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WAHRNEHMUNG
ОглавлениеWir können die Kontinuität auch durch den mentalen Faktor der Wahrnehmung fördern. Im Abhidhamma gilt starke Wahrnehmung als eine der unmittelbaren Ursachen für die Entstehung von Achtsamkeit. Wahrnehmung ist die mentale Qualität des Erkennens. Sie wählt die Merkmale eines bestimmten Objekts aus, durch die es sich von anderen unterscheidet, und wendet dann ein Konzept wie »blau oder rot«, »Mann oder Frau« an, um es für zukünftigen Gebrauch abzuspeichern. Angenommen, wir hören ein Geräusch, dann weiß unser Bewusstsein einfach um das Geräusch. Die Wahrnehmung erkennt es jedoch, benennt es mit »Vogel« und speichert dieses Konzept für das nächste Mal, wenn wir diese Art von Geräusch hören. Dann wird uns zwar nicht unbedingt gleich das Wort »Vogel« einfallen, aber wir werden eine Art vorsprachlichen Erkennens in uns haben, dass dieses Geräusch zu einem Vogel gehört.
All dies führt zu der interessanten Frage, inwieweit wir uns in der Praxis und in dem Verständnis unserer Meditation mit Konzepten befassen. Einerseits möchten wir eine Achtsamkeit entwickeln, die reines Erkennen ermöglicht – wozu vermutlich ein Geisteszustand nötig ist, der nicht von Konzepten überlagert wird. Andererseits ist der Faktor der Wahrnehmung mit allen daran hängenden Konzepten eine unmittelbare Ursache für die Entstehung von Achtsamkeit.
Die Lösung für diese scheinbar widersprüchlichen Ansichten liegt in einem tieferen Verständnis der Wahrnehmung. Wahrnehmung gehört zu jedem Augenblick des Bewusstseins. Geschieht Wahrnehmung ohne eine stark entwickelte Achtsamkeit – was die Art ist, wie ein ungeübter Geist gewöhnlich durch die Welt geht –, dann erkennen und erinnern wir nur die oberflächliche Erscheinung der Dinge. Im Moment des Erkennens geben wir dem, was sich zeigt, einen Namen oder ordnen ihm ein Konzept zu. Damit beschränken, verschleiern und verfärben wir unsere Erfahrungen.
Ein Beispiel für solch ein beschränktes Wahrnehmungspotenzial zeigt sich in der Geschichte, die mir eine Freundin von ihrem Sohn Kevin erzählt hat. Als Kevin sechs Jahre alt war, stellte die Lehrerin in der Schule eine einfache Frage: »Welche Farbe hat ein Apfel?« Die Schüler antworteten: »Rot«, »Gelb«, oder: »Grün.« Aber Kevin sagte: »Weiß.« Die Lehrerin versuchte, durch weitere Fragen und Bemerkungen Kevin zu einer richtigen Antwort zu bewegen. Kevin ließ sich jedoch nicht umstimmen und sagte schließlich mit einer gewissen Frustration: »Jeder Apfel ist doch innen immer weiß!«
Wahrnehmung kann auch der Stärkung von Achtsamkeit und Gewahrsein dienen. Konzepte können unsere Sicht auf die Dinge nicht nur einengen – richtig angewandt, können sie die momentane Erfahrung auch in ein Licht rücken, welches eine tiefere und sorgfältigere Betrachtung ermöglicht. Es ist, als würde man ein Bild rahmen, um es besser sehen zu können. Ein buddhistischer Mönch namens Ñāṇananda nannte es: »Um des höheren Zwecks der Entwicklung von Weisheit willen Konzepte einsetzen, die dann dabei selbst transzendiert werden.«