Читать книгу Achtsamkeit Bd. 1 - Joseph Goldstein - Страница 5

Оглавление

Einleitung

Achtsamkeit ist eher ein gewöhnliches Wort. Es hat nicht das spirituelle Prestige von Worten wie Weisheit, Mitgefühl oder Liebe und ist erst in letzter Zeit mehr in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. In meiner Jugend in den 1950ern hatte ich das Wort nie gehört. Die 1960er-Jahre hatten ihr ganz eigenes Vokabular. Erst Anfang der 1970er kam der Begriff der Achtsamkeit auf. Es begann damit, dass immer mehr Leute in Meditations-Retreats von diesem Konzept – und der Praxis – erfuhren. Durch Programme wie MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction, Achtsamkeitsbasierte Stressminderung), MBCT (Mindfulness-Based Cognitive Therapy, Achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie), Achtsamkeitsprogramme in Schulen, an Universitäten und in Unternehmen sowie durch Forschungsprojekte in modernen Laboren der Neurowissenschaft gewann das Potenzial, welches dieser Fähigkeit des Geistes zur Präsenz, zur Wahrnehmung des gegenwärtigen Geschehens innewohnt, immer mehr an Glaubwürdigkeit und Interesse.

Um nur ein Beispiel zu geben: Allen Patienten des »Duke Integrative Medicine«-Programms der Duke University werden die Beziehung zwischen Körper und Geist sowie das Konzept der Achtsamkeit vorgestellt. Der Gründer des Programms, Jeffrey Brantley, M.D., sagte: »Achtsamkeit bildet die Grundlage von allem, was wir tun. Wir glauben, je achtsamer Menschen angesichts gesundheitlicher Herausforderungen sein können, desto gesünder werden sie sein.«1

Vor ein paar Jahren entwickelte eine Freundin von mir ein Programm, mit dem Zweitklässlern die Achtsamkeit nahegebracht wurde. Diese jungen Praktizierenden kommentierten ihre Erfahrungen so:

»Achtsamkeit hilft mir, bessere Noten zu bekommen.«

»Achtsamkeit hilft mir, mich zu beruhigen, wenn ich mich aufrege. Sie hilft mir auch im Sport und abends beim Einschlafen.«

»Danke, dass Sie uns Achtsamkeit beigebracht haben. Achtsamkeit hat mein Leben verändert.«

»Achtsamkeit beruhigt mich wirklich.«

»Achtsamkeit ist das Beste, was ich in meinem Leben gemacht habe.«

»Ich liebe Achtsamkeit.«

Angesichts der großen Verbreitung, die Achtsamkeit derzeit erfährt, erscheint es hilfreich, ihre Wurzeln zu ergründen. Woher stammt diese Praxis? In welchem Umfang und in welcher Tiefe kann sie angewendet werden? Wie können wir die transformierende Kraft der Achtsamkeit verstehen, die uns aus den traumähnlichen Mustern unseres Lebens aufzuwecken vermag? Das vorliegende Buch dient zwar vorrangig der Vertiefung des Verständnisses der Achtsamkeit und als ein Leitfaden für die Praxis, doch der Umfang und die Tiefe dieser Lehren können auch im täglichen Leben neue Möglichkeiten und subtile Ebenen der Umsetzung von Achtsamkeit eröffnen. So wie die Wissenschaft und das Ingenieurwesen der Raumfahrt zu vielen neuen Erfindungen für die Allgemeinheit geführt haben, so kann auch das aus der Meditation hervorgehende klassische tiefe Verständnis zu neuen Praktiken und transformierenden Erkenntnissen über unser Leben in der Welt führen.

Bei einem Abendessen bat mich einmal jemand, mit wenigen Worten zu beschreiben, was Achtsamkeit sei. Phrasen wie »Das Leben im Augenblick« oder »Gegenwärtig sein« mögen zwar einen ersten Eindruck von Achtsamkeit vermitteln, doch die Frage »Was ist Achtsamkeit?« ist ein bisschen so, als würde man fragen: »Was ist Kunst?«, oder: »Was ist Liebe?«

Um wirklich die Tiefen von Achtsamkeit auszuloten, müssen wir ein wenig ausholen, und das erfordert Zeit. Die Erfahrung von Achtsamkeit umfasst eine Fülle von Bedeutungen und Nuancen, die unser Leben auf unvorstellbare Weise bereichern können. Dieses Buch ist ein Versuch, diese Schätze zu heben.

Im Satipaṭṭhāna Sutta, der Lehrrede des Buddha über die vier Wege, Achtsamkeit zu entwickeln und zu verankern, finden wir eine große Bandbreite von Anregungen, wie wir den Geist-Körper-Prozess verstehen, und verschiedene Methoden, wie wir den Geist von den Ursachen von Leiden befreien können. Es geht dabei nicht darum, sie alle umzusetzen, und ganz sicher nicht alle gleichzeitig. Der Buddha selbst gab je nach Temperament und Neigung seiner Zuhörer unterschiedliche Anweisungen. Doch wenn wir einmal eine grundlegende Praxis haben, die zu uns passt und uns inspiriert, dranzubleiben, können wir unser Verständnis vertiefen, indem wir das Feld unseres Hinterfragens erweitern. Dabei kann es passieren, dass uns einzelne Anweisungen dieser Lehrrede zu unterschiedlichen Zeitpunkten besonders berühren und unsere Praxis auf ungeahnte Weise beleben.

Der Buddha beginnt diese Lehrrede mit einer erstaunlich kühnen und unzweideutigen Behauptung: »Dies ist der direkte Weg zur Läuterung der Wesen, zur Überwindung von Kummer und Klagen, zum Verschwinden von Schmerz und Trauer, zum Erlangen des wahren Weges, zur Verwirklichung von Nibbāna – nämlich die vier Grundlagen der Achtsamkeit.«2

Angesichts des Umfangs und der Bedeutung dieser Behauptung – dies ist der direkte Weg zur Befreiung – ist es nützlich, diese Lehrrede genauer zu betrachten und unser Verständnis anhand der eigenen Worte des Buddha zu vertiefen. Beim Betrachten des Suttas stellen wir fest, dass alle Lehren des Buddha darin enthalten sind. Im Zusammenhang mit jedem der vier Wege zur Entwicklung und Verankerung der Achtsamkeit lehrt der Buddha verschiedene Methoden und Techniken, die den Geist befreien. Im Verlauf der Lehrrede legt er diesen erstaunlichen Weg zum Erwachen vollständig dar. Verschiedene Traditionen des Vipassanā betonen die eine oder die andere Übung, aber jede von ihnen reicht aus, uns zum Ende des Wegs zu bringen. Jede Tür des Dharma, die wir öffnen, führt uns zu allem anderen.

EIN PAAR ANMERKUNGEN ZUM TEXT

Ein paar Worte zur Verwendung der Pali- und Sanskrit-Begriffe: Pali stammt von den Dialekten ab, die in Nordindien zur Zeit des Buddha und in den nachfolgenden Jahrhunderten gesprochen wurden. Sanskrit war die heilige und literarische Sprache des alten Indien.

Der Buddha legte Wert darauf, den Dharma so zu lehren, dass ihn auch die einfachsten Menschen verstehen können, und sprach deshalb in Pali.

Im Laufe der Jahrhunderte, während sich der Buddhismus entwickelte, wurden jedoch viele Lehren und Abhandlungen in Sanskrit verfasst, und viele der uns vertrauten buddhistischen Begriffe stammen aus dieser Sprache. Beide Sprachen sind eng verwandt, wie aus der Ähnlichkeit folgender Begriffe deutlich wird: Dharma/Dhamma, Sutra/Sutta, Bodhisattva/Bodhisatta, Nirvāna/Nibbāna. Zur leichteren Lesbarkeit verwende ich manchmal die bekannteren Sanskrit-Worte, außer wenn ich mich direkt auf Pali-Texte beziehe. So stehen manchmal beide Formen auf derselben Seite. Außer den sehr gebräuchlichen sind die meisten der Pali- und Sanskrit-Begriffe kursiv gesetzt.

Das Pali-Wort Bhikkhu wird in der Regel mit Mönch übersetzt, doch in den Kommentaren finden wir eine umfassendere Definition, welche uns alle, die wir auf dem Weg sind, einbezieht. Im Zusammenhang mit dem Satipaṭṭhāna Sutta steht Bhikkhu für jeden Menschen, der sich ernsthaft darum bemüht, die Praxis der Lehren zu verwirklichen: »Wer immer diese Praxis annimmt …, ist hier mit dem Begriff Bhikkhu gemeint.«

In manchen Übersetzungen der Suttas habe ich das maskuline Pronomen er durch eine geschlechtsneutralere Formulierung wie man ersetzt. Viele dieser Abhandlungen waren an die Mönche gerichtet, doch für westliche Leser und Leserinnen scheint mir diese andere Ausdrucksform, die sie einbezieht, nützlicher. Viele der Auszüge aus dem Satipaṭṭhāna Sutta sind Anālayos Buch Satipaṭṭhāna: Der direkte Weg entnommen. Im Anhang A finden Sie seine vollständige Übersetzung dieses Suttas. Manche Zitate habe ih unter Zuhilfenahme anderer Übersetzungen auch angepasst, um bestimmte Aspekte der Lehre zu betonen. Darauf wird jeweils in den Anmerkungen hingewiesen.

Dieses Buch folgt zwar dem Aufbau des Satipaṭṭhāna Sutta und kann der Reihe nach durchgelesen werden, doch die meisten Kapitel sind aus sich selbst heraus verständlich und vollständig. Sie können daher auch im Inhaltsverzeichnis nachschauen, welche Themen für Sie interessant sind, und diese Kapitel einzeln erkunden.

Beim Lesen der Worte des Buddha wird oft ein bestimmter Aspekt unserer kulturellen Aufmerksamkeitsstörung deutlich. Wenn ich die Suttas lese oder den Abhandlungen zuhöre, merke ich, dass mein Geist dazu neigt, Wiederholungen zu überspringen. »Ja, kenne ich schon«, denkt er dann und eilt zum nächsten Satz oder Absatz. Vielleicht sind diese Wiederholungen einfach Elemente der mündlichen Überlieferung, aber es könnte auch etwas anderes dahinterstecken: Womöglich versucht uns der Buddha mit diesen Wiederholungen zu sagen, dass dies wichtige Qualitäten des Geistes sind, die wir in unserer Praxis und in unserem Leben entwickeln und stärken sollten.

Können wir diese Worte des Buddha so lesen, als würde er direkt zu uns sprechen? Wenn uns das gelingt, haben sie die Kraft, uns neue Tore des Verstehens und neue Möglichkeiten der Freiheit zu eröffnen.

1. Kelly McGonigal,»Healing the Whole Person«, Shambhala Sun, Januar 2011, 60.

2. Bhikkhu Ñāṇamoli und Bhikkhu Bodhi, Übers., The Middle Length Discourses of the Buddha (Somerville, MA: Wisdom Publications, 1995), 145. Dt.: Die Lehrreden des Buddha aus der Mittleren Sammlung, übers. von Mettiko Bhikkhu (Kay Zumwinkel), Jhana Verlag, Uttenbühl, 2. Auflage 2012, Nr. 10. http://www.palikanon.com/majjhima/zumwinkel/m010z.html.

Achtsamkeit Bd. 1

Подняться наверх