Читать книгу Wikinger der Liebe / Wikinger meiner Träume - Josie Litton - Страница 13
Kapitel 7
Оглавление»Lass mich raten«, bat Hawk. »Rein zufällig kamst du vorbei, und da wolltest du die Gelegenheit nutzen, um mich zu besuchen.«
Der Mann, der ihm gegenübersaß, grinste breit. So groß und kräftig gebaut wie Hawk, mit goldbraunem, schulterlangem Haar und Topasaugen, trug er eine schlichte Tunika aus fein gesponnener schwarzer Wolle und blank geputzte Lederstiefel. Kein Schmuck wies auf seinen Rang und seine Macht hin, nur ein scharf geschliffenes Schwert. Trotzdem war die Aura seiner edlen Herkunft unverkennbar, von seiner ungewöhnlich attraktiven äußeren Erscheinung noch verstärkt.
Bisher waren schon sechs Dienerinnen unter diesem oder jenem Vorwand zur Tafel geeilt. Hawk fragte sich, ob jemals einem Mann so viele lustvolle Blicke in einem kürzeren Zeitraum gegolten hatten. Seinen Gast schien das nicht zu überraschen, und er missachtete die Mägde keineswegs. Ganz im Gegenteil – jeder schenkte er ein liebenswürdiges Lächeln. Wie sich Hawk seufzend entsann, schätzte der Wikinger das weibliche Geschlecht über alle Maßen und hielt es für das schönste Geschenk, das die Menschheit von den Göttern bekommen hatte. Das schienen die Frauen zu spüren, und sie erwiderten seine Zuneigung mit unverhohlenem Entzücken.
»Welch ein Freund wäre ich, hätte ich meine Schiffe grußlos an deiner Burg vorbeigesteuert?«, fragte der Gast, während ein hübsches rothaariges Mädchen vorbeilief und die Hüften so heftig schwenkte, dass ein Luftzug entstand. »Außerdem dachte ich, du willst Neuigkeiten von deinem Neffen hören.«
Hawk musterte den Mann, den man von den Gletschern des Nordens bis zu den Suks von Byzanz als Dragon kannte, und lachte leise. »Nun, wie geht’s dem kleinen Löwen?« Inzwischen staunte er nicht mehr, weil die Familie, in die seine Schwester hineingeheiratet hatte, ihren männlichen Sprösslingen ebenso wie seine eigene nur Namen gab, die bestimmte Vorstellungen heraufbeschworen. Im weithin gefürchteten Norweger Wolf hatte Cymbra ihr zweites Ich gefunden.
Vor wenigen Monaten war ihr Sohn auf Hawkforte zur Welt gekommen, allseits freudig begrüßt – nicht zuletzt, nachdem dieses Ereignis den kampflustigen Wolf daran gehindert hatte, die Festung Planke um Planke und Stein um Stein auseinander zu nehmen. Diese Rache hatte er Hawk für Cymbras unsinnige Entführung angedroht.
Erstaunlicherweise waren alle Streitigkeiten vergessen, seit die Norweger und Sachsen beschlossen hatten, die Dänen mit vereinten Kräften zu bekämpfen. Hawks und Krystas Ehe sollte das Bündnis zusätzlich festigen. Auch Dragon würde nicht mehr allzu lange ledig bleiben.
»Wenn der kleine Lion brüllt, erschüttert er immer noch die Mauern von Sciringesheal. Glücklicherweise besitzt er ein heiteres Gemüt und schreit nur selten. Cymbra ist natürlich eine wundervolle Mutter und eine ebenso gute Ehefrau. Und Wolf? In seiner Selbstzufriedenheit zerrt er manchmal an meinen Nerven. Kaum zu glauben, dass man ihn früher die Geißel der Sachsen nannte...«
»Du weißt ja, was die Leute sagen«, entgegnete Hawk achselzuckend, »gezähmte Ungeheuer geben die besten Ehemänner ab. Weil wir gerade beim Thema sind – hat dein Bruder noch keine Braut für dich gefunden?«
Erschrocken zuckte Dragon zusammen und nahm einen großen Schluck Ale. »Ich erklärte ihm, ich würde mir eine süße kleine Frau wünschen, die im Winter meine Füße warm reibt und mir Söhne schenkt und mich nicht mit Widerworten ärgert. Da meinte er, die würde mich zu Tode langweilen, noch ehe der Brautstrauß verwelkt. Wegen unserer unterschiedlichen Ansichten wird’s wohl noch eine Weile dauern, bis mir das Ehejoch droht. Außerdem ist Wolf im Augenblick eher an dir interessiert.« Nach einer kurzen Pause fragte er: »Hast du eine besondere Nachricht erhalten?«
»Letzten Monat bekam ich einen Brief von Cymbra«, antwortete Hawk mit unschuldiger Miene. »Sie hofft, Wolf zu einem baldigen Besuch in Hawkforte zu überreden. Darüber würde ich mich freuen, vorausgesetzt, er bringt kein angriffslustiges Heer mit.«
»Wie nett. Aber ich wollte auf deine bevorstehende Hochzeit anspielen.«
»Ach so...«, murmelte Hawk. »Dein Bruder war so freundlich, den Ehevertrag auszuhandeln. Deshalb hatte ich nicht viel damit zu tun. Ich nehme an, alles ist in Ordnung mit... Wie heißt sie doch gleich? Kwirka? Klonka?«
»Krysta«, verbesserte ihn Dragon. »Lady Krysta von Vestfold. Sicher wäre es hilfreich, wenn du dir den Namen deiner Verlobten merken könntest.«
Hawk nickte ernsthaft. »In solchen Dingen beuge ich mich deiner reichlichen Erfahrung. Wie lange bleibst du hier? Wollen wir auf die Jagd gehen?«
»Nur zu gern. Aber was Lady Krysta betrifft...« Die Stirn gerunzelt, stellte Dragon seinen Becher auf den Tisch. »Da scheint’s ein kleines Problem zu geben.«
»Was für ein Problem? Ich vermute, das Mädchen ist passabel, und alles wird so ablaufen wie geplant. Oder erwartest du etwas anderes?«
»O nein, angeblich ist deine Braut ganz reizend. Und abgesehen von dieser kleinen Komplikation... Also, ihr Halbbruder Sven, offenkundig ein Schwachkopf und ein elender Taugenichts, weiß nicht genau, wo sich das liebe Mädchen derzeit befindet.«
In vollen Zügen genoss Hawk die Situation. Seit seiner ersten Begegnung mit den Brüdern Hakonson – Wolf und Dragon – war er mehrmals ohne eigenes Zutun in schlimme Turbulenzen geraten. Dafür wollte er sich rächen, und es bereitete ihm ein ungeheures Vergnügen, wenigstens eine Zeit lang zu beobachten, wie sich Dragon am Rand einer diplomatischen Katastrophe wand. »Deutest du etwa an, die Lady sei ihm abhanden gekommen?«, fragte er in gespieltem Entsetzen.
»Nein, natürlich nicht! Der Bursche ist ein Schwachkopf. Zweifellos liegt ein Missverständnis vor. Ich dachte, vielleicht – nur vielleicht – wäre sie mittlerweile hier eingetroffen. Offensichtlich nicht.« Dragon unterbrach sich, denn Hawks glitzernder Blick erregte seinen Argwohn. »Oder hast du sie schon gesehen?«
»Seltsam, jetzt, wo du’s erwähnst... In der Tat, etwas Merkwürdiges ist geschehen. Drei von Lady Klonkas Dienstboten...«
Sekundenlang schloss Dragon die Augen und bat die Götter um Geduld. Deshalb entging im Hawks Grinsen. »Lady Krysta.«
»Wie auch immer, drei ihrer Dienstboten kamen nach Hawkforte. Ein sonderbarer kleiner Kerl, der wie ein Troll aussieht, eine Frau namens Raven und ein ebenso eigenartiges Mädchen mit dunklen Haaren, die in nassem Zustand schwarze Farbe absondern.«
Verwirrt schüttelte Dragon den Kopf. »Was?«
»In Wirklichkeit ist sie blond. Kurz nach ihrer Ankunft entpuppte sich diese Dienerin als Lady Klonka...«
»Krysta!«
»...und sie hatte den unglaublichen Plan geschmiedet, sich zu verkleiden, weil sie mich vor der Hochzeit besser kennen lernen wollte.«
Dragon blinzelte entgeistert. »Sag mir, dass du diese Geschichte erfunden hast!«
»Das könnte ich gar nicht. Du bist doch der Mann, der über eine blühende Fantasie verfügt.«
»Also ist sie hier?«
»Allerdings.«
»Gelobt seien die Götter, die das zu Wege brachten!«, rief Dragon leidenschaftlich. »Ich dachte schon, Wolf würde Lady Krystas Halbbruder in Stücke reißen, als der Narr in Sciringesheal auftauchte und verkündete, sie sei verschwunden.«
»Wahrscheinlich hätte er’s verdient, aber wir sollten den armen Burschen eher bemitleiden. Seine Schwester ist – etwas ungewöhnlich.«
»Wie Wolf mir erklärt hat, ist sie hübsch, spricht mit sanfter Stimme und hat schöne Augen. Er fügte sogar hinzu, wenn sie eine Sächsin wäre, würde er sie mit mir verheiraten.«
»Vergiss es!«, stieß Hawk hervor und erhob sich halb von seinem Stuhl. Dann bezwang er seinen Zorn und nahm wieder Platz. Aber Dragon hatte den Wutausbruch schon bemerkt.
»Freut mich, dass ihr beide euch so gut versteht«, bemerkte der Wikinger grinsend.
»Das habe ich nicht gesagt. Sie ist nur eine Frau. Und ziemlich ungebärdig.«
Mit einiger Mühe zügelte Dragon seinen Lachreiz. »Gerade solche Frauen sind besonders reizvoll.«
»Dir mag das komisch erscheinen. Mir nicht. Ich hatte bereits eine Gemahlin, der ich nicht trauen konnte. Mit so einer will ich mich nicht noch einmal abplagen. Ich werfe meiner Braut keineswegs vor, sie sei nicht ehrenwert. Sie ist nur unvernünftig. Als Dienerin verkleidet hierher zu kommen – das war albern und leichtfertig.«
»Und mutig. Findest du das so schrecklich?«
»Mir wäre es lieber, sie würde ihren Verstand benutzen. Sie ist unberechenbar.«
Verständnisvoll nickte der Mann, der die Frauen anbetete. »Ah, du strebst nach Ruhe und Ordnung. Bloß keine Überraschungen! Stattdessen ein beschaulicher Alltag, Langeweile...«
»Hättest du so unruhige Zeiten erlebt wie ich, würdest du die Langeweile geradezu herbeisehnen.« Mit allen Fingern strich Hawk durch sein Haar, das er schon zuvor in eine hoffnungslos zerzauste Mähne verwandelt hatte. »Heute fiel sie ins Meer. Ich dachte, sie würde ertrinken, und ich fühlte mich... So genau weiß ich’s nicht. Jedenfalls war’s grauenhaft.«
»Ist ihr etwas zugestoßen?«, fragte Dragon besorgt.
»Natürlich nicht. Sie schwimmt wie ein Fisch. Lachend tauchte sie auf und wollte unbedingt im Wasser bleiben. Von ihrer Kleidung behindert, meinte sie sogar, sie müsste sich bis aufs Hemd ausziehen. Was für eine großartige Idee!«
»Ist sie wirklich so naiv?«
»Sieht so aus. Nach allem, was ich bisher erfahren habe, wurde sie ziemlich unkonventionell erzogen.«
Nun gab Dragon seine Zurückhaltung auf und begann schallend zu lachen. Als er wieder zu Atem kam, stöhnte er: »Hübsch, mit sanfter Stimme, schöne Augen, unberechenbar und eine süße Unschuld. Jetzt verstehe ich dein Problem, mein Freund. Ich glaube, ich werde eine Weile hier bleiben. Diesen Spaß lasse ich mir nicht entgehen.«
»Oh, deine Anteilnahme überwältigt mich. Aber bedenk bitte – dich wird’s auch bald treffen.«
Das ernüchterte Dragon ein wenig. Doch seine gute Laune kehrte sofort zurück, denn die rothaarige Dienerin schlenderte wieder am Tisch vorbei. Anerkennend schaute er ihr nach. »Vielleicht wird mich die Schicksalsgöttin noch eine Zeit lang verschonen.«
Mag sein, dachte Hawk. Trotzdem wird sie keine Gnade kennen, wenn es so weit ist. Und dann wirst du genauso leiden wie ich heute, als ich dachte, Krysta würde sterben. Geistesabwesend bedeutete er dem rothaarigen Mädchen, noch einen Krug Ale zu bringen. Wie lange würde es dauern, bis der Sturm losbrach, der sich – das spürte er seit Tagen – über Hawkforte zusammenbraute?
Noch ein Herzschlag – noch ein Atemzug. Wenn sich diese Kreatur mit dem scharlachroten Kopf dann noch immer nicht zurückzog, wusste Krysta nicht, was sie tun würde. Sicher nichts, was weiblichen Tugenden wie Sanftmut und Duldsamkeit entsprechen mochte. Dauernd stolzierte diese Frau vor Hawk auf und ab. Ein Wunder, dass ihn diese Hüftschwünge nicht vom Stuhl warfen! Oder versuchte sie in sein Auge zu stechen, mit diesem Ding, das ein tiefer Ausschnitt entblößte? Krysta blinzelte. Sah sie wirklich und wahrhaftig eine Brustwarze?
Heller Zorn besiegte die geplante Diskretion. Eigentlich war sie nur die Treppe herabgeschlichen, um den Besucher zu mustern, ohne sich zu zeigen. Aber jetzt vergaß sie diese Absicht. Zu ihrer Erleichterung hatte sie von Raven erfahren, die Schiffe würden weder kriegerischen Dänen noch ihrem Halbbruder gehören. Wenige Sekunden später war die Freude verflogen, denn die Freundin hatte berichtet, Wolfs Bruder sei eingetroffen, der gefürchtete Lord Dragon von Landsende. Zweifellos hatte man ihre Abreise aus Vestfold bemerkt, und das bedeutete, dass sie sich in ernsthaften Schwierigkeiten befand. Doch daran konnte sie jetzt nicht denken – nur an ihren wachsenden Zorn.
Tatsächlich – eine Brustwarze. Was für eine Unverschämtheit!
»Hawk!«, rief sie.
Verwirrt wandten sich beide Männer zu ihr. Krysta nahm ihren ganzen Mut zusammen, eilte zur Tafel und warf der rothaarigen Schlampe einen Blick zu, der sie versteinern musste. Stattdessen grinste das Mädchen und hob eine glatte Schulter, so dass die Bluse noch tiefer hinabrutschte.
Hawk bemerkte Krystas Zorn, der nur einem Blinden entgangen wäre. Doch er hatte keine Ahnung, warum sie sich ärgerte.
Hastig stand er auf und reichte ihr eine Hand. »Krysta, kennst du Lord Dragon, den Jarl von Landsende?«
»Nein, aber ich habe von ihm gehört«, erwiderte sie und gönnte dem Gast nur einen kurzen Blick. »Hawk, ich – ich wollte dir für den wundervollen Ausritt danken. Vielleicht könnten wir dieses Erlebnis wiederholen – schon bald.« Jetzt lehnte die rothaarige Dienerin am Tisch und raffte ihren Rock, um einen schlanken Fußknöchel und eine wohlgeformte Wade zu entblößen. »Jetzt gleich?« Etwas zu spät erinnerte sich Krysta an Lord Dragons Anwesenheit und ihre Manieren. »Wenn dein Besucher nichts dagegen hat...«
»Überhaupt nichts.« Grinsend sprang Dragon auf und schlang einen Arm um die Taille des rothaarigen Mädchens. »Ich werde schon eine Beschäftigung finden. Nicht wahr, meine Süße?«, fragte er die Dienerin, die sich hingerissen an ihn schmiegte.
»Oh, gewiss, Mylord«, gurrte sie.
»Seht ihr? Macht nur, was ihr wollt, ihr beiden. In den nächsten Stunden werde ich euch wohl kaum vermissen. Oder in den nächsten Tagen. Nehmt bloß keine Rücksicht auf mich!«
Erst jetzt erkannte Krysta, dass sie die Situation missverstanden hatte. »Lord Dragon, Ihr seid sehr großzügig.«
»Keineswegs, mein liebes Mädchen, nur vernünftig. Da seid Ihr, und Hawk kommt auch ohne mich sehr gut zurecht, der Hochsommer hat begonnen, und ich sehe keinen Grund, diese schöne Jahreszeit nicht zu genießen.«
Nun betrachtete sie den Mann, den alle Frauen entzückt anzustarren pflegten, etwas genauer. Sehr attraktiv, dachte sie, aber mit Hawk kann er sich nicht messen. Zu ihrer Verblüffung wirkte er nett und freundlich, trotz seines Furcht erregenden Rufs. Und was den Sommer anging, hatte er völlig Recht. Diese kostbaren warmen Stunden musste man nutzen und sich an dem hellen Sonnenschein freuen oder sehnsüchtig unter dem milden Sternenhimmel seufzen.
Lächelnd wandte sie sich zu ihrem Bräutigam und schaute in seine blauen Augen, die seine Verwunderung nicht verhehlten. »Ich kenne ein Plätzchen, wo die wilden Erdbeeren schon reif sind.«
Natürlich folgte er ihr aus der Halle. Welcher Mann könnte ihr widerstehen? Hinter ihnen lachte Dragon froh und erleichtert. Vielleicht auch ein bisschen neidisch. Aber daran durfte er nicht denken. Außerdem hatte das rothaarige Mädchen einiges zu bieten.
Dragon blieb eine Woche auf Hawkforte. Tagsüber ging er mit Hawk zur Jagd, segelte mit ihm aufs Meer hinaus oder beteiligte sich an den Waffenübungen. Inzwischen hatte die Ernte begonnen. Fast alle Bewohner von Hawkforte außer den Rittern arbeiteten auf den Feldern. Der Festungsherr hatte bekannt gegeben, er würde Lady Krysta erst nach der Ernte heiraten. Diese Entscheidung nahmen die Leute bereitwillig hin, da sie auf einer alten Tradition beruhte.
Jeden Abend versammelten sie sich in der Halle, um Dragons wunderbaren, unglaublichen Geschichten zu lauschen, die alle gefangen nahmen. Sogar die sächsischen Barden lehnten sich genüsslich zurück und hörten dem Mann zu, in dem sie einen wahren Meister erkannten. Wenn ihn das Schicksal auch zum Krieger bestimmt hatte, war er doch ein geborener Skalde.
Er berichtete von der Entstehung Asgards, wo die Götter hausten. Durch die Brücke Bifröst, die den Menschen als Regenbogen erschien, war dieser Wohnsitz mit der Erde verbunden. »Nachdem die Götter ihre Feinde, die Riesen, besiegt hatten«, erklärte Dragon seinem faszinierten Publikum, »beschlossen der große Gott Odin und seine Gefährten Hoenir und Lodur, aus Baumstämmen sterbliche Wesen zu erschaffen. Den ersten Mann nannten sie Ask, dem sie Kraft und Macht verliehen, und seine Gemahlin Elm, die ihm getreulich zur Seite stehen sollte. Im Mittelpunkt der Welt ragt die Esche Yggdrasil empor. Bis in die Tiefe der Erde reichen ihre Wurzeln hinab, ihre Zweige erheben sich zum Himmel. Von ihren Blättern ernährt sich Odins Lieblingshengst Sleipnir. Der Ort, den Yggdrasil überschattet, ist heilig. Dort versammeln sich die Götter jeden Tag, um Entscheidungen zu treffen. Im fernen Donnergrollen, das manchmal am Himmel dröhnt, kann man ihre Stimmen hören.«
All diese Geschichten kannte Krysta, obwohl sie im christlichen Glauben aufgewachsen war. Trotzdem gefiel es ihr, die vertrauten Legenden aus Dragons Mund zu hören, denn er schilderte jene Ereignisse so fesselnd und lebhaft, wie sie es nie zuvor vernommen hatte. Zu anschaulich für den Geschmack Vater Elberts und Darias, die unentwegt die Stirn runzelten, die Köpfe zusammensteckten und sich über das heidnische Geschwätz beschwerten. Doch Dragons Wikinger beachteten sie ebenso wenig wie die Sachsen, die an die schlechte Laune der beiden gewöhnt waren.
Das Wetter blieb warm und mild. Meistens aßen sie draußen im Hof, an langen Tischen, von Fackeln beleuchtet, die lästige Insekten fern hielten. Die Nächte waren sternenklar. Am letzten Abend seines Aufenthalts erzählte Dragon vom Vollmond angeregt die folgende Geschichte:
Nachdem die Götter eine Zeit lang in Asgard gelebt hatten, stellten sie fest, dass kein Schutzwall ihr Heim umgab. Trotz ihrer Macht dachten sie an den wilden Kampfgeist der Riesen und fragten sich, ob sie ohne Mauer vor diesen gefährlichen Feinden sicher wären. Als sie darüber sprachen, erschien ein Fremder in Asgard, er erbot sich, eine starke Mauer rings um den Wohnsitz zu errichten, und erklärte, innerhalb eines Jahres würde er den Bau vollenden. Die Götter wollten zustimmen. Aber Odin, der Weiseste von allen, fragte nach dem Preis.
Kühn trat ihm der Fremde gegenüber und antwortete: »Wenn ich die Mauer gebaut habe, gebt mir Frigg, die schönste Göttin. Außerdem verlange ich die Sonne und den Mond.«
Odin geriet in hellen Zorn. Niemals würde er dem Fremden eine Göttin überlassen, seine eigene Gemahlin. Gewiss, er stritt sehr oft mit Frigg. Aber sie gehörte ihm, und er wollte sie behalten. So beschloss er, den Fremden fortzuschicken. Doch da meldete sich der listenreiche Gott Loki zu Wort und schlug vor, der Fremde solle den Wall errichten, allerdings in einem halben Jahr. Sicher würde ihm das misslingen, und die Götter würden wenigstens eine halbe Mauer umsonst erhalten.
Nur widerstrebend ging Odin darauf ein, obwohl Frigg goldene Tränen vergoss.
Fast ein halbes Jahr verstrich. Zum Entsetzen der Götter war die Mauer beinahe fertig gestellt. Bald würde der Fremde nicht nur Frigg, sondern auch die Sonne und den Mond für sich beanspruchen.
Glücklicherweise wusste Loki Rat. »Der Fremde braucht sein starkes schwarzes Pferd, das die Steine zum Wall schleppt. Wenn ich diesen Rappen weglocke, bleibt die Mauer unvollendet.« Und so verwandelte sich Loki in eine schöne weiße Stute. Wie erwartet, folgte ihr der schwarze Hengst in den Wald. Als der Fremde bemerkte, dass sein Pferd verschwunden war und der Mauerbau nicht fortgesetzt werden konnte, legte er vor lauter Wut seine Verkleidung ab und gab sich als Riese und Erzfeind der Götter zu erkennen. Odin rief Thor zu sich, den stärksten aller Götter, der mit seinem Hammer auf den Kopf des Riesen schlug und einen gewaltigen Donner am Himmel dröhnen ließ. Da floh der verwundete Riese aus Asgard, die Götter bauten die restliche Mauer selbst, und letzten Endes verzieh Frigg ihrem Gemahl, der sie fast verkauft hätte. Nach einer Weile kehrte Loki zurück – begleitet von einem wundervollen Rappen mit acht Beinen, den er Sleipnir nannte und Odin schenkte. So erhielten die Götter ihren Schutzwall und Odin seinen kraftvollen Hengst.
»Mal sehen...«, begann Hawk, nachdem der Beifall der Zuhörer verklungen war. »Als weiße Stute getarnt, lockte Loki einen schwarzen Hengst in den Wald und kehrte etwas später mit einem achtbeinigen Rappen zurück. Wurde er jemals gefragt, wie Sleipnir entstanden war?«
»Wohl kaum«, entgegnete Dragon grinsend, »jedenfalls sprach er nie darüber. Wie wir alle wissen, wird so mancher Betrüger mit seinen eigenen Waffen geschlagen.« Viel sagend schaute er Krysta an. »Wenn er Glück hat, kommt er ungeschoren davon.«
Trotz seines freundlichen Blicks verstand sie die Anspielung. Sie hatte Hawk hintergangen und musste sich glücklich schätzen, weil sie einer Strafe entronnen war. Nur eine Närrin würde das Schicksal – und den Herrn von Hawkforte – erneut herausfordern. »Loki scheint seine Lektion nie zu lernen«, meinte sie leise, zu Hawk gewandt. »Da sind die Menschen etwas klüger.«
Was sie ihm damit zu verstehen gab, gefiel ihm, und das wollte er ihr sagen. Aber Edvard ließ ihn nicht zu Wort kommen. Vom Lächeln der hübschen Aelfgyth ermutigt, hatte der junge Verwalter etwas zu viel getrunken und vergaß seine übliche Zurückhaltung. »Und wie soll man Odin beurteilen?«, rief er. »Die Bereitschaft, seine Frau gegen eine Mauer einzutauschen – selbst wenn er hoffen durfte, die würde nicht fristgemäß fertig gestellt. Das war ziemlich leichtfertig.«
»Gewiss«, stimmte Dragon zu. »Aber Odin weiß einfach nicht, wie er mit Frigg umgehen muss. Dauernd ärgert er sie, stachelt sie an, und sie begehrt gegen ihn auf.«
»Bliebe er öfter am heimischen Herd«, bemerkte Krysta, »von seinem eigenen Bett ganz zu schweigen, müsste er nicht überlegen, wie er mit Frigg umgehen soll. Und sie würde ihm nicht trotzen...« Schon in der nächsten Sekunde hätte sie sich am liebsten die Zunge abgebissen. Wie man ihre Worte auffassen würde, wusste sie nur zu gut. Hawk mochte es widerstrebend hinnehmen, wenn sie ihm unter vier Augen erklärte, der Weg zum Frieden würde nicht durch die Betten anderer Frauen führen. In der Öffentlichkeit konnte er solche Andeutungen nicht dulden. »Was ich damit ausdrücken möchte...«
»Das wissen wir alle«, unterbrach er sie. Zu ihrer Überraschung lächelte er. Dann neigte er sich zu ihr und flüsterte in ihr Ohr: »Eine Frau muss sehr zuversichtlich sein, so viel zu wagen. Fühlst du dich dem Kampf gewachsen, den du anzettelst?«
Dunkle Röte stieg ihr in die Wangen, und Hawk musterte sie voller Genugtuung. Natürlich war sie ihrer Sache nicht sicher, denn sie hatte keine Erfahrungen mit Männern gesammelt und konnte ihre Fähigkeiten in heiklen Situationen nicht beurteilen. Doch das würde sie niemals zugeben. Gelassen zuckte sie die Achseln. »Ich glaube, das hängt von dir ab...«
Fasziniert beobachtete sie die Glut der Leidenschaft, die in seinen Augen aufflammte. Er erhob sich halb von seinem Stuhl, als wollte er sie sofort, vor aller Augen, in sein Schlafzimmer zerren. Doch da ergriff Dragon wieder das Wort. »Dieses Gerede von ehelichen Schwierigkeiten erinnert mich an eine andere Geschichte. Die erzählte mir ein Ire, den ich in Byzanz traf. Er schwor, es handle sich um eine wahre Begebenheit, und er behauptete sogar, den armen Burschen zu kennen, dem dies alles widerfahren sei.«
Eines Tages fuhr der mächtige Herr eines irischen Clans in seinem Coracle – einem Boot aus mit Häuten überzogenem Weidengeflecht – aufs Meer hinaus. Allein und ungestört, fern vom Leben und Treiben in seinem Schloss, wollte er über ein Problem nachdenken. Er musste heiraten, konnte sich aber für keine junge Frau entscheiden. Da gab es so viele. Manchmal fühlte er sich zu dieser hingezogen, dann zu jener. Doch er kannte seine Pflicht. Und während er über die Bucht vor seinem Familiensitz ruderte, überlegte er, wie er vorgehen sollte. Vor seinem geistigen Auge erschien die Tochter eines benachbarten Clan-Häuptlings. Und plötzlich sah er eine seltsame Gestalt durch die Wellen herangleiten. Verwirrt richtete er sich in seinem Coracle auf, warf zielsicher sein Fischernetz ins Wasser und fing das Geschöpf ein, obwohl es zu fliehen suchte.
Als er seine Beute ins Boot zog, erblickte er zu seiner Verblüffung eine bildschöne junge Frau. Nur ihr ebenholzschwarzes Haar bedeckte ihre milchweiße Haut, und erfand sie so begehrenswert wie keine der anderen, die er je gesehen hatte. Spontan beschloss er, sie zu heiraten. Er führte sie in sein Schloss und stellte sie seinem Clan vor. Obwohl seine Verwandten staunten, erhoben sie keine Einwände. Und so vermählte er sich mit seiner Meerjungfrau. Bald schenkte sie ihm starke, gesunde Söhne und Töchter. Alles schien in bester Ordnung, außer einer seltsamen Angewohnheit des Festungsherrn. Regelmäßig, im Abstand weniger Tage, suchte er einen Ort auf, den niemand außer ihm kannte. Dort blieb er nur kurze Zeit, und jedes Mal, bevor er das Schloss verließ, befahl er seinen Wachtposten, seine Gemahlin in ihrem Zimmer einzusperren, damit sie ihm nicht folgen konnte. So verstrichen einige Jahre, bis sie schließlich ihrer ältesten Tochter auftrug, dem Vater zu jenem geheimen Ort nachzuschleichen.
Die Tochter gehorchte und erzählte der Mutter bei der Rückkehr, er würde in eine kleine Höhle gehen, nicht weit vom Familiensitz entfernt, und sie habe nicht gewagt, ihm hineinzufolgen. Doch das störte die Mutter nicht. Sie dankte dem Mädchen, küsste es zärtlich und beteuerte, sie würde es innig lieben, ebenso die anderen Kinder.
Am nächsten Morgen verschwand sie und wurde nie mehr gesehen. Nur das Kleid, das sie getragen hatte, fand man vor der Höhle, die ihr Ehemann seit Jahren besuchte. Während die Kinder um sie weinten, gestand der Vater die Wahrheit. Im Netz, mit dem seine Braut gefangen worden sei, habe er noch etwas anderes entdeckt – die Haut einer Robbe. Was das bedeutete, hatte er sofort gewusst und erkannt, nämlich dass die schöne Maid ein Skelkie war, ein Fabelwesen, halb Mensch, halb Robbe. Nur wenn sie die Robbenhaut nicht zurückgewann, würde sie bei ihm verweilen. Er versteckte die Haut in der Höhle und befeuchtete sie alle paar Tage, denn sie musste in gutem Zustand bleiben. Sonst würde seine Frau sterben. Da er sie nicht verlieren wollte, hielt er das Versteck der Robbenhaut geheim. Wenn ein Skelkie seine Haut wiederfand, musste es ins Meer heimkehren. Das hatte seine Gemahlin letzten Endes getan. Bis zu seinem Lebensende ging er täglich ans Meer, hielt nach ihr Ausschau und hoffte, sie würde zu ihm zurückkommen. Manchmal sah er weit draußen in den Wellen eine schemenhafte Gestalt, die seinen Blick erwiderte. Doch sie näherte sich kein einziges Mal.
»Was für eine seltsame Geschichte«, meinte Hawk nachdenklich. Er hatte schon viele merkwürdige Erzählungen gehört. Aber diese übertraf alle anderen. Wenn er sie auch nicht für bare Münze nehmen wollte, musste er doch zugeben, dass sich gerade die sonderbarsten Geschichten als wahr herausstellten. Zum Beispiel behauptete man, im Westen liege eine Insel voller Berge, die feurigen Schlamm ausspeien würden. Welcher vernünftige Mensch würde so etwas glauben? Doch er kannte Männer, an deren Verstand er nicht zweifelte, und die schworen, sie hätten das Schauspiel mit eigenen Augen gesehen.
Seinen Gast schienen ähnliche Gedanken zu bewegen. »Sicher, das klingt unwahrscheinlich. Aber wer weiß? Und wenn es solche Geschöpfe irgendwo gibt, dann wohl nur in Irland. Warst du jemals dort?«
»Nein«, erwiderte Hawk, und er nahm auch nicht an, er würde jemals in dieses Land reisen. In England hatte er alle Hände voll zu tun, um Alfred in seinem Streben nach Recht und Ordnung zu unterstützen,
»Die Norweger halten eine Stellung in Dubh Linn«, fuhr Dragon fort. »Wenn es den Iren nicht gelingt, ihre zahlreichen Clans zu vereinen, werden sie vermutlich noch weitere Teile ihrer schönen Insel verlieren.«
»Was veranlasst euch Wikinger, immer neue Gebiete zu erobern?« Mit dieser Frage wollte Hawk den Freund nicht beleidigen. Er war einfach nur neugierig. Die Dänen glaubte er zu verstehen, denn sie wurden von der gleichen Gier nach Reichtum und Macht getrieben wie viele Sachsen. Doch die Norweger, mit den Dänen verwandt, trachteten vor allem nach Landbesitz.
»Vielleicht, weil es uns an Grund und Boden mangelt«, entgegnete Dragon kein bisschen gekränkt. »Wir bewohnen ein schönes, aber raues Land. Nur in den kurzen Sommermonaten gedeiht ein bisschen Gemüse. Im Winter können wir nicht einmal die Früchte des Meeres ernten. Unsere Familien sind traditionsgemäß sehr groß. Deshalb müssen manche Wikinger ihren Lebensunterhalt woanders bestreiten.«
Diese Erklärung klang einleuchtend. Während Hawk darüber nachdachte, sah er seine Braut plötzlich erbleichen. Da der Mond hell genug schien, waren Fackeln überflüssig. Im Silberlicht wich alles Blut aus Krystas Wangen. Die Lippen zusammengepresst, starrte sie auf ihre Finger hinab, die sie im Schoß ineinander schlang. Warum wirkte sie so bedrückt? »Stimmt was nicht?«, fragte er.
Mit großen Augen schaute sie ihn an. Bestürzt las er kalte Angst in ihrem Blick. »Ich bin nur müde«, antwortete sie und lächelte gezwungen.
Daran glaubte er keine Sekunde lang. Irgendetwas bekümmerte sie. Was mochte es sein? Aufmerksam musterte er die Tischgesellschaft. Daria und Vater Elbert steckten die Köpfe zusammen und runzelten die Stirn. Im Verhalten der beiden entdeckte er nichts Ungewöhnliches. Eine hübsche Dienerin saß auf Edvards Knien. Fröhlich schwatzte das junge Paar. Hawks Ritter tranken und lachten mit den norwegischen Gästen. Da gab es nichts, was ihm auffallen müsste. An einem anderen Tisch saßen die sonderbaren Dienstboten seiner Verlobten, Thorgold und Raven, offensichtlich zufrieden. Was sonst...? Er überdachte, was in den letzten Minuten geschehen war, doch er erinnerte sich an nichts, das Krystas seltsames Benehmen verursacht haben könnte. Gewiss, Dragon hatte sie mit ihrem Täuschungsmanöver geneckt – mit ihrer Ankunft als ihre eigene Magd. Doch das war ihr nicht allzu nahe gegangen. Und inzwischen schien sie auch nicht mehr zu bereuen, dass sie ihre Sympathie für Frigg bekundet hatte. Was quälte sie jetzt? Zeigte er sein Verlangen nach ihr zu deutlich? Bei jenem Kuss im Stall hatte er nicht den Eindruck gewonnen, sie würde seine Leidenschaft fürchten.
Schließlich sagte er sich, sie sei ein unerfahrenes junges Mädchen, erst vor kurzer Zeit in einem fremden Land eingetroffen – die Braut eines Unbekannten, dem man sie ohne Rücksicht auf ihre Gefühle versprochen hatte, der über ihre Zukunft bestimmen würde. Dass dieses Schicksal unzählige Frauen ereilte, war wohl nur ein schwacher Trost.
Widerstrebend dachte er an seine erste Frau. Seit jener kurzen Ehe waren viele Jahre verstrichen, und er erinnerte sich nur verschwommen an ihr Gesicht, aber umso besser an ihre Furcht vor der Hochzeitsnacht. Auch danach war sie immer wieder vor ihm zurückgeschreckt.
Bei aller Bescheidenheit durfte er sich rühmen, dass er sie sanft und behutsam behandelt hatte. Trotzdem war es ihm nicht gelungen, ihr die Angst zu nehmen. Musste er eine so unglückliche Ehe erneut verkraften? Diese Vorstellung erfüllte ihn mit Grauen. Um das zu verhindern, war er zu allem bereit. Notfalls würde er sogar die Begierde zügeln, die ihn seit der ersten Begegnung mit seiner nordischen Braut peinigte. Bis er sicher sein konnte, sie würde seine Glut teilen...
Seufzend starrte er vor sich hin. Nur wenige Männer würden einen solchen Entschluss fassen. Aber er war ein erprobter, disziplinierter Kriegsherr, der zahlreiche Männer kommandierte. Also würde er verdammt noch mal die erforderliche Geduld aufbringen. Mit diesem grimmigen Gedanken leerte er seinen Becher und protestierte nicht, als ein Diener ihm frisches Ale einschenkte.