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Kapitel 6

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Berlin, Moabit

15. Juli 2012, 13:45 Uhr

41 Tage bis internationalen Flugverbot

Er trug sein Fahrrad die Treppen des Altbaus hinauf und erwartete, dass ihm im vierten Stock seine Nachbarin wieder auf die Nerven gehen würde.

Doch die alte Schabracke war wohl beim Mittagsschläfchen.

Auf halber Höhe des fünften Stocks hörte er plötzlich ein Türschloss klicken.

»Na da hat awer eener früh Feieramd. Da könn‘ se de Zeit glei nutzn und wischn«, meckerte die Alte und stand mit verschränkten Armen vor der Brust auf der untersten Stufe.

Genervt hielt Marvin inne und stellte das Fahrrad auf den Stufen ab.

»Haben Sie keine anderen Hobbies, als anderen im Haus auf den Sack zu gehen?«, fauchte er sie an. »Kaufen Sie sich ‘ne Katze, nölen Sie die voll und nicht Leute, die bei weitem besseres zu tun haben, als diesen bekackten Flur zu wischen!«

Wütend schnappte er sich sein Fahrrad und stapfte die Stufen empor.

Die Alte schritt zum Geländer und schaute mit zusammengekniffenen Augen nach oben. »Dit hat a Nachspiel! Dat könn‘ se glaubn!«

Mit voller Wucht schlug Marvin die Wohnungstür ins Schloss. Ächzend stellte er sein Fahrrad ab, schaltete seine Rechner an und schaute in das Gefrierfach.

Heute früh gab es Burger. Jetzt sind nur noch Pizzen da. Du solltest nochmal einkaufen.

»Ich gehe heute nirgends wo hin«, sagte er zu sich selbst und holte die Ofenfrische aus dem Fach heraus. Er belegte die Salamipizza mit extra Käse und den restlichen Ananasscheiben aus der Dose und schob sie in den nicht vorgeheizten Backofen.

Während die Pizza backte, setzte er sich vor den Rechner. Er klickte auf einen neuen Musik Streamingdienst. Auf ›Spotify‹ hatte er sich verschiedene Playlisten und Podcast Listen angelegt. Heute sollte es etwas Musik sein. Ruhige Klänge. Grübelnd ließ er sich auf die Couch nieder und sah auf sein Smartphone, welches aufleuchtete.

Wo bist du denn hin?‹, schrieb Susann.

Peinlich berührt realisierte er, dass er seine Kollegin hatte sitzen lassen. Und diese Nachricht war die erste, die sie ihm schrieb. Er lächelte kurz. Er freute sich darüber, aber was sollte er antworten.

Hast du heute Abend Zeit für einen Kaffee?‹, schrieb er zurück, ohne auf ihre Frage einzugehen.

Gespannt sah er auf das Display und hoffte auf eine Antwort. Aber sie ließ sich Zeit.

Der Backofen piepte vor sich her. Er erhob sich, holte seine Mahlzeit heraus und schnitt sie auf dem hölzernen Brett in kleine Stückchen. Dann setzte er sich wieder auf sein Sofa und lauschte der Musik, die ihn genauso beruhigte, wie der Gedanke an Susann.

Zwischendurch sah er wieder auf das Display und plötzlich leuchtete es auf.

Ja, ich bin ab 19 Uhr zuhause‹, antwortete sie.

*

Mit Schmetterlingen im Bauch fuhr er mit seinem Drahtesel in Richtung Charlottenburg-Nord. An der Spree entlang hielt er Ausschau nach einem prunkvollen Reihenhaus in rot-weißer Backsteinoptik.

Ein niedriger Metallzaun trennte den kleinen Vorgarten vom Fußweg ab. Marvin bemerkte den roten BMW X1 in der Garageneinfahrt. Spar dir die Kohle, mein Freund. Zu Hause findest du nie einen Parkplatz. Er tippelte die drei Stufen empor und klingelte an der Tür.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine Frau mittleren Alters, die einen Hosenanzug trug, als sie die Tür öffnete.

»Ja … Ich wollte zu Susann. Mein Name ist Marvin. Ich bin ihr Arbeitskollege«, erklärte er hibbelig.

Die Frau lächelte freundlich. »Kommen Sie rein. Sie können das Fahrrad in den Fahrradständer an der Seite unten reinstellen.«

Ungelenk stellte Marvin seinen Drahtesel in den Ständer, der an der Seite der Eingangstreppe verankert war und ging die Stufen hinauf. Er stand in einem großen Flur, an dem linker Hand die einzelnen Zimmer aufgeteilt waren. Eine steile Treppe führte ins erste Obergeschoss.

Die Frau nahm den Hörer ab und sagte: »Dein Besuch ist da, Susann.« Dann legte sie auf und lächelte den Arbeitskollegen an, der wie ein Teenager nervös im Flur stand. »Sie ist gleich da«, sagte ihre Mutter und verschwand im Wohnzimmer.

An den geweißten Wänden hingen zahlreiche Bilder. Die schicken Möbel waren alle im dunklen Kolonialstil. Plötzlich hörte er Schritte von oben.

»Komm doch hoch«, sagte sie, während sie im oberen Flur stand.

Er stapfte die Stufen empor und folgte ihr eine weitere steile Treppe nach oben.

Das ist wahrlich ein hübscher Po, der da vor deiner Nase hin und her wackelt, schoss es ihm durch den Kopf und Marvin konnte nicht von diesen wegsehen.

Susann öffnete die Tür zu einer hübschen, lichtdurchfluteten Dachgeschosswohnung. Diese Wohnung war das komplette Gegenteil zu dem Loch, in dem Marvin hauste. An den Wänden hingen selbst gezeichnete Bilder, die Kleidung lag nicht wild auf dem Boden verstreut. Die geöffnete Badtür bot einen kleinen Einblick in die geräumige Nasszelle mit allerlei Schminkzeug und Hautpflegeartikeln. Die Duschkabine war ebenerdig und groß genug für zwei Erwachsene. Zur Wohnung gehörte eine Dachterrasse mit Rattanmöbeln. Mit Blick über die Spree war es wahrlich eine Ruhe Oase.

Er folgte ihr auf die Terrasse, auf deren Tisch eine kleine Flasche Bier stand.

»Setz dich. Möchtest du einen Kaffee oder einen Latte macchiato?«, fragte sie freundlich.

»Ich nehme gern eine Latte«, antwortete er nervös und Susann begann keck zu grinsen. »So hab‘ ich das nicht gemeint«, wiegelte er peinlich berührt ab, als er die Anspielung in ihren Augen sah.

»So war das auch nicht gemeint«, erwiderte sie lächelnd, streifte seine Schulter und ging in die Küche. »Da kann ich endlich mal den Milchaufschäumer benutzen, der an der Espressomaschine dran ist«, rief sie ihm zu.

Skeptisch sah er in den Aschenbecher, in dem ein einzelner Zigarettenstummel lag. Ich habʼ sie noch nie rauchen gesehen, wunderte er sich und steckte sich postwendend eine Zigarette an.

Das Rattern und Fauchen der ›De‘Longhi‹ Espressomaschine drang ebenso auf den Balkon wie der Geruch von frischgemahlenen Kaffeebohnen.

Er holte aus seinem Rucksack die Unterlagen für Lyon und legte sie auf den Tisch, als Susann ihm den Kaffee brachte.

Lächelnd setzte sie sich neben ihn und blickte in die untergehende Sonne. Als sie einen Schluck ›Astra Kiezmischung‹ trank, bemerkte sie seinen erstaunten Blick. »Was? Denkst du etwa, dass ich noch nie Alkohol getrunken habe?«, fragte sie mit neckischem Grinsen.

»Und geraucht hast du auch?«, fügte er lachend hinzu.

»Abends, wenn alles erledigt ist und ich die Ruhe genieße. Sind aber Zigaretten mit Geschmack. Meist Vanille.«

Ihr durch die Sonne leuchtendes Antlitz brachte ihn zum Seufzen und er sah sie bewusst schmachtend an. Ob sie es merkte oder nicht, war ihm egal.

»Warum bist du heute gegangen? Ich habe auf dich gewartet«, hakte sie nach und drehte die Flasche in ihren schmalen Händen.

Gedankenverloren sah er in den Sonnenaufgang. Er senkte seufzend seinen Blick. »Weil ich aufgebracht war und mir viele Dinge durch den Kopf gingen.«

»Welche denn?«

Marvin atmete tief ein und aus. »Zum einen bin ich sprachlos, dass ein solches Projekt einfach eingemottet wird, ohne dass ein Heilmittel erforscht worden ist. Und ich find’s zum Kotzen, dass ich keine Garantie habe, mit dir weiter zusammen arbeiten zu können.«

Geschmeichelt grinste sie ihn mit diesem speziellen Augenaufschlag an. »Vielleicht sollte ich nochmal mit Kaufmann reden, um ihn von unserer Zusammenarbeit zu überzeugen.«

Marvin begann zu nicken. »Weiblicher Charme, oder?« Susann nickte. »Kaufmann ist ein Arschloch. Er weiß gar nicht, was er damit anrichten könnte, wenn die Forschung eingestellt wird. Du musst nicht mit ihm reden. Ich werde mich schon dafür einsetzen, dass du bei mir bleibst.«

Fragend runzelte sie die Stirn und lächelte. »Ist es dir so wichtig, mit mir zusammen zu arbeiten?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich arbeite sehr gern mit dir zusammen. Du bist sehr gewissenhaft. Intelligent. Du kannst meine Sauklaue entziffern und bist zu alledem wahnsinnig hübsch.«

Wahnsinnig hübsch!, fuhr es ihm durch den Kopf wie ein Blitz, der in einen Baum einschlug. »Ähm … Das war nicht so gemeint … Eigentlich doch, aber …«, stammelte er peinlich berührt. »Ach man!«

Susann lachte herzlich darüber und errötete leicht. »Das braucht dir doch nicht peinlich zu sein.«

»Tut mir leid … Das ist mir so rausgerutscht …«, entschuldigte er sich und kratzte sich nervös auf der Glatze herum.

Warmherzig grinste sie ihn an und beobachtete ihn für einen Augenblick. »Wir sind schon ein gutes Team. Bezüglich des Projekts solltest du selbst mit der Kommission reden. Du musst ihnen klar machen, dass wir noch lange nicht fertig sind.«

»Ja, das wäre noch eine Option … Ach, wenn ich daran denke, könnte mir der Arsch platzen, dieses dumme Arschloch! Wenn ich solch eine gefährliche Sache zur Welt bringe, dann muss ich auch dafür sorgen, dass es behandelt werden kann«, echauffierte er sich und steigerte sich immer mehr in die Sache rein.

Plötzlich spürte er ihre Hand auf seiner. Verblüfft sah er in ihre Augen. »Vielleicht sollten wir auf eigene Faust nach einem Gegenmittel forschen«, schlug sie überraschenderweise vor und erntete erstaunte Blicke.

Wie in einer Art Trance streichelte er mit seinem Daumen über die dünnen Finger ihrer Hand.

Natürlich könnten wir auf eigene Faust forschen. Das wäre nicht das Problem.

»Wenn das rauskäme, würde man uns suspendieren«, wiegelte er ab, rutschte im Rattan Sessel nach unten und hielt weiter ihre Hand ohne es zu merken. »Wahrscheinlich müssen wir es einfach akzeptieren … oder es drauf ankommen lassen und los forschen. Komme, was wolle«, sinnierte er und sah in ihr Gesicht. Plötzlich merkte er, dass seine Hand die ihre streichelte, und zog sie peinlich berührt weg.

Sie schmunzelte geschmeichelt, trank einen Schluck und stützte verträumt ihren Kopf auf ihrer rechten Hand ab.

»Donnerstag geht’s nach Lyon?« Er nickte. »Wann geht dein Flieger?«

»Ich fahre mit einem Leihwagen hin«, erwiderte er mürrisch.

Stutzig googelte sie die Entfernung nach Lyon und zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Das sind ja zwölf Stunden Fahrt!«

»Viel Zeit zum Nachdenken.«

»Soll ich dich begleiten?«, fragte Susann.

Sag ja, du Idiot!, schoss es ihm durch den Kopf, während Marvin sie perplex anstarrte. »Nein. Ich fahre allein.« Du Vollpfosten! Da entgeht dir eine große Chance.

Wieder steckte er sich eine Zigarette an. Er erhob sich und lehnte locker am Geländer. Er sah dem Nachbarn dabei zu, wie er in gefühlt hundert Zügen einzuparken versuchte. Leise lachte er vor sich hin und Susann gesellte sich zu ihm. Sich das Schauspiel gemeinsam anzusehen, war für Marvin eine innige Situation.

Wie gern würde ich den Arm um deine Hüfte legen und den Sonnenuntergang mit dir genießen. Dich nur im Arm halten bis die Nacht hereinbricht.

»Herr Becker braucht immer eine Ewigkeit, um einzuparken.« Sie bemerkte den betrübten Blick von Marvin und stupste ihn keck mit der Hüfte an.

»Ich werde jetzt nach Hause fahren.«

»Wenn du willst, fahre ich dich. Dein Rad kann ich morgen mit ins Institut bringen.«

Dankend nickte er ihr zu. Er packte seine Unterlagen wieder in den Rucksack, schwang diesen auf seinen Rücken und ging mit ihr nach unten.

Sie schloss die Tür des alten Opel Corsas auf, der bedeutend bessere Tage hatte. Aber sie liebte dieses Auto. Es war penibel aufgeräumt und ein ausgeblichenes Duftbäumchen baumelte am Innenspiegel. Während der Fahrt betrachtete Marvin gedankenverloren die Straßen Berlins bis sie vor seinem Haus hielt. Bei Frau Huber brannte immer noch das Licht und Marvin konnte sich wieder das Genöle der Alten anhören, wenn er die Treppen hoch ging. Er zögerte.

»Soll ich dich hochbringen oder warum zögerst du?«

Verwundert blickte er sie an. »Gern. Ich habe auch Kaffee im Haus«, plauzte er ungeniert heraus und es war ihm wieder peinlich. »Natürlich ist es nur Filterkaffee, der bei weitem nicht so köstlich ist wie deiner.«

Susann sah auf ihre Uhr, die neun Uhr anzeigte. »Vielleicht ein anderes Mal, okay?«

Marvin versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen, und nickte ihr zu. Er stieg aus dem kleinen Auto aus und schlug die Tür ins Schloss. Doch er blieb stehen, beugte sich zum Beifahrerfenster.

Susann ließ die Scheibe herunter.

»Wir sehen uns morgen … In alter Frische, ja?«, sagte Marvin mit einem Augenzwinkern.

»Natürlich.«

»Gute Nacht.« Er klopfte auf das Autodach und lief durch den dunklen Eingang ins Haus.

Sie wartete, bis das Licht anging und beobachtete ihn durch die Fenster des Treppenaufganges, wie er die Stufen empor schritt.

Im dritten Stock blieb er stehen und sah, wie der Corsa vom Haus wegfuhr. Sehnsüchtig sah er ihr nach und betrachtete seine rechte Hand, in der ihre Hand eine Weile lang gelegen hatte. Er versuchte, den Moment wieder aus seinen Erinnerungen hochzuholen, und konnte ihre Haut auf seiner spüren.

Mit Liebeskummer und einer Flasche Bier in der Hand ließ er sich auf der Couch nieder, sah grübelnd an die Decke und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Er schmunzelte und dachte an den ersten Tag zurück, als sie frisch ins Institut kam. Grün hinter den Ohren. Die Kollegen ließen sie einen Vollschutzanzug des S4 Labors tragen, als sie am ersten Tag im S1 Labor war. Zu ihrer Verwunderung trug Marvin nicht den Vollschutzanzug. Sie war damals sichtlich geknickt und er musste sie aufbauen. Die anfängliche Euphorie seitens Susann bremste er gekonnt in den ersten Minuten ihres Daseins aus. Die Realität war gänzlich anders, als in ihren Vorstellungen. Zum Glück hatte sie sich nicht beirren lassen und zog ihr Ding durch. Sehr zur Freude seinerseits.

Das war heute bedeutsamer als alles andere zuvor. Mit ziemlicher Sicherheit hast du sie schon öfters berührt und sie dich ebenso. Aber dies war anders. Intensiver. Und wenn du deine Augen schließt, kannst du ihre Hände spüren.

Er trank sein Bier aus, drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und zog sich bis auf die Boxershorts aus. Auf dem Bauch liegend betrachtete er seine Hand. Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht und in Gedanken an Susann schlief er schließlich ein.

***

Lethal Vacation

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