Читать книгу Anders ist eine Variation von richtig - Josephin Lorenz - Страница 8

Tiefgreifende Entwicklungsstörung, Wrong-planet-Syndrom oder doch eine Superkraft?

Оглавление

Viele dieser Erwachsenen stören sich sehr an dem Begriff »Autismus-Spektrum-Störung«. Denn für sie ist ihre Wahrnehmung keine falsche, sondern eben eine andere Art der Wahrnehmung. Die Klimaaktivistin Greta Thunberg geht recht offen mit ihrem Asperger-Autismus um. »Ich habe Asperger, und das bedeutet, dass ich manchmal ein wenig anders bin als die Norm«, schrieb sie auf Facebook. »Doch unter den richtigen Umständen ist es eine Superkraft, anders zu sein.«

Für die Weltgesundheitsorganisation ist es eine psychische Krankheit, die Experten sprechen von einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung des Gehirns. Es wird von einer fehlenden »theory of mind« ausgegangen – der Fähigkeit, sich in ein Gegenüber hineinzuversetzen, die autistische Klienten nicht entwickeln. All das klingt für Personen mit Autismus und ihre Eltern erschreckend, düster und abwertend. Denn tatsächlich konzentriert sich die Diagnose auf die Schwächen autistischer Menschen.

Auticon, eine Firma, die sich auf die Anstellung von Menschen aus dem Autismus-Spektrum spezialisiert hat, spricht von:

»Autismus ist kein Systemfehler, sondern ein anderes Betriebssystem.«

Fragt man Betroffene selber, so fühlen sie sich oft wie auf einem fremden Planeten. Den meisten fällt es schwer, zu anderen Menschen Kontakt aufzunehmen. Sie sind überempfindlich gegen Sinneseinflüsse – wie schmerzhaft gleißendes Licht, unerträglich lautes Stimmengewirr oder stechende Gerüche.

Dieses Gefühl, »wie vom anderen Planeten zu kommen«, wird in den meisten Fällen als negativ empfunden. Eigentlich wollen sie so sein wie die anderen und bemühen sich auch, durch ihr Verhalten nicht aufzufallen. Doch das gelingt ihnen meist nicht. Sie treten, wie Robin Schicha (2015) es in seinem Buch Außerirdische Reportagen vom Schulalltag beschreibt, »scheinbar in jedes Fettnäpfchen, das so auf dem Weg bereitsteht«.

Sie müssen sich die sozialen Regeln mühsam aneignen und erlernen sie nicht wie die anderen, intuitiv. Das wiederum löst bei ihnen das Gefühl aus, dass etwas an ihnen falsch sein muss. Denn alle anderen können ja offensichtlich ganz einfach mit diesen Regeln umgehen. Eigene Gefühle und Bedürfnisse werden unterdrückt. Oft haben diese Menschen deswegen nicht nur mit Schamgefühlen zu kämpfen, das zu sein, was sie sind, sondern auch mit der Furcht davor, das zu tun, was sie tun wollen. Es kommt vor, dass sie im Vorfeld eines möglichen Kontakts die Blicke der anderen als gegen sich gerichtet oder sogar als Verachtung interpretieren. Dieses Gefühl des Verachtetwerdens löst in den Betroffenen emotional fast immer eine Selbstentwertung aus – sie verurteilen dann bestimmte Eigenschaften und Bedürfnisse selbst und sehen sie nur noch negativ.

Hinzukommt, dass die Betroffenen sich mit ihrem »Anderssein« oft falsch verstanden fühlen. Ihr individuelles Verhalten wird in der Regel nicht wertschätzend als eine interessante Form der Bewältigung von Stress anerkannt. Im Gegenteil: Oft löst ihr Verhalten in Situationen, denen sie sich sowieso schon nicht gewachsen fühlen, im Umfeld zusätzlich Unfreundlichkeit oder sogar Abwehr aus. Das kann einen Teufelskreis von gegenseitiger Ablehnung und Zurücksetzung auslösen. Wenn ihr Verhalten dann von anderen als befremdlich empfunden und damit nicht anerkannt wird, leidet ihr Selbstwertgefühl enorm.

Donna Williams, Schriftstellerin und Künstlerin aus dem Autismus-Spektrum, beschreibt Autismus in ihrem Buch Wenn du mich liebst, bleibst du mir fern so (Williams 1994):

»Der Autismus ist etwas, das ich nicht sehen kann. Er hält mich davon ab, meine eigenen Wörter zu finden und zu benutzen, wenn ich es möchte. Oder er lässt mich all die Wörter benutzen und die albernen Dinge sagen, die ich nicht sagen will.

Der Autismus lässt mich alles gleichzeitig fühlen, ohne dass ich weiß, was ich fühle. Oder er schneidet mich davon ab, überhaupt etwas zu fühlen.

Der Autismus lässt mich die Wörter anderer Menschen hören, macht mich aber unfähig zu wissen, was die Wörter bedeuten. Oder er lässt mich meine eigenen Wörter sprechen, ohne dass ich weiß, was ich sage oder auch nur denke.«

Temple Grandin, eine führende Tierwissenschaftlerin in den USA, beschreibt ihre eigenen autistischen Wahrnehmungen so (Grandin 1997):

»Als ich klein war, waren auch laute Geräusche ein Problem. Sie fühlten sich oft an, als träfe der Bohrer eines Zahnarztes auf einen Nerv. Sie verursachten tatsächlich Schmerzen. Platzende Ballons erschreckten mich zu Tode, weil sich das Geräusch in meinen Ohren wie eine Detonation anhörte. Geringfügigere Geräusche, welche die meisten Menschen ausblenden können, lenkten mich ab. Als ich im College war, klang der Haartrockner meiner Zimmerkollegin wie ein startender Düsenjet …«

Auch Sean Barron (1998) beschreibt seine Wahrnehmung als Kind sehr eindrücklich:

»Mir ist klar, dass ich fast meine ganze Kindheit hindurch meine Mutter einfach nicht hörte. Ihre Bemühungen, geduldig und lieb zu mir zu sein, drangen einfach nicht bis zu mir durch. Ich schenkte ihren Wörtern genauso wenig Aufmerksamkeit wie dem Geräusch eines Wagens, der die Straße entlangfuhr. Ihre Stimme war lediglich Hintergrundgeräusch. Nur wenn sie anfing zu brüllen oder zu schreien, drang sie zu mir durch und holte mich für kurze Zeit aus meinem Schneckenhaus.«

Ähnliches beobachteten die Gehirnforscher Henry und Kamila Markram. Ihre persönlichen Erfahrungen mit ihrem autistischen Sohn ließen sie so lange forschen, bis sie eine für sie schlüssige Antwort auf die Probleme mit ihrem Sohn fanden. 2007 veröffentlichten sie erstmals ihre »Intense World Theory«. Diese Theorie beschreibt, dass autistische Personen ein überempfindliches Gehirn haben und im Gehirn der Betroffenen eine permanente Reizüberflutung stattfindet. Aus diesem Grund ziehen sich autistische Kinder in bestimmten Phasen der Entwicklung aus dem Sozialleben zurück. Die Konsequenzen sind Schwierigkeiten im Umgang mit den Reizen.

Neurowissenschaftler (Velazquez a. Galán 2013) konnten errechnen, dass die Gehirnaktivität bei autistischen Kindern im Ruhezustand durchschnittlich um 42 % höher liegt als bei den anderen.

Das Wissen, dass Menschen aus dem Autismus-Spektrum die Sinnesreize aus der Umwelt ganz anders verarbeiten, ist für mich als Therapeutin absolut wichtig. Wenn ein Kind extrem überlastet zu mir in die Therapiestunde kommt, mich anschreit, auf Sachen einschlägt oder auch sich selbst verletzt, ist es sehr hilfreich herauszufinden, was diesem Verhalten vorausgegangen ist. Was war los? Warum? Warum schreit, kratzt, beißt er/sie? (Siehe dazu Kapitel 5 »Das Wüte-Dings«)

2»Stimming« wird abgeleitet aus dem Englischen self-stimulating behavior = »sich selbst stimulierendes Verhalten« (s. auch Kap. 5).

Anders ist eine Variation von richtig

Подняться наверх