Читать книгу Wikinger der Liebe / Wikinger meiner Träume - Josie Litton - Страница 7

Kapitel 1

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In der staubigen Sommerhitze donnern Hufe auf der festgestampften Straße. Sand fliegt hoch empor, das Meer spiegelt das grelle Sonnenlicht wider, während die Reiter zu der stolzen Festung galoppieren. An diesem Tag haben sie die Gunst der Jagdgöttin genossen. Über den schweißnassen Hinterhänden der Pferde hängen Eber und Hirsche, ihr Blut tropft auf das durstige Erdreich. Freudenschreie hallen durch den Hof, heißen den Herrn der Festung willkommen und bejubeln die Beute.

Lord Hawk, der Herr von Hawkforte, schwingt sich aus dem Sattel und übergibt die Zügel seines Schlachtrosses einem Stallburschen. Kräftig gebaut, mit breiten Schultern, überragt er alle anderen Männer. Stets wachsame himmelblaue Augen beherrschen das markante Gesicht, und sein geschmeidiger Gang verrät den geborenen Krieger. Nach der abwechslungsreic hen Jagd fühlt er sich angenehm ermüdet. Und er ist froh – wenn er es auch nicht eingestehen würde –, weil ein weiterer Tag verstrichen ist, ohne dass seine Braut angekommen ist.

Seufzend denkt er an die unbekannte, unerwünschte Braut und fährt mit allen Fingern durch sein dichtes kastanienbraunes Haar, das sich im muskulösen Nacken kräuselt. Ein Mann in seiner Position muss heiraten, um Söhne zu zeugen. Das weiß er, deshalb findet er sich widerstrebend damit ab. Aber er hätte es vorgezogen, seine künftige Gemahlin selbst zu wählen. Stattdessen wird er eine fremde Frau zum Altar führen – das Friedenspfand, das die Sachsen und Norweger im Kampf gegen die habgierigen Dänen vereinen soll.

Aus diesem Grund hat seine Schwester, die schöne Lady Cymbra, den mächtigen norwegischen Jarl Wolf Hakonson geheiratet. Um des Friedens willen darf Hawk nicht zögern, ihrem Beispiel zu folgen. Doch er bezweifelt, dass ihn ein ähnliches Eheglück erwartet, wie es seine Schwester an der Seite des Mannes genießt, den man einst die Geißel der Sachsen genannt hat.

Hoffentlich wird er seine Braut einigermaßen ertragen können. Das kann er erst beurteilen, wenn sie zu erscheinen geruht. Offensichtlich hat sie es nicht eilig. Wie auch immer, diesen Tag hat er noch genossen.

»Mylord...«

Hawk drehte sich zu seinem Verwalter um, der den Hof durchquerte. Trotz der hastigen Schritte schob der Mann eine Schulter nach hinten, als wollte er notfalls möglichst schnell die Flucht ergreifen. Ist es schon so weit gekommen, dass meine eigenen Leute mein Temperament fürchten, überlegte der Herr von Hawkforte. Bin ich so unberechenbar geworden? Er bezwang ein Seufzen und wünschte, dieser Eindruck würde ihn täuschen. Denn eine solche Schwäche würde seinen Stolz ebenso verletzen wie seinen Gerechtigkeitssinn.

»Was gibt’s, Edvard?«, fragte er betont freundlich. Die Freude an der erholsamen Jagd verflog bereits, er kehrte in den Alltag zurück, wo er Entscheidungen treffen, Urteile fällen und Kompromisse schließen musste. In der Festung, ihrer unmittelbaren Umgebung und auf seinen ausgedehnten Ländereien lebten viele tausend Menschen, die sich auf einen weisen Herrscher verlassen wollten. Gegen seine Pflichten hatte er sich niemals gesträubt. Sie bedeuteten ihm sogar sehr viel. Aber manchmal lasteten sie bleischwer auf seinen Schultern. An diesem schönen, sonnigen Tag sehnte er sich nach einem beschaulicheren Zeitvertreib. Wie wundervoll wäre es, an einem Bach zu sitzen, zu angeln und zu hoffen, dass keine Fische anbeißen, die seine Aufmerksamkeit erfordern würden. Am erfreulichsten wäre es, ein solches Zwischenspiel mit jemandem zu teilen, der nichts weiter verlangte als seine Gesellschaft. Aber so romantische Gedanken gingen ihm nur selten durch den Sinn und wurden meist sehr schnell von der Realität verscheucht.

Während der Verwalter erkannte, dass sein Herr wider Erwarten zugänglich war, entspannte er sich. Er war noch jung für seine gehobene Stellung, die er nicht seiner Herkunft, sondern seiner Tüchtigkeit verdankte. Diesen Posten wollte er auf jeden Fall behalten. »Heute sind drei Dienstboten Eurer Braut Lady Krysta eingetroffen, Mylord«, erklärte er und wies auf ein Trio, das vor der Schmiede stand, einem der vielen kleinen Gebäude an den Innenmauern der Festung. In seiner Geste und seinen bebenden Nasenflügeln drückten sich Gefühle aus, die der ernsthafte Edvard selten zeigte. Für einen so unerschütterlichen Mann bildeten Erstaunen, Sorge und Verwirrung eine beachtliche emotionale Vielfalt.

Hawk schaute zu der kleinen Gruppe hinüber. Zuerst musterte er einen kleinen, stämmigen, bärtigen Mann mit gebeugten Schultern, langem dunklem Haar und pechschwarzen Augen. Neben ihm stand eine ältere Frau, ganz in Schwarz gekleidet, ebenfalls dunkelhaarig, mit spitzer Nase. Teilweise verdeckten die beiden eine viel jüngere, zierlich gebaute, schwarzhaarige Frau mit elfenhaften Zügen. In ihren Augen, die Hawks Blick erwartungsvoll erwiderten, tanzte ein seltsames Licht.

Trotz der Entfernung fand er, die Farbe dieser Augen würde einem bewaldeten Tal im Hochsommer gleichen. Beinahe glaubte er, kühles Moos zu spüren, kristallklares Wasser über Steine plätschern zu hören, den Duft von Veilchen zu riechen, ins Haar einer Frau mit milchweißer Haut gewunden...

Ärgerlich verdrängte er das Fantasiebild. Das Mädchen stand viel zu weit weg, um solche Tagträume heraufzubeschwören. Und doch – eine Zeit lang war er so fasziniert gewesen, dass er alles andere vergessen hatte.

Wie absurd. Sie war nur eine Dienerin, nichts Besonderes. Obendrein sah sie etwas unordentlich aus. Es gab keinen Grund, warum sie ihn interessieren sollte. Aber nun starrte er schon wieder in die grünen Augen, und das süße, zauberhafte Lächeln erinnerte ihn – woran? Er hatte es nur ganz kurz gesehen, bevor es erlosch und den flüchtigen Eindruck eines Gewässers hinterließ, das in der Sonne funkelte.

Einfach lächerlich. Er wandte seinen Blick ab, schaute noch einmal hin, ertappte sich dabei und runzelte die Stirn. Offenbar sah sie seine Verwirrung, denn sie duckte sich und verschwand hinter den beiden anderen Dienstboten.

Er war müde. Daran musste es liegen. Bis vor vierzehn Tagen hatte er sich am Hof aufgehalten. Das zehrte immer an seinen Kräften. Nach seiner Heimkehr hatten ihn dann zahllose Geschäfte beansprucht. Außerdem hing die verdammte Heirat wie ein Damoklesschwert über seinem Kopf.

Zu spät entdeckte er seine scharfzüngige Halbschwester, die mit der Anmut und Diskretion einer missgelaunten Ziege herbeieilte. Hawk dachte kurzfristig an die raffgierige dänische Brut, der er in diesem Moment viel lieber gegenübertreten würde, und wappnete sich gegen ihren üblichen Wortschwall.

»Also wirklich, das schlägt dem Fass den Boden aus!«, kreischte Daria. »Nicht genug damit, dass wir uns fragen müssen, wann Lady Krysta uns endlich beehren wird, jetzt mutet sie uns auch noch zu, an ihrer Stelle diese Dienerschaft zu begrüßen!« Empört spähte sie über die Schulter. Dann richtete sie ihr Augenmerk wieder auf den Halbbruder, der sekundenlang die Lider senkte und sich um die unerreichbarste aller Tugenden bemühte – Geduld.

Zehn Jahre älter als Hawk, müsste Daria eigentlich ihr eigenes Haus bewohnen. Darin würde sie auch leben, wäre ihr Ehemann nicht so töricht gewesen, Alfred of Wessex zu bekämpfen, während der tapfere Krieger und allseits bewunderte Gelehrte ein Bündnis mit den Britanniern gegen die Dänen angestrebt hatte. Prompt verwitwet, machte Daria keinen Hehl aus ihrem Hass auf alle Menschen, die ihr verweigerten, was sie für ihr Recht hielt. Dazu zählte sie auch ihren Bruder, obwohl er sie in seiner Festung aufgenommen hatte. Immerhin führte sie ihm gewissenhaft den Haushalt und war vernünftig genug, um ihn nicht allzu oft mit ihren Klagen zu belästigen. Aber an diesem Tag besiegte heller Zorn ihre Vorsicht.

»Was bildet sie sich eigentlich ein? Wieso schickt sie ohne Vorwarnung drei Leute zu uns?« Ihre Hände in die Hüften gestemmt, starrte sie ihn an. »Hat sie nicht bedacht, welche Unannehmlichkeiten sie uns bereitet? Warum sind sie überhaupt hier? Glaubt sie, auf Hawkforte würde es an Dienstboten mangeln und wir wären so arm dran wie die Barbaren im Norden?«

Bei jeder Frage klang ihre schrille Stimme noch lauter. Zuletzt schrie sie geradezu. Hawk war ein nachsichtiger Mann. Aber seine Großzügigkeit hatte ihre Grenzen. Um seine Autorität zu wahren, musste er der wütenden Frau Einhalt gebieten.

»Hüte deine Zunge, Daria, dein Gezeter missfällt mir. Bring die Leute irgendwo unter – und beeil dich.«

Etwas verspätet erinnerte sie Hawks eisiger Blick an seinen Willen, den er überall und ausnahmslos durchsetzte.

Doch sie verbarg ihren Groll noch immer nicht, als er den kleinen, stämmigen Neuankömmling zu sich winkte. Nun betrachtete er den Diener etwas genauer. Mit seinen krummen Beinen und den hängenden Schultern glich der Mann einem Troll. Irgendwie erweckte er den Eindruck, er wäre es gewohnt, unter Brücken zu lauern und nichts ahnende Reisende zu überraschen. Nach dem glitzernden Blick unter den buschigen Brauen zu urteilen, konnte man ihm solche Bosheiten durchaus zutrauen.

»Mylord, ich bin Thorgold«, stellte er sich vor, »Lady Krystas Diener.«

»Bedeutet deine Ankunft, dass Lady Krysta uns bald mit ihrer Gegenwart beglücken wird?«

Die meisten Männer hätte Hawks bissiger Unterton bewogen, einen Schritt zurückzuweichen. Aber Thorgold zuckte nur die Achseln und breitete die knotigen Hände aus. »Sie kommt, wenn sie kommt, Mylord.«

Offenbar hielt er diese Antwort für ausreichend, und Hawk begnügte sich damit. An diesem sonderbaren kleinen Kerl wollte er seinen Ärger nicht auslassen.

Er gab das Trio in die Obhut seiner Schwester. Bevor er sich wieder zu Edvard wandte, beobachtete er die junge Frau, die Daria und den beiden anderen Dienstboten durch den Hof folgte. Dabei drehte sie sich zu ihm um und begegnete seinem Blick. Erschrocken stolperte sie, fand nur mühsam ihr Gleichgewicht wieder und senkte zerknirscht den Kopf, was ihn aus unerfindlichen Gründen belustigte.

Bis er verstand, warum sein Verwalter so verdutzt dreinschaute, dauerte es eine Weile. Edvard hatte seinen Herrn lange nicht so lachen hören. Ein höchst ungewöhnliches Ereignis...

Dieses Gelächter erwärmte Krystas Blut und jagte einen eigenartigen Schauer über ihren Rücken, während sie hinter Thorgold, Raven und der mürrischen Frau zum Dienstbotenquartier ging. Natürlich durfte sie nicht wagen, noch einmal über die Schulter zu schauen, obwohl die Versuchung fast unwiderstehlich war. Gerade noch rechtzeitig siegte ihre Vernunft, auf die sie sehr stolz war.

Noch nie hatte sie einen so großen Mann gesehen, ausgenommen den mächtigen Jarl von Sciringesheal, bei jener kurzen Begegnung vor ein paar Monaten. Wolf Hakonson war ins Haus ihres Halbbruders gekommen, um mit ihm zu sprechen. Ohne zu erfahren, zu welchem Zweck, wurde Krysta auf den Familiensitz beordert, den sie zum ersten Mal besuchte. Ein paar Wochen später hatte man ihr mitgeteilt, sie würde Wolfs Schwager heiraten, einen gefürchteten sächsischen Lord namens Hawk.

Er besitzt die Augen eines Raubvogels, dachte sie. Aber wenn er lacht... Ein Lächeln umspielte ihre vollen Lippen unter der zierlichen Stupsnase. Seit Lord Hawk gelacht hatte, glaubte sie beinahe, ihre Vorsichtsmaßnahmen wären überflüssig. Aber als kluge Frau verwarf sie diesen Gedanken. Erst wollte sie sich Gewissheit verschaffen, ehe sie dem Wunsch nachgab, das schwache Glücksgefühl in ihrem Herzen wachsen zu lassen.

Zunächst musste sie sich vor den stechenden Augen und der scharfen Zunge Lady Darias schützen, die anscheinend den Haushalt führte. Dieser formidablen Frau ging man besser aus dem Weg.

Daria führte die drei durch den Hof zu einem lang gestreckten, niedrigen Bauwerk aus gespaltenen, mit Mörtel zusammengefügten Baumstämmen und einem spitzen Strohdach. Im Vergleich zu den bemalten, mit kunstvollen Schnitzereien geschmückten norwegischen Gebäuden wirkte das Dienstbotenquartier äußerst bescheiden.

Als Krysta eintrat, brauchte sie eine Weile, um ihre Augen nach dem hellen Sonnenschein an das Dunkel zu gewöhnen. Da die gesamte Dienerschaft ihre Pflichten anderswo erfüllte, herrschte hier gespenstische Stille. Nur das leise Summen einer Biene war zu hören. Die Binsen, die den festgestampften Erdboden bedeckten, verströmten einen trockenen, staubigen Geruch.

Aufmerksam sah sie sich um. In der Mitte der Halle stand ein großer steinerner Herd, unter einem Rauchabzug, den rußgeschwärzte Balken umgaben. An den Längsseiten des rechteckigen Raums reihten sich Alkoven mit Vorhängen aneinander, offenbar die Schlafplätze der Dienstboten. Tagsüber waren die Vorhänge geöffnet und enthüllten eine spärliche Einrichtung.

»Da könnt ihr zwei euer Bettzeug hineinbringen.« Daria zeigte auf einen leeren Alkoven. »Und du«, fuhr sie an Thorgold gewandt fort, »gehst zur Männerhalle. Sie liegt auf der anderen Seite des Hofes. Da wirst du schlafen. Haltet eure Unterkunft sauber, findet euch pünktlich zu den Mahlzeiten ein und erfüllt alle Aufgaben, die man euch zuteilt. Habt ihr mich verstanden?«

Die schwarz gekleidete Raven öffnete den Mund, um zu antworten. Aber Thorgold kam ihr zuvor. »Gewiss, Mylady, wir werden Euch keine Schwierigkeiten bereiten.«

»Das würde ich euch dringend empfehlen. Da eure Herrin immer noch durch Abwesenheit glänzt, setzt sie sich ohnehin schon in ein miserables Licht. Wäre mein Bruder geneigt, auf mich zu hören, würde er niemals eine Ehe eingehen, die unter einem so schlechten Stern steht. Bis zu seinem Lebensende wird er’s bereuen.«

Nachdem Daria ihre Meinung geäußert hatte, verließ sie das Gebäude – keine Sekunde zu früh. Thorgold hatte Raven nur mühsam zurückgehalten. »Beruhige dich, sie spielt keine Rolle. Vergiss sie.«

»Leichter gesagt als getan als getan...«, murmelte Raven. Entrüstet rang sie nach Luft. »Am liebsten würde ich ihr die Leber aus dem Leib reißen. Aber dieses widerliche Ding strotzt wahrscheinlich vor Galle und Eiter.«

Lachend legte Krysta die Arme um die Schultern ihrer Freunde. Den beiden war es sehr schwer gefallen, mit ihr hierher zu reisen. Trotzdem hatten sie sich dazu durchgerungen und wieder einmal bewiesen, wie treu sie der geliebten Herrin dienten, seit sie auf die Welt gekommen war. Diese Liebe erwiderte sie von ganzem Herzen.

Sie schob den Gedanken an den ersten verwirrenden Eindruck, den sie von Lord Hawk gewonnen hatte, beiseite. Die Nase gerümpft, schaute sie sich um. »Machen wir’s uns erst mal gemütlich. Wenigstens sollten wir’s versuchen.«

Thorgold nickte grinsend und verschwand. Wenig später kehrte er mit dem ersten Teil des Gepäcks zurück. Während er hin und her eilte, machten die Frauen den Alkoven sauber und sorgten für Ordnung. Zumindest tat Krysta ihr Bestes. Wenn es darum ging, einen Raum wohnlich zu gestalten, konnte sich niemand mit Raven messen. Geschäftig lief sie dahin und dorthin. Beinahe erweckte sie den Anschein, sie wäre überall gleichzeitig, und innerhalb einer knappen Stunde verwandelte sie den Alkoven in ein gemütliches Heim.

Nirgendwo lag mehr Staub, zwei Holzbetten, Stühle und ein Tisch waren aufgestellt worden. Als Thorgold die letzte Fracht hereinschleppte, schaute er sich zufrieden um. »Dabei sollten wir’s bewenden lassen. Wenn wir noch mehr Sachen hierher bringen, wird man Fragen stellen.«

Wehmütig packte Krysta einen Wandteppich, der eine Waldlichtung voller kleiner Tier zeigte, wieder ein. Nach allem, was sie bisher gesehen hatte, wurde die Dienerschaft von Hawkforte anständig untergebracht, aber man gestattete ihr keinen Luxus. »Also gut«, stimmte sie widerstrebend zu und nahm auf ihrem Bett Platz. »Um den Rest kümmern wir uns später.«

Nachdem sie sich häuslich niedergelassen hatten, fand sie endlich Zeit, um zu überdenken, was sie bisher erreicht hatte. Sie war in der Festung eingetroffen und hatte den Herrn gesehen, ohne besonders aufschlussreiche Erkenntnisse zu gewinnen. Immerhin begann ihr waghalsiges Unternehmen erfreulicher, als sie’s zu hoffen gewagt hatte.

Raven und Thorgold, die das Lächeln ihrer Herrin bemerkten, wechselten einen kurzen Blick. »Noch ist es nicht zu spät, Lady Krysta«, betonte die Dienerin.

»Was meinst du?«

»Nun, Ihr könntet behaupten, Ihr wärt zu ungeduldig gewesen, um auf eine Eskorte zu warten. Da Ihr befürchtet habt, man könnte Euch auf der Straße überfallen, seid Ihr unter falschem Namen auf Reisen gegangen und in die Rolle einer Dienerin geschlüpft.« Raven hob die dünnen Schultern. »Wer weiß, vielleicht glaubt Euch Lord Hawk.«

»Nur wenn Ihr’s ihm sofort gesteht«, ergänzte Thorgold. »Sonst denkt er, Ihr würdet ihn zum Narren halten. Und das gefällt keinem Mann.« Plötzlich schien ihn eine Erinnerung zu belustigen, und er lächelte. »Nein, wirklich nicht.«

Krysta sprang auf und starrte ihre getreuen Freunde verblüfft an. »Natürlich werde ich ihm nichts erzählen. Sonst wäre mein Plan sinnlos. Wie soll ich denn herausfinden, was ich wissen muss, wenn ich mein Inkognito lüfte?«

»Was werdet Ihr schon herausfinden?«, seufzte Raven. »Dass alle Männer gleich sind. Stolz, eigensinnig, dumm...«

»Anmaßend, engstirnig, ungeschickt...«, fügte Thorgold hinzu.

»Irgendwelche guten Eigenschaften müssen sie doch haben«, protestierte Krysta. »Als Lord Hawk mich ansah, fühlte ich...« Unsicher verstummte sie und versuchte sich zu entsinnen, was sie angesichts seiner durchdringenden blauen Augen empfunden hatte. Sein Blick verriet Kraft, Klugheit und noch etwas. Etwas Faszinierendes, das sie in einen seltsamen Bann gezogen hatte. Vielleicht Leidenschaft?

Vor diesem Gedanken schreckte sie zurück, so verlockend er ihr auch erschien. Ihrem Gemahl würde das Recht zustehen, sie zu besitzen wie kein anderer Mann in ihrem bisherigen Leben. Was das bedeutete, wusste sie in groben Zügen. Doch sie spürte, dass sich im unbekannten Reich der Sinne noch viel mehr verbarg – seltsame Dinge, die Grauen oder Entzücken bewirken mochten.

Wie auch immer, Lord Hawk hatte sie zu seiner Braut erkoren, um ein Bündnis zu festigen, das seinem und ihrem Volk den Frieden bringen würde. Damit bewies er sein Verantwortungsgefühl. Und es verdiente Krystas Anerkennung. Doch die Angst vor den Rechten eines Ehemanns und den Pflichten einer Ehefrau trieb ihr das Blut in die Wangen, und ihre treuen Diener nickten sich verständnisvoll zu.

»Ach ja, die Sterblichen«, murmelte Thorgold, bevor er in den Hof schlenderte. Nun musste er ein paar seiner Habseligkeiten in die Männerhalle bringen und den Eindruck erwecken, er würde dort schlafen. Die kleine Brücke, die er vor ihrer Ankunft auf Hawkforte entdeckt hatte, gefiel ihm viel besser.

»Ruh dich aus, Raven«, schlug Krysta ihrer Freundin vor. Die Reise übers Meer und dann im Pferdesattel hatte sie alle ermüdet. Doch die Dienerin war am ältesten. Wie viele Jahre sie schon zählte, wusste ihre Herrin gar nicht. Nachdem sie das Ziel erreicht hatten, sollte sich die alte Frau eine Atempause gönnen.

Davon wollte sie jedoch nichts wissen. »Auf dem Rücken eines Pferdes sieht man nicht viel von einer Gegend. Jetzt will ich Lord Hawks Besitz begutachten und feststellen, wie viel Macht er ausübt.«

Ohne ein weiteres Wort eilte sie aus dem Alkoven, und Krysta fand keine Gelegenheit, die Freundin zur Vorsicht zu ermahnen. Wenig später flatterten Schwingen am Ende der Halle.

Auch Krysta verließ das Gebäude, nachdem sie ihr Kleid geglättet und ihr Haar gebürstet hatte. Eine Zeit lang blieb sie im Hof stehen und genoss den warmen Sonnenschein, bevor sie das rege Leben und Treiben beobachtete. Hawkforte lag an der britannischen Südostküste, in einem Gebiet namens Essex. Auf einer Landzunge errichtet, erhob sich die Burg zwischen geschützten Buchten. Entlang der hölzernen Wälle reihten sich Wachtürme in regelmäßigen Abständen aneinander und boten einen ungehinderten Ausblick, landeinwärts und aufs Meer. Drei Stockwerke hoch, überragte der mittlere Turm die anderen. An norwegische Festungen gewöhnt, war Krysta unwillkürlich beeindruckt.

Tagsüber standen die breiten Holztore in den Außenmauern offen. Unentwegt gingen Menschen und Pferde ein und aus, Wagen rollten herein oder heraus. Voller Neugier musterte Krysta die Sachsen, die im Gegensatz zu albernen Gerüchten weder Hörner noch Hufe aufwiesen. Lächelnd sah sie ihre eigenen vernünftigen Erwartungen bestätigt. Das waren Menschen wie alle anderen auch. Bald würde sie diesem Volk angehören, und ihr Ehemann sollte die Heirat niemals bereuen – was immer seine Schwester Daria auch behaupten mochte.

Ja, sie wollte die beste Ehefrau sein, die sich Lord Hawk nur wünschen konnte – eine Zierde seiner Halle, ein Trost in schweren Tagen, eine Stütze bei seinem Bestreben, die beiden Völker friedlich zu vereinen. Konnte er noch mehr verlangen? Wohl kaum. Deshalb würde er sie lieben, wie sie geliebt werden musste, und sie würde nicht das gleiche Schicksal erleiden wie ihre Mutter.

In ihren Augen bebte ein Schatten, das dumpfe Echo alter Qualen bedrückte ihre Seele. Ihre Mutter... Vor so langer Zeit war sie entschwunden, denn sie hatte ihr Leben für eine sterbliche Liebe gewagt und verloren. Gewiss, der Vater hatte die Mutter begehrt, aber nicht geliebt, wie es nötig gewesen wäre. So zerriss das dünne Band zwischen ihnen. Die Mutter musste nicht nur auf das erträumte Glück, sondern auch auf ihr Kind verzichten. Krysta blieb in Thorgolds und Ravens Obhut zurück. Während sie heranwuchs, warnten die beiden sie immer wieder vor dem Schicksal der Mutter, das auch ihr drohen könnte. Nur flüchtig dachte sie darüber nach, denn der Gedanke, ein Mann würde in ihr Leben treten, erschien ihr völlig absurd – bis sie ins Herrschaftshaus ihrer Familie gerufen wurde. Dort hatte sie vor den hasserfüllten Augen ihres Halbbruders gestanden und erfahren, sie müsse einen Fremden heiraten. Wenn er sie nicht liebte, würde er unwissentlich ihr Leben zerstören...

Nein, das darf nicht geschehen, entschied sie. Hawk würde sie lieben. Daran zweifelte sie nicht, obwohl sie nur wenig über die Männer wusste – und über die Ehe noch weniger. Da sie fürchtete, in ihrer Unkenntnis der Dinge einen verhängnisvollen Fehler zu begehen und alles zu verderben, hatte sie den ungewöhnlichen, aber nach ihrer Ansicht klugen Entschluss gefasst, als ihre eigene Magd in der Festung einzutreffen. Raven würde ihr helfen, alles über den Mann herauszufinden, den sie heiraten sollte. Sobald sie genug erfahren hatte, würde die Dienerin verschwinden und Lady Krysta auftauchen, sie würde die schwarze Farbe aus dem goldblonden Haar waschen. Und Lord Hawk würde in heißer Liebe zu seiner Braut entbrennen.

Dass sie einen so verheißungsvollen Plan ersonnen hatte, erfüllte sie mit Stolz und Freude. Gewiss, Thorgold und Raven hatten sie zu entmutigen zu versucht. In sanftem Ton erklärte sie ihren geliebten Dienern, vom Mysterium der Ehe wüssten sie ebenso wenig wie sie. Schließlich hatten sie sich den Wünschen ihrer Herrin gefügt. Nun würde sie in wenigen Tagen die Antwort auf alle ihre Fragen erhalten und hoffnungsvoll in die Zukunft blicken.

Und wo sollte sie beginnen? Sie musterte die Leute im Hof, die gesund und wohlgenährt aussahen und schlicht, aber ordentlich gekleidet waren. Eifrig gingen sie ihren verschiedenen Pflichten nach. Auch ein paar Kinder saßen beisammen und krempelten Wolle.

Kinder faszinierten Krysta. In ihrem Heim war sie das einzige Kind gewesen. Dort hatte sie seit ihrer Geburt gelebt, bis vor wenigen Wochen, als sie zur Reise nach Essex aufgebrochen war. Zu seinen Lebzeiten hatte der Vater sie oft besucht, aber die Tochter niemals auf den Familiensitz eingeladen, den ihr Halbbruder und die Halbschwestern bewohnten, seine Kinder aus erster Ehe. Nach seinem Tod war sie in ihrem Schloss geblieben, zufrieden mit ihrem Dasein, aber unablässig von der beklemmenden Ahnung verfolgt, irgendetwas würde mit ihr geschehen. Darauf hatte sie Tag für Tag gewartet. Jetzt war es so weit, und das Unbehagen wurde von freudiger Erwartung verdrängt. Seit sie Lord Hawk gesehen hatte, empfand sie keine Angst mehr. Vergeblich schaute sie sich im Hof nach ihm um, doch sie war nicht allzu enttäuscht, denn sie fühlte sich unwiderstehlich zu den Kindern hingezogen. Da sie nicht wusste, wie sie ihr begegnen würden, ging sie langsam und vorsichtig zu ihnen. Als ein Junge mit haselnussbraunen Augen zu ihr aufblickte und lächelte, zögerte sie nicht länger.

»Darf ich euch helfen?«, fragte sie und zeigte auf die Wolle. Ein kleines Mädchen, offenbar die Anführerin der Gruppe, betrachtete Krysta prüfend. Dann nickte sie und reichte ihr einen Kamm, mit dem die Wolle entwirrt werden sollte. Krysta setzte sich auf den staubigen Boden. Nachdem sie die flinken Kinderhände eine Zeit lang beobachtet hatte, versuchte sie die gleiche Arbeit zu erledigen. Allzu erfolgreich verliefen ihre ersten Bemühungen nicht, und die Zinken des Kamms schürften ihre Fingerknöchel auf.

»So macht man’s«, verkündete das Mädchen, ergriff ihre Hände und zeigte ihr die richtigen Bewegungen.

Bald glitt die Wolle ungehindert durch Krystas Kamm. Zu ihrer Freude nickten die Kinder anerkennend.

Sie arbeiteten wortlos, bis das Mädchen fragte: »Seid Ihr die Dienerin der fremden Lady?«

»Ja«, bestätigte Krysta, obwohl ihr die Lüge schwer fiel. »Ich heiße Ilka.«

»Angeblich will Lord Hawk gar nicht heiraten, und er tut’s nur um des Friedens willen.«

Nur mühsam verbarg Krysta ihre Bestürzung, und sie musste sich zwingen, in ruhigem Ton zu erwidern: »Wenn er meine Herrin kennen lernt, wird er vielleicht anders denken.«

»Ja – vielleicht.« Nicht sonderlich überzeugt, zuckte das Mädchen die Achseln.

»Wie heißt du?«

»Edythe.« Dann stellte das Mädchen die anderen Kinder vor, die Krysta schüchtern zunickten.

»Was tut ihr sonst noch, außer Wolle krempeln?«

»Alles Mögliche«, antwortete Edythe. »Wir hüten die Herden, holen Brennholz und Wasser, oder wir kochen – was immer erledigt werden muss.« Nach kurzem Zaudern fügte sie hinzu: »Lady Daria will immer alle Leute beschäftigen.«

»Und Lord Hawk?«, erkundigte sich Krysta. »Findet er auch, ihr müsstet dauernd arbeiten?«

Durch gesenkte Wimpern warf Edythe ihr einen kurzen Blick zu. »Lord Hawk ist ein großer, mächtiger Herr, und er hat ganz andere Sorgen.«

Damit verriet sie sehr viel. Verständlicherweise überließ der Herrscher von Hawkforte die häuslichen Angelegenheiten einer Frau. Falls er wusste, welch hohe Ansprüche seine Schwester an die Dienerschaft stellte, kümmerte er sich nicht darum, oder er sah keinen Grund, irgendetwas zu ändern.

Oder doch? Da er beschlossen hatte zu heiraten, würde er seine künftige Gemahlin beauftragen, den Haushalt zu führen. Hoffte er, sie würde andere Regeln aufstellen als Lady Daria? Noch etwas, was Krysta herausfinden musste.

So viele Dinge erforderten ihre Aufmerksamkeit. Beinahe hätte sie geseufzt, aber da neigte sich ein Kind zu Edythe und flüsterte ihr ins Ohr: »Da ist sie.«

Krysta folgte den Blicken der kleinen Schar und beobachtete, wie Lady Daria den Hof in einer verschwenderisch ausgestatteten Sänfte verließ, die zwischen zwei Pferden schwankte, gefolgt von mehreren aufgeregten Dienstboten. Unwillig beugte sich die Lady zwischen den Vorhängen aus dem Fenster und befahl den Reitknechten, die Pferde straffer am Zügel zu nehmen, sonst würde sie die holprige Straße nicht ertragen.

»Jetzt will sie auf dem Markt einkaufen«, erklärte Edythe.

In aller Eile sammelten die Kinder ihre Wolle ein, und die eben noch so ernsten Augen strahlten.

»Oh, nun können wir endlich spielen!«, jubelte Edythe, ergriff Krystas Hand und zog sie mit sich.

Lachend rannten sie durch das Tor und zum Fluss hinab, der sich am Fuß des Hügels dahinwand. Nur ganz kurz schaute Krysta zu der moosbehangenen Brücke hinüber, unter der die funkelnden Wellen plätscherten. Was sich dort bewegte, wollte sie gar nicht so genau wissen.

Wie junge Hunde balgten sich die Kinder. Belustigt beobachtete Krysta das muntere Treiben. Zuvor war ihr die ernsthafte Zurückhaltung der kleinen Festungsbewohner unnatürlich erschienen. Mussten alle Leute, die auf Hawkforte lebten und nicht dem direkten Kommando des Herrn unterstanden, ihr wahres Wesen verstellen, um den Anforderungen der unausstehlichen Lady Daria zu genügen?

Bei diesem respektlosen Gedanken presste Krysta eine Hand auf den Mund, um ein Kichern zu unterdrücken, was ihr misslang. Am Ufer ausgestreckt, spielte Edythe mit einem Stein, den sie ins Wasser werfen wollte. In ihren Augen lag eine Weisheit, die ihre jungen Jahre Lügen strafte. »Meine Ma sagt, es würde uns viel mehr Spaß machen, heimlich davonzuschleichen, als wenn wir jederzeit spielen dürften.«

»Glaubst du, das stimmt?«, fragte Krysta und setzte sich neben das kleine Mädchen. Edythe war etwa acht Jahre alt, geschmeidig und schlank, aber nicht dünn, mit hellwacher Miene und einem energischen Kinn. Offenbar betrachtete sie die Welt so abgeklärt wie eine reife Frau.

»Nun ja, meine Ma meint, man müsste aus allem das Beste machen. Was anderes bleibt uns auch gar nicht übrig.«

Sehr klug, dachte Krysta. Doch der Zwang, dem die Leute auf Hawkforte ausgeliefert waren, missfiel ihr. Hoffentlich würde Lord Hawk seiner Gemahlin erlauben, andere Saiten aufzuziehen. Aber nun wollte sie erst einmal den angenehmen Nachmittag genießen. Gemeinsam mit den Kindern flocht sie Kränze aus Gänseblümchen, jagte Schmetterlinge und pflückte saftige Himbeeren. Dabei hörte sie aufmerksam zu. Der Gefahr entronnen, von Lady Daria ertappt zu werden, nahmen sie kein Blatt vor den Mund.

Was Kinder betraf, hatte sie keine Erfahrungen gesammelt. Trotzdem gewann sie den Eindruck, ihre Spielkameraden wären außergewöhnlich klug. Wussten die Erwachsenen in der Festung, wie viel diese jungen Augen sahen?

»Die dicke Betty ist schon wieder schwanger«, bemerkte Edythe und schob eine Himbeere in den Mund.

Neben ihr saß ein kleineres Mädchen, das die Augen aufriss. »Nein! Wirklich? Meine Ma sagt, Betty müsste einen Mann nur ansehen, und schon würde sie ein Baby kriegen.«

»Nein, da gehört schon mehr dazu«, widersprach ein Junge namens Howard. »Außerdem ist Bettys Mann gerade in der Bretagne. Schon vor Monaten hat er auf Master Tylers Schiff angeheuert. Warum also erwartet sie ein Kind?«

Seufzend verdrehte Edythe die Augen und pflückte noch eine Himbeere. »Seit sich all diese Ausländer in der Stadt herumtreiben, geht’s drunter und drüber. Zumindest hat das mein Pa gesagt.«

»Fürs Geschäft ist’s gut«, bemerkte Howard. »Mein Dad meint, nun wären wir besser dran, als er’s jemals im Diesseits erträumt hat. Und Lord Hawk weiß, was man braucht, um in unserer Welt voranzukommen – ein scharf geschliffenes Schwert, einen starken Arm und Verstand.« Voller Stolz blickte er in die Runde. »Deshalb findet mein Dad, ich müsste lesen und schreiben lernen, und er will bei Lord Hawk ein gutes Wort für mich einlegen. Vielleicht geben mir die Mönche Unterricht.«

Dieser vernünftige Plan fand allgemeine Zustimmung. Mit einem sanften Lächeln verkündete Aedwynna, ein hübsches kleines Mädchen mit leuchtend blauen Augen: »Mein Dad sagt, Lord Hawk sei der hartgesottenste Hurensohn, den er kennt. Aber dagegen lässt sich nichts einwenden, weil er unser Hurensohn ist.«

Verlegen räusperte sich Edythe und warf einen kurzen Blick in Krystas Richtung. »Sag nicht ›Hurensohn‹, Aedwynna. Solche Wörter spricht man nicht aus.«

»Schon gut.« Gleichmütig hob Aedwynna die Achseln. »Jedenfalls benimmt sich meine Schwester furchtbar albern, sobald sie Lord Hawk sieht. Dann kann sie gar nicht zu kichern aufhören, genau wie ihre Freundinnen. Und alle hoffen, er kriegt eine nette Frau.« Plötzlich erinnerte sie sich, wer ihr zuhörte. »Das ist sie doch, Ilka?«

Völlig überrumpelt antwortete »Ilka« nicht sofort, und Edythe musterte sie besorgt.

»Sicher ist sie schön und freundlich, und sie wird unserem Herrn eine gute Frau sein, nicht wahr?«

»O ja – natürlich«, stammelte Krysta. »Aber vielleicht wäre es besser, sie wüsste etwas mehr über Lord Hawk. Zum Beispiel, was er mag und was ihm missfällt. Sicher würde ihr das helfen, seine Erwartungen von Anfang an zu erfüllen.«

Dafür zeigte Edythe sofort Verständnis. »Solche Dinge könnten wir Euch erzählen, Ilka, und Ihr gebt Eurer Herrin Bescheid.«

»Oh, da wäre sie euch sehr dankbar...«

»Also, Lord Hawk ist sehr, sehr stark. Das war auch nötig, denn bis vor wenigen Jahren musste er unentwegt kämpfen, als König Alfred die Dänen daran hinderte, noch mehr Gebiete in England zu erobern.«

»Einmal sah ich ihn einen Mann hochheben, der so groß war wie ein Pferd«, berichtete Howard, »den schleuderte er ans andere Ende des Turnierplatzes. Der Bursche tat sich nicht weh, und beide lachten. Welch ein Spektakel.«

»Und ich habe beobachtet, wie er das Heck eines Wagens voller Steine emporhob«, meldete sich ein anderer Junge zu Wort. »Das hielt er fest, bis der Mann, der darunter festsaß, hevorkriechen konnte.«

»Ja, der alte Finney – beinahe wäre er gestorben. Jetzt geht er jeden Tag in die Kirche und zündet eine Kerze für Lord Hawk an.«

»Und meine Ma schließt ihn immer in ihre Gebete ein!«, rief Aedwynna. Alle Kinder nickten, als wäre so etwas allgemein üblich.

»Manchmal hilft meine Ma in der Küche aus, wenn das Essen für Lord Hawks große Tafel zubereitet wird«, erzählte Aedwynna. »Dann backt sie immer seine Lieblingsspeise – Rhabarberkuchen.«

»Meine Ma ist Weberin«, sagte Howard. »Obwohl er nicht drauf achtet, was er anzieht, sucht sie immer eine Farbe aus, von der sie glaubt, sie würde ihm gefallen.«

»Jedenfalls braucht er eine Ehefrau«, entschied Edythe. »Nachdem er Lady Daria jahrelang ertragen musste...« Schaudernd verstummte sie.

»Eine gute Frau«, verbesserte die kleine Aedwynna ihre ältere Freundin, und alle Kindern nickten wieder.

Wachsam behielt Edythe den Sonnenstand im Auge, und als es an der Zeit war, in die Festung zurückzukehren, scheuchte sie die Kinder den Hang hinauf. Noch bevor Darias Sänfte die Flussstraße heraufschwankte, waren sie alle innerhalb der Mauern versammelt.

Hinter der Waschküche verteilte Edythe die Himbeeren – offenbar ein gewohnter Vorgang. Da Krysta den Kindern nichts wegnehmen wollte, ließ sie ihren Anteil zurück. Doch davon wollte Edythe nichts wissen. »Ihr habt uns geholfen, die Himbeeren zu ernten. Also müsst Ihr auch welche nehmen.«

Nachdenklich kehrte Krysta in ihr Quartier zurück, mit einer Schürze voller reifer Beeren. Wenig später gesellte sich Raven zu ihr. »Oh, was für schöne Himbeeren!«, meinte die alte Frau und setzte sich neben Krysta. »Den ganzen Nachmittag habe ich welche gegessen.« Anscheinend war ihr Appetit noch nicht gestillt, denn sie verspeiste eine Hand voll, während sie Bericht erstattete. »Ein fruchtbares Land, gepflegte Bauernhöfe. Offenbar ist Essex viel dichter besiedelt als unsere Heimat. Vermutlich wegen des milden Klimas. Entlang der Küste stehen meilenweit Wachtürme, in beiden Richtungen. Ich sah mehrere Patrouillen, alle in Lord Hawks Farben. So, wie die Männer aussahen, verstehen sie was von ihren Pflichten.«

»Noch etwas?«, fragte Krysta.

Den Kopf schief gelegt, zögerte Raven. »Ihn sah ich auch – er bewohnt ein Gemach im obersten Stockwerk des höchsten Turms.«

Krysta reckte den Kopf aus dem Fenster und heuchelte lebhaftes Interesse an den Ereignissen draußen. »War er allein?«

»Nein.« Als Raven die Bestürzung ihrer Herrin bemerkte, lachte sie. »Beruhigt Euch, er sprach mit diesem Burschen – ich glaube, es ist sein Verwalter. Die beiden sahen irgendwelche Briefe durch. Übrigens, Lord Hawk kann lesen.«

»Tatsächlich?« Diese Fähigkeit besaßen nur wenige Adelsherrn. Krystas Halbbruder spottete darüber und meinte, nur Priester würden lesen lernen, um sich über ihr enthaltsames Leben hinwegzutrösten. Lächelnd stellte sie sich vor, was er von Hawks Bildung halten würde.

Und dann erlosch ihr Lächeln. Bald würde sie ihren Bräutigam wieder sehen, denn die Stunde des Abendessens rückte immer näher. Durch den Küchentrakt wehten verlockende Düfte herüber, Leute eilten bereits zur Haupthalle im Erdgeschoss des mittleren Turms.

»Kommt, Lady Krysta«, bat Raven und sah ihre junge Herrin zaudern. »Mit ein paar Himbeeren könnt Ihr Euch nicht stärken.«

Obwohl Krysta ihr zustimmen musste, glaubte sie, vor lauter Angst würde sie keinen Bissen hinunterbringen. Nur weil ihr Thorgold und Raven nicht von der Seite wichen, wagte sie, Lord Hawks Halle zu betreten.

Wikinger der Liebe / Wikinger meiner Träume

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