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Kapitel 10
ОглавлениеLyon, Frankreich
22. Juli 2012, 10:15 Uhr
Unterkunft
37 Tage bis zum internationalen Flugverbot
Marvin wachte mit leichten Kopfschmerzen auf, rieb sich die Stirn und sah die drei Flaschen Bier, die neben dem Bett auf dem Boden lagen. Er prustete laut, erhob seinen Körper und kramte aus dem Koffer die Kopfschmerztabletten heraus. Er nahm eine Cola aus der Minibar, öffnete diese und schmiss sich eine Tablette in den Rachen ein.
Zu seiner Verwunderung war es Viertel nach zehn, als er auf das Display sah. Aber er sah auch eine neue Nachricht und öffnete diese erwartungsfroh. Doch es war nicht Susann, sondern Yves.
›Guten Morgen, mein Freund. Ich bin im Labor. Yves‹
Er nickte und klickte auf den Chat von Susann. Er las sich den Nachrichtenverlauf mehrmals durch. Immer und immer wieder und war beschämt über das, was er geschrieben hatte. Innehaltend dachte er über die richtigen Worte nach.
›Guten Morgen. Ich bin gerade munter geworden, bestelle mir gleich ein Frühstück und fahre zu Yves. Ich wünsche dir einen schönen Tag.‹
Gespannt sah er auf das Telefon, aber nichts tat sich. Die Nachricht wurde nicht gelesen.
Scheinbar hat sie zu tun oder so. Sie ist ja arbeiten und hockt nicht wie du in einem Hotelzimmer und bestellt sich Essen ans Bett.
»Gute Idee mit dem Frühstück ans Bett«, sagte er zu sich selbst und orderte über die App seine Bestellung auf sein Zimmer.
Nach einem kleinen französischen Essen ging er ans Auto und rauchte genüsslich seine erste Zigarette, bevor er einstieg und losfuhr.
*
Das Navi führte ihn durch eine schöne, malerische Stadt. So wie immer, wenn er Proben holte. Nach einer viertel Stunde Fahrt erreichte er das Institut. Er parkte das Auto auf dem dortigen Parkplatz und lief den penibel gepflegten Schotterweg zum Hauptgebäude. Am Empfang gab er seinen Namen an und die Dame rief bei Yves an, der verlauten ließ, dass er ihn abholte.
Er setzte sich auf die Sitzreihe gegenüber des Empfangstresens und zückte das Handy aus der Tasche. Keine Nachricht von Susann. Etwas enttäuscht steckte er es wieder in die Hosentasche und sah Yves langsam die Treppe runterkommend.
»Herzlich willkommen, mein Freund«, begrüßte er ihn mit französischem Akzent und kam mit ausgestreckten Armen auf ihn zu.
Marvin erhob sich grinsend und wurde herzlichst von seinem Freund begrüßt.
Der entgegentretende Atem prallte auf Marvin ein und drang durch seine Nase in seinen Körper. Sofort teilte sich das Virus in seinen Bahnen auf und suchte sich in Windeseile seinen Weg zu seinem Gehirn.
»Wie immer ein harter Ritt bis hier runter«, erwiderte Marvin lachend und klopfte ihm beherzt auf den Rücken. »Und euer Bier ist scheiße.«
Beide Männer lachten herzlich und schritten gemeinsam die Treppe nach oben zu seinem Büro.
»Ich habe dir schon immer gesagt, du sollst in Frankreich den Wein genießen und nicht das Bier. Willst du einen Kaffee?«
»Gern!«
Nachdem Yves ihm einen Kaffee in der Teeküche zubereitet hatte, gesellten sie sich in den Konferenzraum. Über eine Glasfront schaute Marvin in die Forschungsräume des S4 Labors. Vorsichtig nippte er an seiner Tasse.
Verwundert beobachtete Marvin, wie sie eine Laborbank ausbauten. »Was ist denn da passiert?«, fragte er.
»Mir ist gestern eine Probe umgefallen«, antwortete Yves und gesellte sich zu ihm. »Ich musste die Bank dekontaminieren.«
Verblüfft blickte Marvin ihn an. »Meine Proben?«
Yves nickte. »Es sind leider nur neun Proben, statt zehn. Aber das sollte dennoch reichen. Ich habe es bereits in den Papieren geändert.«
»Ja, für die nächsten zwei Jahre«, schnaufte er missmutig und setzte sich patzig an den Tisch.
»Was ist los? War das Frühstück wieder miserabel?« Marvin sah ihn grummelig an. »Komm, ich lade dich ein«, bot Yves an und lächelte.
*
Während sie durch die vollbesetzte Cafeteria schlenderten, zog Yves einen unsichtbaren Nebelschleier des Virus hinter sich her. In einer fächerartigen Form verharrte die Wolke und legte sich auf jeden, der durch sie hindurch ging. Als sie ein paar Studenten von der Dachterrasse ins Innere hinein ließen, stand Yves unter der Lüftung, die die winzig kleinen Partikel aufsaugte wie ein Staubsauger. In dezimierter Form verteilte die Anlage die Teilchen im Raum.
Sie fanden ein schattiges Plätzchen und Marvin las leise fluchend die Speisekarte.
Yves lugte hinter seiner Karte hervor und beobachtete ihn. »Ich empfehle dir die Croissants und das Rührei«, wandte er schmunzelnd ein.
Augenrollend legte Marvin die Karte nieder.
»Du fluchst jedes Mal über die Speisekarte. Frag doch einfach mich. Oder wurdest du je von mir enttäuscht von dem, was ich dir empfohlen habe?«
Der deutsche Virologe schüttelte den Kopf. »Damit mein Magengeschwür wieder Futter kriegt, wa?«
»Du hast ein Magengeschwür?«, wiederholte Yves geschockt.
»Nur ein kleines«, wiegelte er lapidar ab. »Was jedoch wachsen wird, wenn sie das Projekt einmotten.«
Einsichtig nickte Dr. Roux. »Wann haben sie es dir gesagt?«
»Letzte Woche, als ich erfuhr, dass ich die letzten Proben holen soll«, brummte er betrübt. »Die ganze Arbeit war umsonst. Dabei hatten wir noch nicht mal mit dem Heilmittel angefangen.«
»Ohne finanzielle Mittel wird es schwierig, dieses Mammutprojekt am Laufen zu halten«, erwiderte Yves und bestellte beim Kellner das Essen.
Während der Franzose mit der Bedienung sprach, atmete dieser Yves Atem ein. In Windeseile setzte sich der Virus auf dessen Schleimhäute. Der Angestellte nahm den schlummernden Gast mit, ohne von ihm zu wissen.
»Ich war auch nicht begeistert, als sie mir davon erzählten.« Yves wandte sich Marvin mit wehleidigem Blick zu. »Wir sind noch lange nicht dort angekommen, wie es im Protokoll steht. Wir benötigen die doppelte Zeit, um alles in ihrer komplexen Form runter zu fahren. Dieser Virus muss entschärft werden.«
Marvin beugte sich geheimnisvoll nach vorn. »Wollen wir nicht auf eigene Faust nach einem Heilmittel suchen?«
Yves grinste und sah ihn kopfschüttelnd an. »Wenn das rauskommt, sind wir am Arsch. Das weißt du genauso gut wie ich.«
Schwer seufzend sah sich Marvin um, zückte sein Smartphone und sah keine Nachricht von Susann. Betrübt legte er es neben sich und sah immer wieder auf das Display.
»Warum macht dich das so fertig? Es ist doch nur ein Job und es gibt noch viel mehr, an denen wir arbeiten können«, hakte Yves verwundert nach.
»Klingt es bescheuert, wenn man zu einem Virus eine Beziehung aufgebaut hat?«
Yves schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Wenn man sich so reinhängt wie du, dann kann das passieren. Ich habe es mit erschaffen. Es ist wie ein Kind, welches nun hyperaktiv geworden ist und mit allen Mitteln beruhigt werden muss. Aber das ist nicht alles, was dir Kummer bereitet. Was ist los?«
Marvin sah nervös auf sein Handy. Es tat sich nichts. »Ich habe seit ein paar Wochen eine neue Assistentin bekommen. Eine junge Frau, zwanzig Jahre jünger als ich und-«
»Du bist verliebt, alter Freund!«, unterbrach er ihn mit leuchtenden Augen. »Erzähl‘ mir alles von ihr!«
Schmunzelnd hielt Marvin inne und sah sie vor seinen Augen. »Sie hat ein wahnsinnig süßes Lächeln. Eine Traumfigur und die süßeste Stimme der Welt. Ich bin echt verschossen in sie und … Ich bin einfach zu verklemmt, ihr all das zu sagen, ohne mich komplett zu blamieren.«
»Oh mon amour, Marvin. Lass dem Mädchen Zeit. Sie wird sich melden, wenn die Zeit gekommen ist«, versicherte er mit einem warmherzigen Grinsen.
»Und wenn ich es versaut habe? Sie hat mir noch nicht geantwortet, als ich ihr heute Morgen schrieb.«
»Sie wird antworten.« Yves hielt einen Augenblick inne und wurde ernsthafter. »Ich kann nicht mehr weiter an diesem Projekt arbeiten. Zumindest nicht mehr aktiv im Labor.«
»Was? Du verlässt das Projekt? Aber mit wem von euch Franzmännern arbeite ich dann zusammen?«, regte er sich auf und Yves tätschelte ihm beruhigend die Hand.
»Im Hintergrund bin ich immer noch da. Nur haben sie letzten Monat MS festgestellt. Ich befinde mich gerade wieder in einem Schub. Deshalb ist die Probe gestern zu Bruch gegangen. Auf Dauer bin ich eine Gefahr für den Laden. Was ist, wenn der Virus das Labor verlässt? Dann steht die Welt am Abgrund!«, flüsterte er aufgebracht. »Es ist besser so, glaub mir.«
Wütend schlug Marvin mit der Faust auf den Tisch und die Bedienung, die die Teller brachte, blieb erschrocken stehen. Die anderen Gäste blickten den Mann verstört an.
Yves nickte dem Kellner vertrauensvoll zu und nahm ihm einen der Teller ab. »Genießen wir das Essen und verschwinden, wenn wir fertig sind. Die Fracht kannst du auch am Samstag holen. Ich habe den Schlüssel«, versicherte der Franzose und begann genüsslich seine Suppe zu schlürfen.
Doch Marvin zögerte, bevor er ins Croissant biss. Sein Magengeschwür rebellierte ein wenig, als er in das knusprige Gepäck biss. Dieser Geschmack ließ seine Synapsen explodieren. Begeistert sah er ihn an.
»Anderes Thema. Sonntagnacht fliegen Géraldine und ich nach Asien. Das haben wir uns lange zurecht gespart. Wir machen einen kurzen Abstecher nach Spanien und fliegen dann weiter nach Asien.«
»Dann passt es ja, dass ich Samstag wieder fahre«, antwortete er mürrisch und blickte ihn an.
Wie kann er so gelassen bleiben? Er steigt aus dem Projekt aus und ich darf mit all den Wahnsinnigen allein arbeiten!, regte er sich innerlich auf.
»Die Box ist im Kühltresor, keine Sorge. Am besten holen wir deine Klamotten aus dem Hotel und du schläfst bei uns«, schlug Yves vor.
»Quatsch, ich will euch keine Umstände bereiten«, wiegelte er ab und steckte sich einen weiteren Bissen des Rühreis in den Mund.
»Non, ich bestehe darauf«, bestand Yves. »Und jetzt essen wir. Wir holen die Papiere und du fährst uns zu mir. Géraldine hat heute das Auto.«
Während Dr. Roux genüsslich sein Mahl verspeiste, konnte sich Marvin nur schwer auf sein köstliches Frühstück konzentrieren. Innerlich war er vollkommen aufgewühlt und konnte nicht glauben, dass sein Freund kein Ansprechpartner mehr sein würde.
*
Nachdem sie gegessen hatten, holten sie die Überführungspapiere sowie die Genehmigungen. Marvin bezahlte das Zimmer für die Nacht und packte die Tasche zusammen, bevor sie zu Yves fuhren.
Marvin durchquerte ländliches Weinberggebiet und parkte vor einem Häuschen aus Bruchstein. Sie ließen den Abend auf der Terrasse ausklingen, die die Abendsonne einfing. Der nahegelegene Weinberg und die in der Ferne liegenden Lavendelfelder wirkten beruhigend auf den deutschen Virologen.
Géraldine ließ es sich nicht nehmen, eine kleine Weinverkostung zu veranstalten. Sie präsentierte drei verschiedene Weinsorten sowie diverse Käsesorten mit Baguette.
Vollgefuttert mit den Köstlichkeiten, legte sich Marvin in das Gästezimmer und schloss die Augen. Er spürte, wie sich ein Kopfschmerz ankündigte.
Plötzlich piepte sein Telefon.
›Entschuldige, dass ich mich erst jetzt melde. Bist du noch wach?‹
Er war wach, schnellte nach oben und verspürte einen stechenden Schmerz in seinem Schädel. Dennoch ließ er sich es nicht nehmen, ihre Nummer zu wählen und wartete ungeduldig darauf, dass sie ran gehen würde.
»Hey, ich bin noch wach«, sagte er grinsend und ging auf den kleinen Balkon. Er steckte sich eine Zigarette an und rauchte diese locker am steinernen Geländer gelehnt.
»Entschuldige, aber heute war irgendwie nicht mein Tag. Was machst du so?«, fragte sie seufzend.
»Yves und ich haben eine private Weinverkostung gemacht. Bin etwas angetrunken, aber der Wein schmeckt besser, als dieses Bier im Hotel«, erwiderte er leise lachend.
»Klingt witzig. Ich war heute nur kurz auf Arbeit und bekam einen Anruf von meinen Eltern, dass ein Rohr in meiner Küche geplatzt war. Tja, hatte mit Ausräumen und Wasser aufwischen zu tun«, berichtete sie und stöhnte genervt auf. »Aber naja. Ich hab‘ ja jetzt ein paar Tage frei und fahre mit Freunden nach Potsdam. Da können sich die Handwerker in der Zeit austoben.«
Ein kurzes Stechen durchfuhr seinen Körper und er hielt sich den Kopf. »Ich werde morgen früh wieder zurückfahren. Yves und seine Frau fliegen in den Urlaub. Erst Spanien, dann Asien.«
»Andrea hat dir eine Mail geschickt mit deinem Urlaubsantrag.«
Verwundert drückte er die Zigarette aus. »Warum soll ich denn Urlaub nehmen?«
»Wegen den Wartungsarbeiten im S4. Die dekontaminieren von Grund auf das Labor, bevor mit den neuen Proben gearbeitet werden soll. Irgendeine Prüfung findet noch statt und-«
»Ach ja!«, unterbrach er sie und klatschte sich die flache Hand gegen die Stirn. »Die halbjährliche Prüfung! Die stand, glaube ich, auch auf dem Urlaubsplan. Wie lange bleibst du in Potsdam?«
»Wir fahren Sonntagfrüh los und kommen wahrscheinlich am Donnerstag wieder … Aber wir können uns danach gern mal auf einen Kaffee treffen, wenn du möchtest.«
Marvin steckte sich nervös eine weitere Zigarette an. »Natürlich möchte ich das, sonst würde ich nicht so bescheuert fragen«, lachte er leicht schnippisch. »Ich mache mich hier zum Vollhorst, weil ich dich echt mag.«
Just in diesen Moment hielt er inne und wiederholte das Gesagte im Geiste. Hast du ihr das jetzt wirklich am Telefon gesagt?, hakte seine innere Stimme nach und er schüttelte peinlich berührt den Kopf. »Tut mir leid«, hauchte er kleinlaut.
»Vielleicht wäre es besser, wenn wir das Telefonat beenden und du schlafen gehst. Check deine Mail und antworte Andrea«, fauchte sie ihn an und legte prompt auf.
Innehaltend sah er auf das schwarze Display und prustete den Zigarettenrauch in die Nacht heraus.
Alkohol ist echt nicht dein Ding in Bezug auf Frauen, mein Freund.
»Halt deine bekackte Fresse«, sagte er zu sich selbst, drückte die Kippe im Aschenbecher aus und ließ sich auf sein Bett fallen.
Mit Magenschmerzen und Liebeskummer schlief er irgendwann ein, doch erholsam war die Nacht nicht. Sobald er in die Tiefschlafphase übertrat, begann sein Körper zu kämpfen.
Der Virus lief auf Hochtouren auf. Er teilte sich millionenfach und setzte sich in seinen Lungenflügeln fest. Marvins Körper begann zu schwitzen und er wühlte sich fiebrig im Bett herum. Ein starker Hustenanfall brachte die Partikel aus seinem Halse heraus und sie verteilten sich über die Luft. Wie ein feiner Teppich legten sie sich auf die Oberflächen des Zimmers.
***