habe zu viel Zeit mit Brigitte verbracht, entschuldigt sich Macron heute. In Wahrheit versagte er im Fach Mathematik. Faute de mieux studiert Macron an der Pariser Sciences Po Poitik und Philosophie in Nanterre, wo er seinen philosophischen Lehrmeister Paul Ricœur kennenlernt.

Der in Frankreich hoch verehrte Giacomo Casanova schreibt in seinen Erinnerungen Aus meinem Leben: «Wenn du nichts getan hast, was wert ist, aufgeschrieben zu werden, so schreibe wenigstens etwas, was wert ist, gelesen zu werden.»18 Bei Macron ist es umgekehrt: Er muss handeln, um Geschichte zu schreiben. Und er glaubt, vom Zeitgeist getragen zu werden.

Für seine erste große öffentliche Rede 2016 wählte der Präsidentschaftskandidat Macron die Stadt Orléans und das Datum des 8. Mai. An dem Tag wird der Sieg von Jeanne d’Arc über die Engländer 1429 gefeiert, die Orléans belagert hatten. Macron erklärte: «Die Franzosen brauchen Jeanne d’Arc, denn sie sagt uns, dass unser Schicksal nicht vorbestimmt ist.» An anderer Stelle präzisiert Macron: «Die große Aufgabe liegt darin, aus der Unbedeutsamkeit auszubrechen. Seit 30 Jahren leben wir in einer Art schlecht verdautem Postmodernismus. Wir müssen wieder dazu übergehen, etwas aufzubauen, und dabei auch dafür geradestehen, dass ein Teil der Entscheidungen eindeutig und unilateral ist.»

Macron ist ein Kind der Aufklärung, zu der er sich immer wieder öffentlich bekennt. Sein Glaube an ihre Ideale hat beinahe religiöse Züge: Ratio, Autonomie und Voluntarismus sind für ihn die Treiber des «Triumphs der Hoffnung».

Einer fortschrittsskeptischen Aufklärungskritik hält Macron unbeirrbaren Optimismus entgegen. Der etwas in Vergessenheit geratene amerikanische Schriftsteller Saul Bellow schrieb 1983 nach einem Paris-Besuch: «Die Nachkriegsphilosophie in Frankreich, übernommen von Deutschland, ist wenig erbaulich. Marxismus, Eurokommunismus, Existentialismus, Strukturalismus und Dekonstruktion. Sie haben nicht das Potenzial, die französische Zivilisation wiederherzustellen.»19

Gut ein halbes Jahrhundert später würde Macron diese Beobachtung unterschreiben. «Frankreich ist kein zynisches Land, doch die Eliten glauben das. Frankreich ist nicht dafür gemacht, ein postmodernes Land zu sein», sagt der Präsident und verneint keineswegs, dass die heutige Welt voller realer Enttäuschungen sei.20 Die kritischen postmodernen «Dekonstruktivisten» hätten sehr wohl Schwachstellen des Aufklärungsversprechens beleuchtet. Aber die Postmoderne habe kein eigenes konstruktives Bild der Rolle des Menschen in der Welt geschaffen. Eine postmoderne «Haltung» helfe nicht weiter. Macron macht sie gar für einen wachsenden Relativismus und Fatalismus in den Eliten und der Gesellschaft verantwortlich, die Frankreich lähmen. Es nähre nur die Resignation, der Politik und dem Individuum die Möglichkeit abzusprechen, die Welt zu verbessern.

Macron könnte im Sinne Odo Marquards als ein «Weigerungsverweigerer» bezeichnet werden. Dem Philosophen zufolge gehört es zur Skepsis, Affirmationsverbote zu übertreten. Das kleine «Ja»-Sagen sei schwieriger als das große «Nein»-Sagen.21 Macron sagt «Ja» und handelt entsprechend. «Wenn wir das Land zum Erfolg führen und in der Kontinuität unserer Geschichte Wohlstand im 21. Jahrhundert schaffen wollen, müssen wir handeln. Wir tragen die Lösung in uns», schreibt er in Révolution.22 Handeln, auch wenn es bedeutet, Risiken einzugehen und sich die Hände schmutzig zu machen. Autorin Virginie Despentes kommentierte bei Amtsantritt Macrons im Mai 2017: «Ich hoffe, er wird kapieren, dass die Leute nahe daran sind, zu explodieren, dass sie verzweifelt sind. An seiner Stelle würde ich so wie Chirac gar nichts machen.»23 Der Präsident sagt dann vier Monate später, im September: «Wenn ich es nicht schaffe, Frankreich radikal umzubauen, wird es schlimmer, als wenn ich überhaupt nichts mache.»

Gilt die Weisheit des berühmten Leoparden von Giuseppe Tomasi di Lampedusa, dass sich alles ändern müsse, damit alles so bleibe, wie es ist? Oder aber jene Sentenz aus Despentes’ Romantrilogie Das Leben des Vernon Subutex, dass am besten alles gleichbleiben solle, damit es nicht noch schlimmer werde?

Wenn Macron an seine Erfolgschance glaubt, dann weil er sein Schicksal als Teil einer größeren Geschichte, ja einer Vorsehung betrachtet. Dem Schriftsteller Emmanuel Carrère sagt er Sätze wie: «Ich glaube, unser Land steht am Rande des Abgrunds und könnte sogar stürzen. Wenn wir nicht an einem tragischen Moment unserer Geschichte wären, wäre ich nie gewählt worden.» In einem Interview mit der Literaturzeitschrift La Nouvelle Revue Française beteuert er: «Mich stimmt paradoxerweise optimistisch, dass die Geschichte wieder tragisch wird. Europa wird nicht mehr geschützt sein, wie es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Fall war. Dieser alte Kontinent von Kleinbürgern, die sich im materiellen Komfort geborgen fühlen, ist daran, ein neues Abenteuer zu beginnen, in dem die Tragik zurückkommt. … Und in diesem Abenteuer können wir wieder zu einem neuen Elan finden, dem sich auch die Literatur nicht entziehen wird.»24

Abgesehen davon, dass Macron von «Kleinbürger-Mentalität» wenig hält, zeigt das Zitat vor allem eins: Er glaubt im Sinne des Historikers Fritz Stern an die Offenheit der Geschichte. Für die Handelnden gibt es Raum, folgenreiche (Fehl-)Entscheidungen zu treffen. Wenn Bundeskanzler Helmut Kohl einst vom Zipfel des Mantels der Geschichte sprach, den er ergriffen habe, so geht es bei Macron mindestens um den halben Mantel. Die Grenze zwischen Vertrauen in die eigene Handlungsmöglichkeit und Größenwahn ist fließend.

So viel Verantwortung könnte Macron einschüchtern. Doch der Präsident sieht sich nicht nur als Held des eigenen National- und Europa-Epos, sondern auch als Teil einer Vorsehung. «Man ist immer nur das Instrument von etwas, das uns überragt», sagt der frühere Student der Philosophie,25 der seine Diplomarbeit mit dem Titel «Die Vernunft in der Geschichte» über Georg Wilhelm Friedrich Hegel schrieb.

In Interviews beruft er sich immer wieder auf den Denker des deutschen Idealismus und dessen Vorstellung von der «List der Vernunft». Hegel meint damit, dass «Fortschritt» in der Menschheitsgeschichte getrieben werde von einer Vielzahl größerer und kleinerer Handlungen, wobei die Akteure sich der Tragweite ihrer Entscheidung gar nicht bewusst seien. Verkürzt gesagt ist die «List der Vernunft» das Pendant zur Theorie der «unsichtbaren Hand» auf dem freien Markt: eine Art metaphysische Kraft, die zur richtigen Verteilung wirtschaftlicher Güter in dem einen Fall und zum Fortschritt der Menschheit im anderen Fall beiträgt.

Während seiner Präsidentschaftskampagne setzte Macron genau auf diesen Fortschrittsglauben, was ihm den Spott seiner Konkurrenten eintrug. Die Franzosen sollten nicht auf Macrons «halluzinogene Pilze» hereinfallen, warnte Jean-Luc Mélenchon, und der Mitterechts-Kandidat François Fillon schimpfte Macron einen «Guru». Am Ende aber gelang Macron ein erstaunlicher Kniff: Die Franzosen mögen nur zu gern jammern, aber Opfer wollen sie auf keinen Fall sein. Wenn Macron Frankreichs Pessimismus und Opferhaltung anprangerte, traf er bei seinen Landsleuten einen wunden Punkt.

Macrons philosophisch-ideologischer Diskurs verdrängte die handfestere politische Debatte über Verteilungskämpfe und Identitätspolitik, die seine Konkurrenten entfachen wollten. Die Optimismus-Predigten verfingen im ersten Wahlgang bei gut einem Viertel der Wählerinnen und Wähler, die nach Hoffnung und erstarktem Selbstvertrauen dursteten. Genug, um den Emporkömmling in den Élysée-Palast zu bringen und damit in das politische Amt, das in Europa mit der größten Machtfülle ausgestattet ist. Nun kann er sein Epos schreiben.

Emmanuel Macron

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