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Kapitel 2
ОглавлениеBerlin Schönefeld, Terminal A
20. November 2014, 9:00 Uhr
Die Gruppe lief durch den langen, teils verwinkelten Gang in Richtung Sicherheitskontrolle. Über den Duty-Free Shop gelangten sie zu einer Rolltreppe, die am unteren Ende zu den Kontrollen führte. Doch die Fahrtreppe war außer Betrieb und der Raum darunter finster.
Mit langsamen Schritten stiegen sie die Stufen herab und leuchteten den kurzen Weg aus. Ruben blieb derweil oben stehen und zögerte. Er kläffte von der oberen Stufe aus nach Ivy.
»Na, komm runter!«, rief sie und klopfte sich auf die Oberschenkel.
Wieder kläffte er schwanzwedelnd und tippelte nervös auf der Stelle.
Grinsend erbarmte sich Mac, die beschwerlich langen Rolltreppenstufen erneut hoch zu steigen. Schwanzwedelnd sah der Hund ihn an. Mac nahm das schwere Tier auf den Arm und stieg vorsichtig die Stufen hinab. Seine Beine schmerzten unter dem zusätzlichen Gewicht.
Dankend lächelte Ivy den Amerikaner an, als er den Vierbeiner nach unten ließ.
Auf den Förderbändern standen die Kisten, in denen die Passagiere das Handgepäck legen mussten. Die Gepäckwagen waren voller Koffer, die auf ihre Besitzer warteten.
»Wir sollten nicht durch die Sicherheitsschleusen gehen. Nicht, dass der Alarm losgeht«, warnte Rupert und schlängelte sich zwischen den Gängen hindurch.
»Ist euch schon aufgefallen, dass es hier keine Infizierten gibt?«, bemerkte Alice und stieg über Taschen.
»Das stimmt. Wer weiß, wo die alle sind?«, wunderte sich Klaas und sah die große Tür, die zum Check In führte.
Wieder folgten sie einem kleinen Gang und blieben vor einer Fensterfront stehen, von der aus sie auf den Parkplatz sehen konnten.
Einige Autos standen auf den Stellplätzen. Transferbusse, die die Passagiere zum Flughafen brachten, warteten in den Einbuchtungen.
»Mit viel Glück können wir mit einem der Busse von hier verschwinden«, hoffte Elmar und sah sich um.
Gemeinsam liefen sie an den Check Ins der verschiedenen Airlines vorbei. Die Absperrstangen lagen vor den Schaltern verstreut auf den dreckigen Fliesen. Auf den Förderbändern lagen Gepäckstücke. Die Wechselstuben und Automaten waren versperrt und geschlossen. Selbst der einst prunkvolle Kaffeeladen hatte schon lange keine koffeinhaltigen Köstlichkeiten mehr hergestellt.
Plötzlich spürten sie eine Detonation, die den breiten Gang erschütterte. Dreck rieselte von der Decke herunter.
»Was war das?«, wunderte sich Alice.
»Das Flugzeug. Vielleicht sind die Tanks explodiert«, mutmaßte Ivy gleichgültig und stand vor dem zertrümmerten Fenster der automatischen Eingangstür.
Der eiskalte Novemberwind pfiff ihnen in die Gesichter und das zersplitterte Glas knisterte unter ihren Schuhen, als sie vorsichtig nach draußen gingen.
Keine Menschenseele war auf dem Parkplatz zu sehen.
Schwarze Rauchwolken stiegen auf der anderen Seite der Rollbahn empor. Wortlos sahen sie zum Himmel den Zeichen hinterher.
»Vielleicht gibt es ja hier irgendwo eine Gemeinschaft, die das sieht …«, hoffte Elmar, als er zum Himmel emporsah.
»Meinst du, dass welche kommen werden?«, fragte Klaas unglaubwürdig.
Elmar zuckte mit den Schultern, überquerte die Straße und ging vorbei an den kleinen Kassier- und Toilettenhäuschen zu den Transferbussen.
Innerlich hoffte der sanfte Hüne auf ein kleines Wunder. Der erste Bus war fest verschlossen. Weder die Heckklappe, noch die Schiebetüren waren zu öffnen. Hoffnungsvoll schritt er zum nächsten Fahrzeug. Die Beifahrertür war verriegelt, doch die Fahrertür war offen. Ein kleiner Hoffnungsschimmer. Erwartungsfroh stieg er ein, durchsuchte die Sonnenblenden und das Handschuhfach, ohne Erfolg.
Klaas kam auf ihn zu und sah ihn mit fragenden großen Augen an.
»Vielleicht finden wir irgendwo Werkzeug … Ohne das, können wir die Karre nicht kurzschließen«, bemerkte Elmar und kletterte nach hinten. Doch weder unter den Sitzen, noch in einer Bodenklappe fand er Werkzeug, das ihnen hätte nützen können.
Seufzend sprang er aus dem Fahrzeug aus und schüttelte missmutig den Kopf.
»Teilen wir uns auf. Irgendwo müssen wir doch fündig werden …«, grummelte Rupert und zog den Reißverschluss seiner Jacke ein Stück höher. »Zu zweit. Wir dürfen nichts riskieren.«
Während Elmar mit Klaas und Rupert mit Alice ihre Runde drehten, wanderten Ivy und Mac zwischen den Fahrzeugen umher. Ruben folgte seinem Frauchen auf Schritt und Tritt.
Ivy drehte sich zum Gebäude um und sah die schwarzen Qualmwolken nach oben steigen. Sie seufzte schwer.
»Wenn es Überlebende sehen, dann vielleicht auch die Infizierten … Meinst du, sie werden davon angelockt?«, fragte Mac verunsichert.
Keine Ahnung, Mac. Ich bin hin und her gerissen von dem, was ich denken soll, dachte sie und war wie in einen Bann gezogen. Es faszinierte sie, wie der Wind mit der dunklen, aufsteigenden Gestalt einen Tanz vollführte. In diesem Moment vergaß sie die Suche nach einem Fahrzeug und Mac, der sie verwundert anstarrte.
»Hey«, brummte er und tippte ihr auf die Schulter. »Träumst du?«
Verlegen schmunzelte sie und lief weiter. Sie lugten in die wenigen Autos, die auf dem Parkplatz standen, zogen an den Türgriffen, die nichts bewirkten. Ivy entdeckte einen 1.2 Renault Clio und prüfte die Tür. Sie war verschlossen.
»Hattest du echt gehofft, wir passen da rein?«, witzelte Mac und zeigte auf den silbernen Elefantenschuh.
»Ich hatte früher einen und du würdest staunen, was da alles reinpasst.«
»Auch wenn ich ein paar Pfund losgeworden bin, würde ich mir da drin die Ohren mit den Knien zuhalten«, erwiderte er lachend und trank unbekümmert einen Schluck Havanah. Im Augenwinkel sah er ihren maßregelnden Blick. »Alles okay?«
Ivy schüttelte den Kopf. »Anfangs hast du das nicht gemacht.«
»Was?«
»Vor unseren Augen getrunken. Jetzt trinkst du, wenn du es brauchst«, erklärte sie und steckte sich eine Zigarette in den Mundwinkel.
»Mach‘ mir keine Vorwürfe, sonst fange ich mit deinem Zigarettenkonsum an«, erwiderte er und stapfte an ihr vorbei. »Wie ich dir schon einmal sagte. Jeder hat seine eigene Methode, damit umzugehen. Ich hab‘ meine, du hast deine.« Lässig lehnte er am Kotflügel eines VW Golfs und prostete ihr mit der Flasche zu. Nachdem er einen kräftigen Schluck vernichtet hatte, schüttelte er sich einen Augenblick.
Spüre ich eine Art Verbindung zwischen uns? Haben wir genau das Gleiche verloren und fühlen denselben Schmerz in uns? Du erinnerst mich an einen guten Freund, der mir sehr fehlt. Und damit meine ich nicht Sebastian. Er war mein bester Kumpel. Er hatte ebenso diese Art an sich. Groß, kräftig, loyal und bodenständig. Er stand immer hinter seiner Meinung und den Leuten, die ihm wichtig waren.
Grübelnd lehnte Ivy neben dem Amerikaner, der auf sie herabblickte, wie ein Vater auf seine Tochter. Er hielt ihr die Flasche hin, aber sie lehnte dankend ab.
»Ich kenne diese Blicke nur zu gut, Ivy. Lois hat mich auch immer so angesehen. Sie hasste es, wenn ich trank … Und ich trank viel. Aber ich bin ihr gegenüber nie ausfallend geworden, habe ihr nie wehgetan oder sie gar geschlagen.«
»Warum machst du es?«
Nachdenklich sah er auf die Flasche. Die klirrende Kälte stach in seinen Pranken. »Anfangs habe ich den Schmerz damit runtergespült. Dann wurde es zur Gewohnheit und es ging mir einfach besser damit. Befriedigung. Genau wie beim Rauchen.«
Sie schaute an ihm empor und blickte in seine dunklen Augen. Sie sah den Schmerz, aber sie konnte ihn nicht deuten. Es war ein älterer Seelenschmerz.
»Was ist passiert?«, hakte sie nach.
Mac sah sich auf dem Parkplatz um, beobachtete die anderen, die die Fahrzeuge checkten. Er erspähte den Rauch, der mal mehr und mal weniger wurde. Er nahm einen kräftigen Schluck und signalisierte ihr mit einem Kopfnicken, weiter zu gehen.
»Lois und ich wollten keine Kinder. Sie hatte einen Gendefekt, der auch auf das Kind übergegangen wäre. Wir richteten unser Leben danach und kümmerten uns um die Kinder an unserer Schule.«
Zwischenzeitlich prüften sie immer wieder die Türen und merkten gar nicht, dass sie sich weiter vom Flughafen entfernten, als ihnen lieb war.
»Eines Tages hatte sie diese Kontrolluntersuchungen und kam vollkommen aufgelöst nach Hause. Sie war schwanger und das im fünften Monat.«
Erstaunt riss Ivy die Augenbrauen hoch. Wie kann man das so lange nicht merken? Mir ging es bei Konrads Schwangerschaft die ganze Zeit vollkommen mies.
Mac kreuzte die Arme auf dem Rücken, hielt dennoch seine Flasche fest in der Hand und schlenderte weiter zu den parkenden Autos. »Nächtelang sprachen wir über dieses Wunder. Wir freuten uns auf dieses Kind, auch wenn wir ein hohes Risiko eingingen. Wir richteten ein Kinderzimmer ein. Ich hatte nie damit gerechnet, Vater zu werden, und dennoch war ich es, auch wenn das Würmchen noch im Bauch war.« Warmherzig blickte er sie an und seine Augen leuchteten voller Liebe. »Am Tag ihrer Geburt war ich der glücklichste Mensch auf der ganzen Welt. Diese kleinen Hände, diese Nase und dieses Engelslächeln, wenn sie auf meiner Brust lag und ich ihre Wange streichelte.«
Sein verträumtes Lächeln verblasste plötzlich und er blieb stehen. Das Funkeln hatte aufgehört, als er zu Ivy schaute. »Sie war schwer nierenkrank. Und ich … wir fühlten uns verdammt hilflos … Wir hofften, dass es doch noch eine Heilung gab und Lois betete jeden Abend dafür ... Als sie drei Monate alt war, fand ich sie morgens in ihrem Bettchen.« Mac schloss seine Augenlider und pausierte, bevor er Ivy tränenerfüllt ansah. »Sie schlief so lange und ich sah nach ihr. Doch … da war nichts mehr … Sie sah aus wie eine kleine Puppe, die schlief.« Der Amerikaner atmete tief ein und aus und versuchte sich zu sammeln. »An diesem Morgen verloren wir unser größtes Glück. Lois war noch bei ihrer Mutter. Ich war noch nicht mal in der Lage, den Krankenwagen zu rufen. Ich legte unser Wunder in die Babyschale und brachte sie ins Krankenhaus. Sie konnten nichts mehr für sie tun.«
Mitleidig schritt Ivy auf ihn zu und nahm ihn tröstend in die Arme, wobei sie sich auf Zehenspitzen stellen musste.
»Ich höre manchmal Lois verzweifelte Schreie, als sie ins Krankenhaus kam und sie tot im Bettchen liegen sah. Und ich begann mich zu betäuben, bis es zur Gewohnheit wurde.«
Seine Umarmung wurde fester, als stünde nicht Ivy vor ihm, sondern seine Frau. Die, der er nicht sagen konnte, was er fühlte. Plötzlich ließ er von ihr und sah Ivy tief in die Augen. »Ich suchte mir einen Fluchtpunkt. Viele wussten es, doch ich konnte es nicht ändern … Weil ich es nicht wollte. Und sie akzeptierten es. Ich hoffe, dass ihr es auch einfach hinnehmen könnt.«
Es tut mir wahnsinnig leid, was ihr durchgemacht habt. Niemand sollte solch ein Schicksal ereilen.
»So lange niemand deswegen in Gefahr kommt, akzeptiere ich das. Aber ich verspreche dir, dass, wenn jemand dadurch in Lebensgefahr kommt, du der Letzte sein wirst, der Hilfe erwarten kann«, sprach sie mit fester Stimme.
Mac bäumte sich vor ihr auf, um tief Luft zu holen. »Ich denke, dass ich damit leben kann.«
Beklemmend nickte Ivy ihm zu und lief zu einem weiteren Auto. Doch auch diese Tür war fest verschlossen. Laut vor sich her prustend sah sie sich um. »Vielleicht haben wir in der Stadt mehr Glück«, mutmaßte sie und sah zu Mac auf, der seinen wuchtigen Schädel in die kalte Luft emporhob und innehielt. Skeptisch runzelte sie die Stirn. »Was ist los?«
»Hast du das gehört?«
Ivy horchte und vernahm einen Aufschrei, der zwischen den Hotels am Flughafen vom Wind zu ihnen getragen wurde.
Sie schnellten zwischen den parkenden Fahrzeugen zur Pension auf der gegenüberliegenden Seite des Airports. Und hörten wieder die Hilfeschreie.
***