Читать книгу Wikinger der Liebe / Wikinger meiner Träume - Josie Litton - Страница 14
Kapitel 8
Оглавление»Da geheimnisst Ihr zu viel hinein«, schimpfte Raven. »Es ist nur eine Geschichte. Mehr nicht. Warum nehmt Ihr’s Euch so zu Herzen?«
Krysta wandte ihren Blick vom Meer ab. An diesem Morgen waren Dragons Schiffe mit der Ebbe ausgelaufen. Aber seine Worte beunruhigten sie immer noch. Sie hatte schlecht geschlafen. Jetzt schmerzte ihr Kopf. »Du hast die Geschichte gehört. Meinst du wirklich, er hat sie einfach nur erzählt – rein zufällig?«
»Genau das meine ich.«
»Bevor er damit begann, spielte er auf meine Maskerade an.«
Stöhnend schwenkte Raven ihre dünnen Arme durch die Luft und sank neben Krysta auf die Fensterbank. »Das eine hängt nicht mit dem anderen zusammen. Glaubt mir, er hat keine Ahnung.«
»Vielleicht ist ihm etwas zu Ohren gekommen. Das würde mich nicht wundern. Nach Vaters Tod posaunte Sven in alle Welt hinaus, was geschehen war – bis er herausfand, dass sich der Jarl von Sciringesheal für mich interessierte. Erst da hielt mein Bruder den Mund. Aber wer weiß, welchen Schaden er zuvor angerichtet hat?«
Raven berührte Krystas Hand. »Immerhin seid Ihr hier. Würde Wolf Hakonson seinem Schwager eine übel beleumundete Braut schicken, um den Frieden zu sichern?«
»Sogar die Nornen würde er nach Hawkforte schicken, wenn er hoffen dürfte, dass sie seinen Zwecken dienen.«
Raven kicherte. »Ah – wilde Furien, die entscheiden, wer am Leben bleibt und wer sterben muss, würden ihm nichts nützen.« Liebevoll betrachtete sie ihren Schützling. »Da eignet sich eine hübsche junge Lady, die das Herz eines Kriegers gewinnt, viel besser.«
»Schön und gut, aber ich sage dir, Lord Dragon weiß Bescheid. Zumindest misstraut er mir. Warum hat er Hawk nichts erzählt?«
»Was denn? Das Märchen, das Euer alberner Halbbruder erfunden hat? Wenn Lord Sven verkündet, der Himmel sei blau, steckt ein kluger Mann den Kopf zum Fenster raus, um nachzusehen, ob das stimmt. Jeder durchschaut den Herrn von Vestfold. Und Lord Dragon ist kein Narr.«
»Oh, er braucht gar nicht zu wissen, was Sven sagte. Diese Geschichte kann er überall gehört haben. So was spricht sich schnell herum.«
»In letzter Zeit macht Ihr Euch ständig Sorgen.« Ravens Augen verengten sich. »Aus welchem Grund?«
»Das verstehe ich selber nicht. Nur eins wird mir allmählich klar – ich bin nicht mehr ich selbst. Irgendetwas geschieht mit mir. Das würde ich gern verhindern. Aber es steht wohl nicht in meiner Macht.«
Voller Mitleid versuchte Raven ihre Herrin aufzumuntern. »Wieso seid Ihr nicht mehr Ihr selbst? Seit der Abreise aus Vestfold habt Ihr Euch kein bisschen verändert.«
»Doch, ich fühle mich wie eine Fremde in meiner eigenen Haut.« Vor dem Fenster überspülten sanfte Wellen den Strand. Kein Hauch bewegte die Luft.
Wie die Stille in Krystas Herzen, wie ein angespanntes Warten...
»Nun, Ihr seid an einem fremden Ort«, betonte Raven. »Natürlich wirkt sich das auf Euer Seelenleben aus.«
»Nein...«, begann Krysta zögernd. »Daran liegt es nicht. Was immer ich tue, ob ich aufwache oder esse oder Edvard zuhöre, ich muss unablässig an Hawk denken.«
»So?«, fragte Raven erstaunt. »Warum?«
»Weil ich ihn heiraten werde. Ist das kein ausreichender Grund?«
»Doch, vermutlich. Aber was gibt’s da zu bedenken? Er ist nur ein Mann.«
»Nur?« Krysta lachte. »Könnte ich ihn bloß so sehen wie du!«
Eine Zeit lang schwieg Raven und strich ihr Kleid glatt, dann gestand sie: »Darauf hätte ich Euch vorbereiten sollen. Eurer Mutter ging’s genauso.«
»Wirklich?«, fragte Krysta verblüfft. Von ihrer Mutter wurde so selten gesprochen, dass sie sich die Vergangenheit kaum vorstellen konnte. »Ich weiß, sie wünschte sich die Liebe meines Vaters. Und die konnte er ihr nicht geben...«
»Er war ein guter Mann. Doch sein Herz gehörte der Pflicht. Für die Liebe war kein Raum darin.«
»Trotzdem liebte sie ihn.«
»Weil ihr gar nichts anderes übrig blieb. Dass ich’s verstehe, will ich nicht behaupten. Manche Leute halten die Liebe für eine Schwäche. Die anderen nennen sie ein Fieber, das heiße Wellen durch die Adern jagt. Fragt mich nicht, in solchen Dingen bin ich unerfahren. Nur eins weiß ich – Eure Mutter besaß eine große innere Kraft. So wie Ihr. Trotzdem war sie der Liebe hilflos ausgeliefert.«
»Aber ich liebe Hawk nicht«, protestierte Krysta, »ich kenne ihn kaum...« Abrupt verstummte sie und erinnerte sich an den Kuss im Stall, an jenes Gefühl, als wäre er ihr vertraut. Vielleicht dauerte es gar nicht so lange, jemanden kennen zu lernen, denn die Seele nahm Dinge wahr, die sich dem Gehirn erst später offenbarten. »Nein, ich liebe ihn wirklich nicht.« In ihrer Stimme schwang ein wehmütiger Unterton mit.
»Habt Ihr erwartet, ihr könntet sein Herz gewinnen, ohne ihn zu lieben?«
»Nun, ich dachte, zuerst müsste er mich lieben. Danach würde ich mich sicher fühlen und seine Glut erwidern.«
»In der Liebe gibt es keine Sicherheit, Mylady. Wenn Ihr Euch vor jeder Gefahr schützen wollt, müsst Ihr Euch in einer Höhle verkriechen. Aber um zu leben, wirklich zu leben, dürft Ihr Euch nicht verstecken. Jeder Flug – mit Schwingen oder mit dem Herzen – ist ein Wagnis.«
»Ein Wagnis, das meine Mutter getötet hat.«
»Sagt so etwas nie wieder!«, mahnte Raven. »Kein einziges Mal habe ich behauptet, sie sei tot.«
»Sie ging ins Meer...« Beinahe erstickte Krysta an diesen Worten, doch sie musste sie aussprechen, denn sie lagen schon viel zu lange wie Steine in ihrer Brust.
»O nein, sie wurde ins Meer gerufen«, entgegnete Raven, »und das ist ganz was anderes.«
»Gewiss, das hast du immer gesagt. Was soll ich denn glauben? Dass sie ein verzaubertes Geschöpf war wie die Meerjungfrau in Lord Dragons Geschichte? Oder ein Ungeheuer, wie Sven behauptet hat? Oder einfach nur eine Frau, wie ich eine Frau bin, die ihr Leben nicht mehr ertrug? War sie so schrecklich verzweifelt? Konnte nicht einmal ihr Kind sie zurückhalten?«
»O Mylady, sie liebte Euch! Und sie wollte bei Euch bleiben.«
»Warum hat sie mich dann verlassen?« Auf Krystas Hand fiel ein glänzender Tropfen, und ein zweiter folgte ihm. Überrascht betrachtete sie die Perlen, bis sie die Tränen auf ihren Wangen spürte. Nie zuvor hatte sie solche Fragen gestellt, sie hatte sich nicht einmal gestattet, daran zu denken. Aber jetzt waren all die verschütteten Ängste aus ihr herausgebrochen. Ihre Kehle schmerzte. Mühsam würgte sie hervor: »Tut mir Leid, das hast du nicht verdient, Raven. Du und Thorgold, ihr habt immer euer Bestes für mich getan.«
»Was Eure Mutter wünschte, und was sie selber getan hätte, wäre es ihr vergönnt gewesen, bei Euch zu bleiben.« Behutsam wischte Raven die Tränen von Krystas Wangen. »Ihr habt die Gabe Eurer Mutter geerbt, uns aus jener anderen Welt in diese zu rufen. Aber ich wies Euch stets auf die Kehrseite der Medaille hin. Auch Ihr könnt ins andere Reich geholt werden. Das widerfuhr Eurer Mutter, als sie ihr Unglück in dieser Welt nicht mehr aushielt.«
Seufzend senkte Krysta den Kopf. Einen Augenblick lang wünschte sie inständig, sie könnte sich wieder an Raven schmiegen, wie so oft in der Kindheit, und in den Falten des schwarzen Gewands Schutz suchen. Früher hatte Raven sie zärtlich »mein kleines Hühnchen« genannt. Darüber hatten sie beide gelacht. Jetzt war sie kein Kind mehr, und sie gab der Freundin Recht – jeder Flug war ein Wagnis. Trotzdem lockte die große weite Welt.
»Geht zu ihm, Mylady«, schlug Raven leise vor. »Er wird Euch nicht täuschen. Wenn es zu früh ist, in sein Herz zu schauen, versucht in seinen Augen zu lesen.«
Schweigend nickte Krysta. Eine kleine Weile blieb sie noch neben der treuen Freundin sitzen und betrachtete das Meer. Dann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen, vertraute ihren Träumen und eilte aus dem Zimmer.
Hawk sah sie den Turnierplatz überqueren. In der schwülen, windstillen Hitze hatte er ein Band um seine Stirn gewunden, das die Schweißtropfen auffing, die sonst in seinen Augen brennen würden. Ohne sein Hemd, nur mit Breeches und Stiefeln bekleidet, senkte er sein Schwert und entließ den Ritter, gegen den er gefochten hatte.
An diesem Morgen erschien sie ihm nicht mehr so bedrückt wie am vergangenen Abend, aber immer noch angespannt, und ihr übliches bezauberndes Lächeln wirkte gezwungen. Aber er wusste ihren Blick zu schätzen, der seine nackte Brust streifte, die sanfte Röte in ihren Wangen. Offensichtlich nahm sie ihn als Mann wahr. Sehr gut.
»Hoffentlich störe ich dich nicht.« Ihre sanfte Stimme glich der Brise, die soeben die Wipfel der Bäume zu streicheln begann. »Heute ist es so heiß, und ich dachte, du möchtest vielleicht etwas trinken. Auch deine Ritter sollten sich erfrischen.« Sie winkte zwei junge Dienerinnen heran, die Schläuche mit kühlem Brunnenwasser an die Kämpfer verteilten.
Ohne Krysta aus den Augen zu lassen, steckte Hawk sein Schwert in die Scheide. »Vielen Dank, diese Stärkung ist uns hochwillkommen.«
Es war eine schlichte Geste, den ermatteten Männern kaltes Wasser zu bringen, aber die erste häusliche Aufgabe, die sie auf Hawkforte erfüllte. Im Bewusstsein ihrer Position und immer noch voller Scheu vor Daria, hatte sie sich bisher zurückgehalten. Doch die beiden Mädchen hatten ihren Auftrag so freudig erfüllt, dass sie nicht mehr befürchtete, es würde ihr schwer fallen, die Dienerschaft für sich zu gewinnen. Was den Herrn der Festung betraf – das war eine andere Frage.
Zögernd erwiderte sie seinen Blick. Wie schon so oft verwirrte sie das klare Blau seiner Augen, und sie glaubte, den sommerlichen Mittagshimmel zu betrachten. Mit bebenden Fingern füllte sie ein Trinkhorn und reichte es ihrem Bräutigam. Dann beobachtete sie fasziniert, wie er den Kopf in den Nacken legte und durstig trank, wie sich die kraftvollen Muskeln seines Halses bewegten.
Lächelnd hielt er ihr das Hörn hin. »Wenn du so freundlich wärst...«
Sie schenkte ihm noch einmal Wasser ein. Nur zu gern erwies sie ihm einen Dienst. Außerdem fühlte sie sich erleichtert, denn nichts wies darauf hin, sie könnte sich begründete Sorgen machen. Ja, vielleicht musste sie Raven Recht geben, und Lord Dragon hatte nur zufällig die Geschichte einer Meerjungfrau erzählt.
Während die Dienerinnen die Trinkhörner der Krieger füllten, standen Hawk und Krysta allein nebeneinander. Sie war zu schüchtern, um zu sprechen, und er wurde von ihrem Anblick abgelenkt. Aus dem langen Zopf, der an ihrem Rücken hinabhing, löste die Brise kleine Löckchen. Die Sonne schien ihre Stirn und die Sommersprossen auf ihrer Nase zu küssen. So weich und einladend wirkten ihre Lippen. Viel zu deutlich entsann er sich, wie sie geschmeckt hatten.
Schließlich brach er das Schweigen. »Dragon sagte, er würde eine Nachricht von dir in den Norden bringen. Hast du ihm etwas mitgeteilt?«
»Nein. Sein Angebot war sehr freundlich. Aber es gab nichts zu sagen.«
Mit dieser Erklärung überraschte sie Hawk nicht. Dass sie ihrem Bruder nicht allzu nahe stand, wusste er schon seit einiger Zeit. Und darüber freute er sich, nach allem, was er von Dragon über Lord Sven erfahren hatte. »Nun, du scheinst dich gut auf Hawkforte einzuleben. Wenn Daria dir Schwierigkeiten macht, musst du dich sofort an mich wenden.«
Erstaunt und unsicher hob sie die Brauen. Was sollte sie darauf antworten? Seine Bereitschaft, sie vor seiner Schwester zu schützen, erwärmte ihr Herz. Andererseits wollte sie keinen familiären Streit heraufbeschwören. »Danke«, murmelte sie unverbindlich.
Wieder entstand ein längeres Schweigen, und dann fragte Hawk: »Kommen wir gut voran?«
»Was meinst du?«
»Unser Bestreben, einander kennen zu lernen.« Nach dem Klang seiner Stimme zu schließen, hielt er das für ein äußerst schwieriges Unterfangen.
»Oh – ich glaube, wir machen Fortschritte.«
Erleichtert seufzte er auf. »Das finde ich auch. Zum Beispiel weiß ich inzwischen, dass du gern schwimmst, kein Fleisch isst, lesen kannst und Haarbänder magst.«
»Wie hast du Letzteres herausgefunden?«
»Davon hat mir Thorgold erzählt. Bald werde ich dir neue Bänder kaufen. Und was weißt du mittlerweile über mich?«
»Nun ja – du liebst deine Bücher, setzt dich für den Frieden sin, und du bist ein starker Anführer, und du bildest dir ein, es wäre ganz einfach, einen anderen Menschen kennen zu lernen. Bedauerlicherweise irrst du dich.« Die unverblümten Worte waren ihr unwillkürlich herausgerutscht, und nun ärgerte sie sich darüber.
»Was?«, stieß Hawk hervor.
»Verzeih mir bitte. So freimütig dürfte ich nicht mit dir reden.«
»Dagegen ist nichts einzuwenden. Ehrlichkeit ist mir lieber als Heuchelei.« Aber er sprach in kühlem Ton, um ihr zu bedeuten, nicht nur sie könnte verletzend wirken.
»Ich wollte nur ausdrücken, dass die Männer nicht daran gewöhnt sind, Frauen richtig kennen zu lernen. Männer begnügen sich oft mit ein paar kleinen Einzelheiten, die sie herausgefunden haben.«
Da musste er ihr Recht geben. Schon nach kurzer Bekanntschaft glaubte er, sie gut zu kennen. Aber er schien mehr über sie zu wissen als sie über ihn. »Ja, meine Bücher sind mir sehr wichtig. Das weiß jeder in dieser Festung. Und ich bemühe mich um den Frieden. Auch das ist offensichtlich, weil unsere Verlobung darauf beruht. Und ich bin tatsächlich ein starker Kommandant. Doch das alles könnte ich als schlichte Schmeichelei betrachten. Also sag mir, was du sonst noch über mich erfahren hast.«
Krysta zögerte sehr lange. Sollte sie die Herausforderung annehmen? Dann müsste sie zumindest einen Teil ihrer Seele enthüllen – falls Hawk so scharfsinnig war, das zu merken. Wie auch immer, ihr Stolz trieb sie zu diesem Wagnis. »Dein tiefes, herzhaftes Gelächter scheint die Leute zu verwirren. Anscheinend hören sie’s nur selten, und ich frage mich, ob’s auch dich verblüfft. Du wirfst gern Steine übers Meer. Das kannst du sehr gut. Du achtest auf die Kinder und möchtest sie nicht erschrecken. Von Gefühlen lässt du dich nicht leiten. Dein Verlangen nach mir missfiel dir, solange du dachtest, ich wäre eine Dienerin. Und so hast du deine Leidenschaft bekämpft, genauso wie deinen Zorn, als du mich durchschaut hattest. Da du niemals die Kontrolle verlieren willst, trinkst du nur mäßig. In einer chaotischen, grausamen Zeit bist du zum Mann gereift. Aus diesem Grund legst du großen Wert auf Recht und Ordnung. Du liebst dieses Land und seine Bewohner. Dafür würdest du sterben, in der festen Überzeugung, der Preis wäre nicht zu hoch. Wenn du müde bist, zuckt ein winziger Puls über deinem rechten Auge. Soll ich fortfahren?«
»Nicht nötig, Lady«, entgegnete er hastig. »Ich bewundere deine Klugheit.« In Wirklichkeit fühlte er sich verlegen und beglückt zugleich. Niemals hätte er erwartet, jemand könnte so viel über ihn herausfinden, und er fragte sich, was er sonst noch wider Willen offenbart hatte.
Während er Krysta betrachtete, überlegte er, wie viele Sommersprossen ihre Nase zieren mochten und ob er sie wieder zu einem Ausritt einladen sollte. Dann lenkte ihn ein plötzlicher Windstoß von diesen Gedanken ab. Die Augen zusammengekniffen, schaute er zum Himmel hinauf, der genauso aussah wie seit Stunden, mit hohen weißen Wolken. Hawk wurde dennoch von einer bösen Ahnung befallen. Reglos stand er da und holte tief Atem. Die Luft roch schwül und stickig. Am Morgen hatte sie sich kaum bewegt, und dann war eine Brise aufgekommen, gefolgt von einem heftigen Windstoß. Bei der nächsten Bö drang ihm ein sonderbarer Geruch in die Nase, den er erst zum zweiten Mal in seinem ganzen Leben wahrnahm.
Das Schicksal hatte ihn zum Kriegsherrn bestimmt. Aber er war der geborene Seefahrer. Er kannte alle Spielarten des Windes und des Wassers. Nicht nur der plötzliche Wetterumschwung, auch sein Instinkt verriet ihm, was jenseits des Horizonts lag. »Ich muss sofort mit Edvard reden«, erklärte er. »Komm mit mir, Krysta.«
»Die Ernte geht gut voran, Mylord«, versicherte der Verwalter, sichtlich verwirrt, weil Hawk um diese Tageszeit nach ihm gerufen hatte, in der er sich normalerweise mit anderen Dingen beschäftigte. Trotzdem hatte Edvard alle Fakten und Zahlen parat, wie üblich. »Nach meiner Schätzung müsste die halbe Gersten- und Haferernte eingebracht sein, ebenso ein Großteil der Äpfel. Die Leute sind sehr fleißig. Wahrscheinlich haben wir am Wochenende alles unter Dach und Fach.«
»Das freut mich zu hören. Aber so lange darf es nicht dauern. Bis morgen Abend muss die ganze Ernte eingefahren werden.«
Fassungslos schnappte Edvard nach Luft. »Schon morgen? Mylord, wie wäre das möglich? Abgesehen von der Garnison arbeiten alle Eure Untertanen auf den Feldern, vom Morgengrauen bis zum Einbruch der Dunkelheit.«
»Stellen wir Fackeln am Rand der Felder auf. Natürlich werden die Wachen ihren gewohnten Dienst tun. Doch die restliche Garnison soll die Schwerter beiseite legen und Sicheln ergreifen. In der morgigen Abenddämmerung will ich nur mehr kahle Felder sehen. Übrigens, der Hafer und die Gerste dürfen nicht im Freien trocknen. Lasst sie in die Lagerräume bringen.« Hawk schaute sich in seiner Halle um. »Falls der Platz nicht ausreicht, wird das Getreide hier gestapelt.«
»Mylord – da könnte es vermodern.«
»Allzu lange wird’s nicht in der Halle lagern. Vielleicht nur einen Tag. Beauftragt die Kinder, die restlichen Äpfel zu ernten, Edvard.« Hawk wandte sich zu Krysta. »Würdest du sie beaufsichtigen und ihnen helfen?«
»Ja, gewiss. Aber warum diese Eile?«
»Wenn mich nicht alles täuscht, braut sich ein heftiger Gewittersturm zusammen. Womöglich würden wir einbüßen, was noch auf den Feldern und in den Obstgärten wächst.«
Edvard erbleichte und presste die Pergamentrolle mit seinen Aufzeichnungen an die Brust. »Um Himmels willen, das darf nicht geschehen. Ein solcher Verlust wäre schrecklich.«
»Ganz meine Meinung.« Hawk tröstete sich mit der Tatsache, dass seiner Festung, der Stadt und den Bauernhöfen keine Katastrophe drohte, sondern nur ein Verlust. Hawkforte war reich genug. Falls nur ein Teil der restlichen Ernte gerettet wurde, musste niemand hungern. Trotzdem wollte er den Schaden in Grenzen halten.
Edvard lief davon, um die Leute zu verständigen. Inzwischen suchte Krysta die Kinder und wandte sich an Edythe, in der Hoffnung, das kleine Mädchen würde die anderen zusammentrommeln. Wenig später eilten sie alle zu den Obstgärten.
Unterwegs kamen sie an einem Feld vorbei, auf dem sich goldgelbe Haferähren mit fedrigen Spitzen im Wind wiegten. Hier hatten Hawk und seine Krieger bereits zu arbeiten begonnen. Zweifellos wäre dieser Anblick erstaunlich gewesen, hätte der Herr von Hawkforte nicht selbst die Sichel geschwungen, so fachkundig, als hätte er nie etwas anderes getan. Die Bauern und die Stadtbewohner, die ebenfalls bei der Ernte halfen, beobachteten ihn verwundert, und das ungewöhnliche Spektakel führte ihnen den Ernst der Situation vor Augen. Mit vermehrtem Eifer gingen sie ans Werk.
Genauso emsig kletterten die Kinder auf die schwer beladenen Äste der Apfelbäume, schüttelten sie, und die Früchte fielen in die Decken hinab, die ihre Gefährten bereithielten. Bald hatten sie so viele Körbe gefüllt, dass sie einen Ochsenkarren brauchten, um die Ausbeute nach Hawkforte bringen zu lassen. Während sie auf seine Rückkehr warteten, forderte Krysta die Kinder auf, unter den Bäumen Platz zu nehmen und sich auszuruhen.
»Warum glaubt Lord Hawk, ein Gewitter wird losbrechen?«, erkundigte sich Edythe, trank aus dem Wasserschlauch und reichte ihn Krysta.
Noch nie hatte ihr kühles Wasser so köstlich geschmeckt wie nach der schweißtreibenden Arbeit in den Obstgärten. Einige Kinder streckten sich im Gras aus und dösten, die anderen saßen in Krystas Nähe und hörten zu.
»Das weiß ich nicht«, gab sie zu. »Aber er hat sicher gute Gründe für seine Vermutung.«
»An diesem Tag kann ich nichts Besonderes entdecken«, wandte Edythe ein.
»Die Luft riecht schon ein bisschen seltsam, findest du nicht?« Das hatte Krysta erst im Obstgarten bemerkt. In den Duft der reifen Äpfel mischte sich ein Geruch, der ihr fremdartig erschien.
»Doch...« Die Stirn gerunzelt, schnupperte das kleine Mädchen. »Wenigstens stinkt’s nicht. Woher kommt das, frage ich mich.«
»Du stellst ja sehr viele Fragen«, erwiderte Krysta lächelnd.
»Das stimmt. Mama sagt, ich will zu viel wissen. Trotzdem versucht sie mir immer alles zu erklären, und wir reden drüber. Papa behauptet, wenn ich meine Zunge nicht im Zaum halte, wird sie mir irgendwann aus dem Mund fallen.«
»Darum musst du dir keine Sorgen machen.«
»Tu ich auch nicht. Nach der Arbeit will Papa einfach nur seine Ruhe haben. Aelfgyth meint, man müsste ständig fragen, was auf der Welt geschieht, sonst würde man überhaupt nichts lernen.«
»Ist sie deine Schwester?«
»Ja, und sie freut sich so, weil sie jetzt für Euch arbeiten darf. Anfangs war sie ziemlich überrascht, als die grässliche Lady Daria sie zu Euch schickte, denn die beiden kamen nie besonders gut miteinander aus. Und dann erkannte Aelfgyth...« Abrupt verstummte Edythe und zeigte ein brennendes Interesse an den Grashalmen, die sie aus der Erde zupfte.
»Schon gut. Nicht, dass ich mangelnden Respekt billigen würde. Aber manchmal kann man seine Gefühle nur schwer verbergen.«
Dankbar nickte Edythe, doch sie sprach nicht weiter.
Nur ein paar Sekunden lang zauderte Krysta. Sie verabscheute Klatsch und Tratsch zwar, doch ihre Neugier ließ sich nicht bezähmen. »Was hat Aelfgyth erkannt?«
»Lady Daria wollte die schlechteste aller Zofen für Euch aussuchen. Und da sie ständig über die Arbeit meiner Schwester geklagt hatte, entschied sie sich für Aelfgyth.«
Lachend schüttelte Krysta den Kopf. »Ein Wunder, dass mich nicht mindestens ein Dutzend Zofen betreut, denn ich habe den Eindruck, dass Lady Daria die Arbeit aller Dienerinnen bemängelt.«
»Allerdings! Nichts kann man ihr recht machen, und deshalb bemühen sich die Leute auch gar nicht mehr darum. Wenn man irgendwas genauso erledigt, wie sie’s befohlen hat, behauptet sie, ihre Wünsche seien nicht erfüllt worden.«
»Wie schrecklich...« Krysta fragte sich, warum die Dienstboten nicht schon längst gegen die hochnäsige Frau rebelliert hatten. Vermutlich, weil sie Hawk keine Schwierigkeiten bereiten wollten. Sie respektierten ihn und waren ihm dankbar für die Sicherheit, die er ihnen bot.
»Vielleicht wird sich jetzt einiges ändern«, bemerkte Edythe mit einem kurzen Seitenblick.
»Ja, vielleicht«, stimmte Krysta zu. Doch sie versprach dem kleinen Mädchen nichts. Soweit es möglich war, würde sie einen Machtkampf mit Daria vermeiden, obwohl Hawk erklärt hatte, sie könne sich mit solchen Problemen an ihn wenden. Außerdem stand ihr die Position der Herrin erst nach der Hochzeit zu.
In der Abenddämmerung war die Apfelernte beendet. Krysta führte die Kinder wieder an den Feldern vorbei. Dort brannten mehrere Fackeln, die man vermutlich gar nicht brauchen würde, denn der Wind hatte alle Wolken vertrieben, und der fast volle Mond warf helles, silbernes Licht auf das Land.
Die Mahlzeit wurde zu den Feldern gebracht. Hastig verspeisten die Leute Brot und Käse. Dazu tranken sie Apfelwein. Alle sahen müde, aber entschlossen aus. Nachdem Krysta die Kinder in die Obhut ihrer Mütter gegeben hatte, suchte und fand sie ihren Bräutigam, der zusammen mit einigen Männern die Hafergarben bündelte und auf einen Ochsenkarren warf. Eine Zeit lang blieb sie etwas abseits stehen und beobachtete ihn. Er war größer als die meisten Bauern und Stadtbewohner und kräftiger gebaut. Ansonsten unterschied ihn nichts von seinen Mitarbeitern, kein Merkmal, das auf seinen Rang oder seine Autorität hinweisen würde. Trotzdem war seine Führungsrolle deutlich zu erkennen, obwohl er die gleichen Aufgaben erfüllte wie die anderen. Keine Mühsal ersparte er sich, und seinen scharfen Augen entging nichts. Wenn es jemandem nicht gelang, ein schweres Getreidebündel auf den Wagen zu befördern, trat Hawk sofort hinzu und half ihm.
Immer wieder ermutigte er die erschöpften Leute. Als ein Wasserschlauch herumgereicht und dem Festungsherrn zuerst angeboten wurde, schüttelte Hawk den Kopf und wartete, bis alle ihren Durst gelöscht hatten. Und während sie auf seinen Befehl rasteten, gönnte er sich keine Pause und hielt nur kurz inne, um den Himmel zu betrachten.
Schließlich ging Krysta zu ihm. Da unterbrach er seine Tätigkeit, wandte sich zu ihr und wischte den Schweiß von seiner Stirn. »Habt ihr alle Äpfel geerntet?«
»O ja. Vorhin brachte ich die Kinder zu ihren Müttern. Sie werden am Rand der Felder schlafen, wenn die Erwachsenen weiterarbeiten.« Auf dem Rückweg von den Obstgärten hatte sie festgestellt, wie viel innerhalb weniger Stunden geleistet worden war. Doch es gab nach wie vor eine ganze Menge zu tun. »Rechnest du immer noch mit einem Unwetter?«
Hawk zuckte die nackten, von der harten Arbeit schmutzigen Schultern. In seinem Haar hingen winzige Haferährchen, und Krysta widerstand dem Impuls, eins nach dem anderen herauszuzupfen. »Wenn wir Glück haben, zieht das Gewitter an uns vorbei. Doch wenn es direkt auf uns zukommt, wird ein so heftiger Sturm toben, wie ich ihn nur ein einziges Mal miterlebt habe.«
»Wo?«
»Am königlichen Hof von Winchester, im Sommer vor fünf Jahren. Ehe das Inferno losbrach, war es völlig windstill gewesen. Einen ganzen Tag lang. So wie heute. Dann frischte die Brise langsam auf und wehte den Geruch ferner Länder heran. Am nächsten Morgen segelte ich mit Alfred aufs Meer hinaus. Da wehte bereits ein heftiger Wind. Aber weil der Himmel klar blieb, dachten wir uns nichts dabei. Nach wenigen Stunden zogen dunkelgraue Wolken am Horizont auf. Davor färbte sich der Himmel gelb, schon nach wenigen Minuten schlugen die Wellen so hoch, dass unser Boot fast kenterte. Mit knapper Not erreichten wir eine geschützte Bucht, bevor der heulende Sturm und das schäumende Meer unser Boot zertrümmerten. Die letzten paar Hundert Fuß bis zum Strand mussten wir schwimmen, das kostete unsere ganze Kraft. Glücklicherweise konnten wir das Ende des Unwetters in einer Höhle abwarten. Als wir ins Freie traten, sah die Welt völlig verändert aus. Umgestürzte Bäume lagen aufeinander, der Strand war verschwunden, das Gras flach gedrückt. Fast alle Bauernhütten hatte das Gewitter vernichtet und viele Menschen getötet. Sogar das hölzerne Kirchendach war weggerissen worden.«
Atemlos hatte Krysta zugehört. Auch sie hatte wilde Stürme mit angesehen. Oft war sie wochenlang in ihrem Haus auf den Klippen eingeschneit gewesen. Von großen Eiszapfen beschwert hatten sich die Bäume zu Boden geneigt. Aber von einem so schrecklichen Unwetter, wie Hawk es beschrieben hatte, war sie niemals heimgesucht worden. »Und du glaubst, diese Gefahr droht uns jetzt?«
»Ich halte es durchaus für möglich. Aber mach dir deswegen keine Sorgen, die Mauern von Hawkforte werden der Wut aller Elemente standhalten.« Er warf einen Blick zu seinen Männern hinüber, die gerade aufstanden, um weiterzuarbeiten. »Geh jetzt in die Festung zurück, Krysta, und ruh dich aus. Du hast genug getan.«
»Was, ich soll mich ausruhen? Wenn alle anderen die ganze Nacht arbeiten?« Außer Daria und dem Priester, dachte sie. Keinen der beiden hatte sie hier draußen gesehen.
»Von dir darf ich das nicht erwarten. Für eine Lady hast du mehr als genug geleistet.«
Wie sollte sie das auffassen? War sie keine Lady, weil sie genauso hart gearbeitet hatte wie die einfachen Leute? Oder glaubte er, sie wäre so zart gebaut, dass sie sich keine weiteren Anstrengungen zumuten durfte. Widerstrebend erinnerte sie sich an Darias Behauptung, Hawk habe geplant, eine »vornehme Lady« zu heiraten. »Ich helfe sehr gern bei der Ernte«, beteuerte sie.
»Trotzdem musst du dich ausruhen. Wir kommen sehr gut voran. Geh jetzt.« Er tätschelte ihren Rücken und gab ihr einen leichten Stoß in die Richtung von Hawkforte.
Nur zögernd verließ sie die Felder. Sie wollte ihrem Bräutigam nicht widersprechen, geschweige denn, den Eindruck erwecken, sie wäre keine Lady. Ein paar Mal spähte sie über die Schulter und hoffte, Hawk würde sich anders besinnen. Doch er war viel zu beschäftigt, um ihr nachzuschauen. Rhythmisch und geschmeidig warf er ein schweres Garbenbündel nach dem anderen auf den Wagen. Wie schon so oft verrieten die mühelosen Bewegungen seine Stärke und Willenskraft.
Ihr Kleid klebte am Rücken, und sie betrachtete ihre schmutzigen Hände. Genauso unsauber fühlte sich ihr Gesicht an. Als ihr bewusst wurde, in welchem Zustand Hawk sie gesehen hatte, stöhnte sie. Langsam ging sie weiter. Sie war müde, und der Gedanke, in einem Raum mit kühlen steinernen Mauern zu sitzen, erschien ihr sehr verlockend. Trotzdem wäre sie lieber auf den Feldern geblieben. Alle außer Daria und Vater Elbert, ihrem Günstling, würden die ganze Nacht arbeiten. Während sie an einigen Leuten vorbeikam, die ein anderes Feld abernteten, entdeckte sie Raven und Thorgold. Sie saßen gerade auf Getreidesäcken, um sich ein bisschen auszuruhen. Lebhaft schwatzten sie mit ein paar Stadtbewohnern, die etwas verwirrt wirkten, aber froh über die Hilfe der beiden waren. Im kühlen Schatten schliefen die kleinen Kinder, die älteren eilten immer noch umher, um verstreute Garben einzusammeln. Sie alle leisteten ihren Beitrag zur überstürzten Ernte. Nur Krysta durfte sich nicht daran beteiligen. Weil sie eine Lady war, zu schwach für diese harte Arbeit...
Welch ein Unsinn! Wenn Hawk das vermutete, würde er eine Enttäuschung erleben. Sie schaute wieder über ihre Schulter und vergewisserte sich, dass sie sich außerhalb seines Blickfelds befand. Da stand ihr Entschluss fest. Später würde er ihr zürnen. Aber dieses Wagnis nahm sie gern auf sich. Wie sollte sie Schlaf finden, wenn sich alle anderen die ganze Nacht hindurch abrackerten?
Als sie einige Frauen erreichte, die Ähren bündelten, gesellte sie sich hinzu und begann, ihnen wortlos zu helfen. Eine Zeit lang wurde sie kaum wahrgenommen, nur ihre willkommenen emsigen Hände, die bald schmerzten, ebenso wie ihr Rücken. Ihre Arme wurden immer schwerer. Doch sie gab sich nicht geschlagen. Garben sammeln – zusammenbinden – sammeln – zusammenbinden – immer wieder, bis Krysta nicht mehr wusste, wie viel Zeit verstrichen war. Sie war dankbar, weil die Männer wenigstens die mühsame Aufgabe übernahmen, die Bündel auf die Wagen zu heben. Anscheinend wurde der Hafer, der noch gebündelt werden musste, kein bisschen weniger. Die Felder waren noch immer nicht abgeerntet. Jedes Mal, wenn ein beladener Wagen davonfuhr, kehrte ein anderer aus der Festung zurück.
Während die Nacht hereinbrach, wurden Fackeln entzündet, obwohl der Mond silbriges Licht spendete. Wären nicht alle Farben verblasst, würde man glauben, ein neuer Tag hätte begonnen, so hell schien die runde Scheibe vom Himmel herab. Hin und wieder unterbrachen die Frauen die Arbeit, um nach den Kindern zu sehen. Tief und fest schliefen sie alle am Rand der Felder. Die Nacht war warm, doch der Wind frischte auf. Obwohl Krysta wusste, was das bedeutete, begrüßte sie die Kühlung. Nach Mitternacht kniete eine Frau neben ihr nieder, um verstreute Ähren aufzuheben. Plötzlich hielt sie inne.
»Mylady?« Entsetzt starrte Aelfgyth sie an, genauso verschwitzt wie Krysta, schmutzig und todmüde. Wild zerzaust hing ihr das Haar ins Gesicht, so wie ihrer Herrin. Und an den Händen beider Frauen bluteten winzige Haferstiche. »Mylady, hier könnt Ihr unmöglich sein!«
Trotz ihrer Erschöpfung musste Krysta lachen. »Dann träume ich, nicht wahr? Wie schön! Ich liege in meinem weichen Bett!«
Fassungslos schüttelte Aelfgyth den Kopf und musterte Krysta wie einen Geist. »Hat Euch Seine Lordschaft erlaubt, hier zu bleiben?« Im grellen weißen Mondschein wirkte ihr Gesicht um Jahre gealtert.
»Natürlich nicht. Aber er hat mich auch nicht weggeschickt. Nicht direkt...«
»Mylady, Ihr müsst nicht bei der Ernte helfen. Warum tut Ihr’s trotzdem?«
»Warum sollte ich’s nicht tun? Den Hafer werde ich genauso essen wie die anderen, nicht wahr? Im nächsten Winter wird er mich stärken. So wie euch alle.«
Verwirrt blinzelte Aelfgyth, zu ermattet, um den Sinn dieser Worte zu begreifen. Aber sie bemühte sich darum. »Nun ja, vielleicht, aber niemand erwartet von Euch...«
»Sicher richte ich keinen Schaden an, wenn ich mich nicht so verhalte, wie man’s erwartet.«
Seite an Seite arbeiteten sie weiter, die Herrin und ihre Zofe, während die Nacht alterte und der Tag qualvoll langsam anbrach. Ein guter Teil der Ernte musste immer noch eingebracht werden.
Manchmal schliefen Krysta und Aelfgyth, als der Mond untergegangen war und nur mehr die Sterne den Himmel erhellten. Vor lauter Erschöpfung konnten sie sich nicht mehr auf den Beinen halten. Doch sie ruhten sich nicht lange aus. Auch die anderen rasteten kaum. Bevor der erste Hahn krähte, standen sie schwankend auf und rieben sich die trüben Augen. Der Wind, der allmählich in einen Sturm überging, hatte sie geweckt.
Nur mühsam erhoben sich Krysta und Aelfgyth. Ihre Röcke flatterten heftig. Auf den Feldern blähten sich die verstreuten Decken. Vom Gewicht der Schläfer befreit, wurden sie davongeweht. Die Kinder rannten hinterher und fingen sie genauso geschickt ein wie die leeren Körbe, die ebenfalls davonflogen. Über ihren Köpfen zeigte sich nach wie vor keine einzige Wolke.
»Vielleicht zieht das Unwetter bald vorbei«, meinte Aelfgyth.
Skeptisch nickte Krysta. Der sonderbare dumpfe Geruch erschien ihr intensiver denn je. Völlig übermüdet, begann sie wieder zu arbeiten, und Krysta wunderte sich, dass sie ihre bleischweren Arme immer noch heben konnte. Zwischen ihren Schulterblättern glich der Schmerz einem lodernden Feuer. Und nachdem sie auf dem harten Felsboden geschlafen hatte, nur von einer dünnen Wolldecke geschützt, spürte sie jeden einzelnen Knochen. Mittlerweile war ein Großteil der Felder abgeerntet. Darüber staunte sie, denn sie glaubte, alle Leute hätten sich wenigstens zeitweise ausgeruht.
Alle bis auf Hawk und seine Krieger, die auch jetzt ihre Sicheln schwangen. In zahlreichen Kämpfen abgehärtet, von ihrem Kommandanten zu eiserner Disziplin gezwungen, hatten sie die ganze Nacht pausenlos ihre Pflicht erfüllt. Unter normalen Umständen hätten sie niemals so niedrige Dienste geleistet. Aber in dieser Notlage vergaßen sie ihren Stolz. Bedingungslos gehorchten sie ihrem Herrn.
Während sich einige Ritter auf der Straße näherten, von einem halben Dutzend Wagen begleitet, hielten die Bauern rings um Krysta inne. Ehrerbietig lüfteten sie die Mützen, um die müden Krieger zu begrüßen. Hawk schob einen Wagen aus einer tiefen Furche. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten, um seinen Mund hatten sich tiefe Linien eingegraben. Trotzdem grinste er, nachdem er den Wagen befreit hatte. Und dann fiel sein Blick auf Krysta.
Obwohl die anderen den Weg fortsetzten, blieb er stehen und starrte seine Braut an. Energisch bezwang sie den Impuls, sich hinter der kleinen Gruppe zu verstecken, mit der sie zusammenarbeitete. Nun sahen die Leute, wem die Aufmerksamkeit ihres Herrn galt und schauten woandershin. Aelfgyth blieb bei ihrer Herrin. Aber sobald Hawk seine lähmende Verblüffung abschüttelte und auf die beiden Frauen zuging, warf sie seiner Verlobten einen mitfühlenden Blick zu und machte sich aus dem Staub.
»Bist du wirklich und wahrhaftig hier?«, fragte er langsam, ließ seine Sichel zu Boden sinken und stützte sich darauf. War er so müde, dass er seinen Augen nicht traute? »Sagte ich nicht, du sollst in die Festung gehen?«
»Dazu hast du mich aufgefordert«, erwiderte sie leise. »Doch das hielt ich nicht für einen Befehl...«
Ungeduldig fiel er ihr ins Wort. »Was ich angeordnet habe, weißt du sehr gut. Warum hast du meinen Wunsch missachtet?«
Mit einem tiefen Atemzug zwang sie sich zur Ruhe. Hawk erschien ihr nicht zornig, nur überrascht. Und sehr müde. Offenbar hatte er die ganze Nacht pausenlos gearbeitet. Bei dieser Erkenntnis krampfte sich ihr Herz zusammen. Zu all seiner Mühe und Plage kam noch die Enttäuschung über ihren Ungehorsam. »Ich wollte nicht abseits stehen, während sich deine Leute so schrecklich anstrengen mussten. Jetzt ist Hawkforte auch mein Heim, und ich gehöre zu ihnen.«
Er blinzelte und stützte sich noch schwerfälliger auf die Sichel. »Wie schmutzig du bist, und wie erschöpft du aussiehst...«
»Tut mir Leid«, entgegnete sie ärgerlich. »Vielleicht solltest du mal in den Spiegel schauen.«
»Das ist was anderes.«
»Warum?«
Verblüfft hob er die Brauen, als würde er an ihrem Verstand zweifeln. »Weil ich keine Lady bin.«
Da er auf eine so offensichtliche Tatsache hinwies, musste sie trotz ihrer Erschöpfung lachen. »Wohl kaum.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu. »Vermutlich bin ich auch keine Lady. Zumindest nicht in jenem Sinn, der deiner Vorstellung entspricht.«
Wenn er sich auch hundemüde fühlte, sein Instinkt war nicht abgestumpft. Und so erkannte er trotz der Nebel, die sein Gehirn schwächten, die Bedeutung dieses Augenblicks. Er wusste nur nicht, warum, denn es fiel ihm unendlich schwer, klar zu denken. So widerstrebend er sich das auch eingestand, er war der Erschöpfung nahe. Bis zu seinem Lebensende würde er die Bauern, die sich auf den Feldern abmühten, voller Bewunderung und Respekt betrachten.
»Nein, das bist du wohl nicht«, stimmte er tonlos zu. Seine Schwester Cymbra war eine Lady, die alle anderen Frauen überstrahlte. Auch Daria musste er eine Lady nennen. Doch er wollte sie nicht mit seiner Braut vergleichen. Allein schon bei diesem Gedanken erschauerte er. Seine erste Gemahlin war eine Lady gewesen, und je weniger er über sie nachdachte, desto besser. Vielleicht, überlegte er, ist es gar nicht so wichtig, eine Lady zu sein, was immer das auch heißen mag, und es kommt nur auf den Menschen an.
Warum schaute Krysta so bedrückt drein? Er entsann sich nicht mehr, was er zu ihr gesagt hatte, und er wollte nicht noch länger herumstehen und schwatzen. Dafür fehlte ihm die Zeit. Viel zu schnell frischte der Wind auf. »In ein paar Stunden sind wir fertig«, erklärte er, »und das ist auch gut so. Versprich mir wenigstens, nicht länger hier draußen herumzutrödeln als nötig. Sobald die letzte Ähre geerntet ist, musst du in die Festung zurückgehen.«
Schweigend nickte sie, und er wunderte sich über ihre Fügsamkeit. Für gewöhnlich war sie nicht so kleinlaut. Diese Erkenntnis konnte er fraglos auf die Liste der Dinge setzen, die er über sie herausgefunden hatte. Verdammt, seit ihrer Ankunft war ihm keine ruhige Minute vergönnt gewesen – sonderbare Dienstboten, eine unglaubliche Maskerade und so weiter. Ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen. War’s denn so erstrebenswert, ein ruhiges Leben zu führen? Vielleicht wurde ein geregelter Alltag überschätzt. Eine sommersprossige Wikingerschönheit hatte zweifellos gewisse Vorzüge zu bieten.
Sein Lächeln vertiefte sich. Plötzlich verflog seine Müdigkeit. Ja, von seinen tüchtigen Leuten unterstützt, würde er den Sieg erringen und die ganze Ernte einfahren, bevor der Sturm zu tosen begann. Nur ein kleiner Triumph im Lauf der Geschichte, aber sein Triumph, den er in vollen Zügen genießen würde.
Wenn das alles überstanden ist, beschloss er, werde ich mich ernsthafter denn je bemühen, Krysta besser kennen zu lernen. Zunächst wollte er seine Neugier bezüglich einer Frage befriedigen, die ihn seit der ersten Begegnung beschäftigte.
Wie viele Sommersprossen hatte sie?