Читать книгу Wikinger der Liebe / Wikinger meiner Träume - Josie Litton - Страница 8
Kapitel 2
ОглавлениеDa war die junge Frau wieder. Mit ihrer sonderbaren Begleitung erschien sie in der Halle. Sie wirkte bedrückt, und Hawk verstand nicht, warum. Über den Rand seines Bechers hinweg beobachtete er die Dienerin und hörte dem eifrigen, unermüdlichen Edvard nur mit halbem Ohr zu.
»Obwohl es nur selten geregnet hat, gedeiht die Ernte recht gut, dank der Bewässerungsgräben, die vor drei Jahren auf Euren Wunsch angelegt wurden. Allerdings wird der Ertrag nicht so reichlich ausfallen wie im regnerischen letzten Sommer. Trotzdem werden wir die Vorratslager zur Genüge auffüllen.«
»Zur Genüge...«, murmelte Hawk, ohne die junge Frau aus den Augen zu lassen. Kerzengerade ging sie zu einem der Tische und schaute sich ängstlich um. Die geschmeidigen Bewegungen ihrer schlanken Gestalt wiesen auf ein aktives Leben hin. Kein Wunder – sie war eine Dienerin und zweifellos an körperliche Arbeit gewöhnt. Aber ihre glatte Haut erweckte nicht den Eindruck, sie wäre der frischen Luft und dem Sonnenschein allzu oft ausgesetzt.
»Mit unserem Salz werden wir auskommen. Allerdings sollten wir den Vorrat aufstocken, sobald wir größere Mengen zu einem günstigen Preis kaufen können. Wie Ihr wisst, führt die unsichere Situation an den Küsten manchmal zu einer unerwarteten Blockade der Transportwege.«
Ihr pechschwarzes Haar glänzte nicht – der einzige Makel an ihrer äußeren Erscheinung.
Plötzlich zuckte Hawks Hand, und er verschüttete ein paar Tropfen Ale. Woran dachte er? Ob er eine Dienerin seiner Braut hübsch oder unansehnlich fand, spielte keine Rolle. Eigentlich dürfte er die Anwesenheit des Mädchens gar nicht zur Kenntnis nehmen. Einen so schweren Fehler würden nur dumme Männer begehen. Und Hawk war keineswegs dumm. Sicher, die Heirat missfiel ihm. Diesen Entschluss hatte er nur gefasst, um den Frieden zu sichern. Auch in seinem eigenen Haushalt wollte er für Ruhe und Ordnung sorgen. Eine Dienstmagd seiner künftigen Gemahlin! Also wirklich! Großer Gott, wenn ihn schöne grüne Augen dermaßen faszinierten, brauchte er dringend eine Frau. Seltsam, erst vor kurzem hatte er sich an Alfreds Hof mit einer netten Witwe vergnügt, die klug genug war, um nicht mehr von ihm zu verlangen als ein oder zwei Liebesnächte. Nun ja, er hatte etwas öfter ihr Bett geteilt. Warum auch nicht? In der Blüte seiner Jahre hatte er sich gegen das Leben eines Mönchs entschieden, in der Gewissheit, er würde über die Forderung des Zölibats stolpern.
Bald würde seine Braut ankommen. Wie sein Schwager behauptet und sogar geschworen hatte, war sie nicht unansehnlich, was immer das heißen mochte. Zum Teufel mit Wolf und seinen vagen Andeutungen! Jedenfalls würde Hawk seine ehelichen Pflichten erfüllen und sich – sollte Lady Krysta seiner Leidenschaft kaltblütig begegnen – eine Geliebte nehmen. Aber nicht diese Dienerin! Allein schon der Gedanke erschreckte ihn.
»... die Holzkohle könnte Probleme aufwerfen, wenn Ihr die Produktion in der Schmiede zu steigern wünscht. Während uns genug Eisen zur Verfügung steht, müssten wir... Mylord?« Endlich fiel dem Verwalter das mangelnde Interesse seines Herrn auf, und er verstummte.
Bevor Hawk das Schweigen bemerkte, verstrichen ein paar Minuten. Um sein Versäumnis zu überspielen, hob er eine Hand. »Genug, Edvard. Euer Arbeitseifer beeindruckt mich. Aber nun wollen wir uns entspannen, die Mahlzeit genießen und nicht mehr über Produktionssteigerungen reden.«
Ringsum stimmten die privilegierten Ritter, die an seiner Tafel saßen, in sein Gelächter ein. Sosehr sie den tüchtigen Edvard auch schätzten und seinen gesellschaftlichen Aufstieg bewunderten – seine Verlegenheit störte sie kein bisschen. Nachdem er seine Zerknirschung gemeistert hatte, grinste er, schob die Schiefertafel mit diversen Notizen unter seine Tunika und setzte sich. Sofort brachte ihm eine hübsche Magd, die in letzter Zeit immer öfter seine Nähe suchte, einen Becher Ale. Ihr ermutigendes Lächeln drang sogar ins Bewusstsein des sachlichen, verantwortungsvollen Verwalters und beschwor neue Lachsalven herauf. Auch Hawk amüsierte sich, froh über die heitere Atmosphäre, die ihn von den düsteren Gedanken an seine bevorstehende Hochzeit ablenkte – leider nur kurzfristig.
Wie gut sich die Krieger an der großen Tafel unterhalten, dachte Krysta und musste sich zusammenreißen, um nicht dauernd hinüberzustarren. Trotzdem ertappte sie sich immer wieder dabei. Wenn ihr Bräutigam lachte, sah er viel jünger und zugänglicher aus. Sekundenlang erwog sie sogar, Thorgolds und Ravens Rat zu befolgen und ihm die Wahrheit zu gestehen. Eine lockende Versuchung. Besonders, wenn sie sich ausmalte, wie es wohl wäre, in seinen starken Armen zu liegen... Aber sie bekämpfte ihren Wunsch. Selbst wenn er ihr das Täuschungsmanöver verzeihen und sogar ulkig finden würde, so wie er jetzt über die Scherze seiner Ritter lachte, wäre sie ihrem Ziel keinen Schritt näher gekommen. Mit aller Macht wollte sie dem Schicksal entgehen, das ihre Mutter ins Verderben gestürzt hatte. Deshalb musste sie die Liebe des stolzen Sachsenlords erringen. Nicht einmal ihre eigene Sehnsucht durfte diesen Plan vereiteln.
Um sich auf andere Gedanken zu bringen, musterte sie den Raum. Mit seinen Holzwänden glich er dem Quartier der Dienerinnen, war aber viel größer und nach männlichem Geschmack ausgestattet. Überall hingen Banner, Schilde und Waffen, die das Licht des Herdfeuers und der Fackeln in den Eisenständern widerspiegelten. Auf der herrschaftlichen Tafel aus poliertem Eichenholz prangten Schüsseln und Platten aus gehämmerter Bronze. Hawk saß auf einem imposanten, reich geschnitzten Thron mit hoher Lehne, die Stühle seiner privilegierten Krieger und des Verwalters waren mit edlem gegerbten Leder bespannt. Alles in allem zeugte die Einrichtung von Macht und Wohlstand und ließ keinen Zweifel an der unbeugsamen Willenskraft des Besitzers. Auch das niedrige Volk wurde nicht vernachlässigt.
Für die Dienerschaft standen Platten und Schüsseln aus Zinn oder Keramik und geschnitzte Hornbecher auf langen Tischen. Unter den wachsamen Augen Lady Darias, die an der Tafel ihres Bruders saß, servierten die Mägde das Essen. Am fröhlichen Gespräch nahm sie ebenso wenig teil wie der Priester an ihrer Seite.
Ravens spitzer Ellbogen riss Krysta aus ihren Gedanken. Verblüfft zuckte sie zusammen. »Jetzt starrt er Euch schon wieder an«, teilte ihr die Dienerin mit und spähte an ihrer langen Nase vorbei, um einen Seitenblick zum herrschaftlichen Tisch zu werfen. »Er scheint sich zu wundern. Und wer kann ihm das verübeln? Was denkt Ihr Euch eigentlich? So unverhohlen zu gaffen...«
Beklommen schaute Krysta zu Lord Hawk hinüber, der ihren Blick tatsächlich erwiderte, und zog den Kopf ein. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken. Als ihn der Mann ansprach, der neben ihm saß, und seine Aufmerksamkeit erregte, verflog ihr Unbehagen.
Thorgold ergriff eine Platte und häufte Heringe auf seinen Teller. Genauso schnell zog er den Brotkorb zu sich heran, ohne die tadelnden Blicke der anderen Dienstboten zu beachten. Raven steckte einen ganzen Fisch in den Mund, schluckte ihn hinunter und schnitt eine Grimasse. Sehnsüchtig betrachtete sie die gebratenen Rebhühner, die zu Lord Hawks Tafel getragen wurden. »Die würden mir besser schmecken.«
»Hoffen wir, dass der Koch nicht zu erfinderisch ist«, kicherte Thorgold. »Sonst würdest du deine Kusinen am Ende im selben Zustand sehen.«
Ravens kleine Augen funkelten. »Nicht einmal diese primitiven Sachsen wären so dumm.«
»Still!«, mahnte Krysta. Sie unterhielten sich auf Norwegisch, aber man konnte nicht wissen, wer diese Sprache verstand. Wie ihr die verschwenderische Einrichtung der Halle verriet, beruhte Lord Hakws Reichtum hauptsächlich auf einem blühenden Handel. Seine Festung schützte den Hafen, den zweifellos zahlreiche Schiffe ansteuerten. Auch die Norweger trieben einen lebhaften Handel, und Thorgold wandte seine eigenen Methoden an, um sich luxuriöse Waren aus fernen Ländern zu beschaffen. Ob er unter den Brücken arglosen Reisenden auflauerte und Tribut von ihnen verlangte, wollte Krysta gar nicht fragen...
In Lord Hawks Halle entdeckte sie kostbaren Samt aus Byzanz, roch Gewürze aus den Ländern der aufgehenden Sonne und bewunderte Juwelen aus dem Gebiet jenseits der großen Wüste, die angeblich nahe der Südküste des Mittelmeers lag. Mit dem Handel lernten die Menschen auch eine verfeinerte Kultur kennen, es wäre ein Fehler, die Sachsen zu unterschätzen – trotz ihrer zwanglosen Manieren.
Besonders unbefangen benahmen sie sich, wenn sie aßen. Nur Krysta verspürte keinen Appetit. Da sie nicht auffallen wollte, ließ sie ihren Blick über die gefüllten Platten und Schüsseln wandern. Womit sollte sie sich stärken? Beruhigt atmete sie auf, als sie frischen grünen Salat und Käse sah. Damit gab sie sich zufrieden. Außerdem wählte sie ein Stück Brot und einen schmackhaften Hering. An der herrschaftlichen Tafel wurden gebratene Rehkeulen und ein Eintopf mit geschnetzeltem Wildfleisch serviert. Während Krysta ihren Käse verspeiste, trugen die Mägde köstlich duftende Fleischtöpfe an ihr vorbei.
Wie Hawk feststellte, aß sie nur wenig. Vielleicht war sie deshalb so schlank, nicht wegen der harten Arbeit eines Dienstboten. Dann musste seine Braut, die unbekannte Krysta von Vestfold, eine gütige Herrin sein. Würde er eine freundliche, sanftmütige Frau heiraten, die Balsam für sein schwieriges Leben wäre? Möglicherweise – wenn er endlich aufhörte, ihre Dienerin anzustarren. Heiliger Himmel, was ist denn los mit mir, überlegte er verärgert.
Im allgemeinen Stimmengewirr und Gelächter ging der laute Knall unter, mit dem er seinen Becher ungestüm auf den Tisch stellte. Darüber war er froh. Keiner seiner Leute durfte sein Interesse an der jungen Frau bemerken, das man für Schwäche halten würde. Beim Anblick des Barden, der neben den Herd trat, seufzte Hawk erleichtert. Der Mann breitete die Arme aus. Mit seiner tiefen Stimme bat er die Versammlung um Aufmerksamkeit, und die leisen Klänge der Handtrommel, auf die sein Lehrling schlug, untermalten die Worte.
»Hört mich an!
Ich singe von großen Herren und edlen Taten,
Von kühnen Heldentaten, die unsere Feinde besiegen,
Feinde, die vor uns fliehen.
Dank der göttlichen Gnade triumphieren wir.
Der Allmächtige schenkte uns einen großen Führer,
Den mächtigen König Alfred.
Und seine starke rechte Hand, Lord Hawk,
Der Habicht mit den schnellen Schwingen und tödlichen
Krallen,
Hält uns in seinem schützenden Griff fest.
Große Herren und edle Taten!
Und die Feinde fliehen
Für immer aus unserem Land!«
Lauter Jubel belohnte den Barden und verstummte sofort, als er erneut die Stimme hob. Aufmerksam lauschte Krysta, denn sie wusste, wie viel die Lieder über ein Volk verrieten.
Er enttäuschte sie nicht. Wortgewandt und leidenschaftlich berichtete er von den Ereignissen des Zeitalters: Alfreds Flucht in den Sumpf von Athelney, wo er sich vor den dänischen Eindringlingen rettete, seine Rückkehr nach Somerset; dort trommelte er seine Krieger zusammen, und das Heer errang bei Edington einen triumphalen Sieg über die Dänen.
Obwohl die Zuhörer diese Geschichte kannten, gerieten sie alle in den Bann des stimmgewaltigen Barden und hielten den Atem an, als würde sich das Geschehen vor ihren Augen abspielen. Während er Alfreds Geschick als Stifter und Bewahrer des Friedens pries, lächelten sie. Dann begann er, den Herrn von Hawkforte zu loben. Grinsend prosteten sie Hawk zu, der die Schilderung seiner Taten eher resignierend über sich ergehen ließ.
Der Barde sang:
»Dann weinten die Menschen
Um den Verlust Lady Cymbras.
Im Dunkel der Nacht
War der Wolf aus dem Norden gekommen,
Um sie in seine große Festung zu entführen,
Sciringesheal am Meer.
Dorthin flog der Habicht, zielstrebig und treu,
Getreu seiner Ehre und seines Mutes,
Kühn entschlossen, Cymbra zu befreien
Und heimzubringen.
Doch der Wolf kehrte auf eisigen Wellen zurück
Und beanspruchte seine Gemahlin.
Da beschwichtigte die Heilkundige den Zorn der Krieger,
Und die beiden Herren schlössen Frieden,
Hier auf Hawkforte,
Den Frieden der Familienbande,
Den Frieden der Kinder, die bereits geboren sind und noch geboren werden,
Den Frieden unserer für immer vereinten Völker!«
Noch bevor das letzte Wort verhallte, erfüllte schallendes Jubelgeschrei die Halle. Begeistert schlugen die Leute mit ihren Hornbechern auf die Tische. Der Lärm beunruhigte Raven und ärgerte Thorgold. Aber Krysta war fasziniert. Ein Jahr zuvor hatte sie diese Geschichte in der reichen Hafenstadt Sciringesheal gehört. Dort lebte der mächtige Norweger Wolf, ein listenreicher Krieger. Er hatte eine schöne Frau entführt und im Zorn zu einer Ehe gezwungen, in der die Saat wahrer Liebe gewachsen war. Lord Hawk holte seine gestohlene Schwester zurück. Nur Lady Cymbras Besonnenheit hatte einen Krieg verhindert. Für das Bündnis zwischen Wolf und Hawk interessierte sich Krysta ganz besonders, denn ihre eigene Heirat sollte es festigen. Dagegen hatte sie nichts einzuwenden. Wenn ihre Ehe dem Frieden dienen sollte – umso besser. Aber sie wollte auch geliebt werden. Sonst würde das kalte graue Wasser, das ihre Mutter geholt hatte, auch sie in ein nasses Grab hinabziehen.
Zu der freudigen Stimmung, die in der Halle herrschte, passten diese düsteren Gedanken nicht, und Krysta verdrängte sie. Wenig später suchte sie mit Raven ihren Alkoven auf und hoffte Schlaf zu finden – an diesem seltsamen fremden Ort, den sie von jetzt an ihr Heim nennen musste. Für immer.
Bevor die letzten Sterne erloschen, der erste Hahn krähte und die Sperlinge in der Dachrinne des Frauenhauses zu zwitschern begannen, erwachte Krysta aus einem unruhigen Schlummer. Eine Zeit lang lag sie im grauen Schatten und wusste nicht, wo sie sich befand. Die Luft duftete nach Holz und Rauch. Wie daheim. Auch die Vogelstimmen klangen nicht anders. Aber das Klima war wärmer, und sie nahm einen schwachen Salzgeruch wahr. In der Ferne rauschten Wellen, die an eine sanftere Küste schlugen. Bald kehrten die Erinnerungen zurück und verscheuchten den letzten Nebel des Schlafs. Sie stand auf und musterte Raven, die immer noch schlummerte, den Kopf auf die Brust gesenkt.
Um die Freundin nicht zu stören, zog sich Krysta möglichst lautlos an. Sie wählte ein schlichtes Wollkleid, blau gefärbt mit einer Mischung aus Löwenzahnwurzeln, Waid und Wacholder. Um ihre Taille schlang sie einen Ledergürtel, an dem die traditionellen Gerätschaften einer vertrauenswürdigen Dienerin hingen – ein Messer, ein Fingerhut, ein kleiner Filzbeutel mit Nähnadeln und kostbaren Scheren, außerdem die Schlüssel ihrer Truhen. Sie bedeckte ihr Haar mit einem fein gewebten weißen Schal und warf ein Ende über die Schulter. Für den Tag gerüstet, schlich sie an den anderen Alkoven vorbei und trat ins Freie.
Verwundert beobachtete sie die Männer, die auf den Mauern patrouillierten. Schon zu dieser frühen Stunde? Oder hatten sie die ganze Nacht Wache gehalten? Vermutlich. Auch diese Vorsichtsmaßnahme zeugte von der Macht und Entschlossenheit des Festungsherrn.
In den Küchenräumen loderten bereits helle Flammen, und mehrere Dienstboten durchquerten den Hof. Das Tor blieb vorerst geschlossen. Nur an seiner Seite stand eine kleine Tür offen, um einige Frühaufsteher einzulassen. Im Schatten der Mauer huschte Krysta zu diesem Ausgang und wartete, bis eine Schar kichernder, geschwätziger Wäscherinnen hereingekommen und an ihr vorbeigeeilt war. Dann schlüpfte sie hinaus. Während sie den Hang hinablief, spürte sie ein seltsames Prickeln im Nacken und gewann beinahe den Eindruck, Hawkforte würde ihr missbilligend nachschauen.
Sie beschleunigte ihre Schritte und erreichte den Wald am Fuß des Hügels. Im Schutz der ersten Bäume hielt sie inne, um Atem zu schöpfen. Mit ihrer Heimat verglichen, wirkte die Szenerie mild und beschaulich. Ein Bach plätscherte in der Nähe, dessen Wasser über bemooste Felsen strömte und in einen stillen Teich mündete. Fast unmerklich ging dieses Gewässer ins Meer über, der fruchtbare Erdboden in feuchten Sand. Hier wuchsen keine Eichen, sondern Kiefern, und der süße Duft des Grases wich dem Salzgeruch der See. Krysta verließ den kühlen Schatten des Waldes und sah einen breiten Strand. Vor ihr erstreckte sich eine Bucht.
Impulsiv breitete sie ihre Arme aus, als wollte sie alles umfangen, was sie erblickte. Ihre Füße tanzten anmutig über den Sand. Lachend drehte sie sich im Kreis und wich den Wellen aus, die den Strand überspülten. Hinter ihr stieg die Sonne empor und tauchte die Küste in goldenes Licht.
Auch die übermütige junge Frau. Dahin und dorthin glitt ihre schlanke Gestalt, so schwerelos, dass ihre Sohlen den Sand kaum zu berühren schienen, dass sie eher einer Elfe glich als einem menschlichen Wesen. Hawk saß auf einem Felsvorsprung oberhalb des Strandes und beobachtete sie fasziniert. Halb und halb erwartete er, sie würde im Schleier der Gischt verschwinden. Sein Blick folgte ihr am Wasserrand entlang. Nun wechselte die Brise ihre Richtung und wehte kristallklares Gelächter zu ihm herauf. Zu seiner eigenen Überraschung lächelte er.
Natürlich, sie amüsierte ihn – mehr steckte nicht dahinter. Irgendetwas an der seltsamen Kombination scheuer Unbeholfenheit und unschuldiger Grazie durchbrach seine gewohnte Zurückhaltung. Doch er empfand keine Begierde, sondern nur Belustigung. Zweifellos war sie hübsch, aber er kannte viele reizvolle Frauen, und es hatte ihm niemals Schwierigkeiten bereitet, sich mit ihnen zu vergnügen und dann seiner Wege zu gehen, ganz nach Belieben. Immerhin musste ein Mann wichtige Dinge beachten. Nur ein Narr ließ sich von seinem Schwanz leiten.
Unter seinen Stiefeln rieselten Kiesel hinab. Erst jetzt merkte er, dass er den Hang zum Strand hinunterstieg. Das hatte er nicht beabsichtigt. Und wenn schon. Um vor dem Getriebe des Tages ein bisschen Zeit für sich selbst zu finden, war er hierher gekommen. Warum sollte er nicht über seine eigenen Gestade wandern? Nicht er war der Störenfried, sondern sie. So wie die beiden anderen merkwürdigen Dienstboten, die sich ungebeten nach Hawkforte begeben hatten, ohne seine säumige Verlobte. Offenbar hatten sie nichts anderes zu tun, als sich zu amüsieren. Dass Daria ihnen keine Arbeit zugewiesen hatte, verblüffte ihn. Aber wahrscheinlich wollte sie den Leuten keine Gelegenheit geben, sich nützlich zu machen, was ein günstiges Licht auf ihre Herrin werfen könnte. Wie würde sich seine Schwester verhalten, wenn sie ihre Position an Lady Krysta abtreten musste? Dieses Problem wollte er in aller Entschiedenheit lösen. Doch das war erst nach der Ankunft seiner Braut möglich, wenn er wusste, wie energisch sie auftreten würde. Nach allem, was er bisher festzustellen vermochte, war sie entweder ungewöhnlich kühn, weil sie ihn mit ihrer Verspätung herausforderte, oder sie wagte sich vor lauter Angst nicht an seine Küste. So oder so, Hawk rechnete mit erheblichen Schwierigkeiten.
Ein Grund mehr für einen erholsamen Strandspaziergang.
Als Krysta sich bückte, um einen irisierenden Stein am Rand einer kleinen Pfütze zu betrachten, fiel ein Schatten über sie. Sie richtete sich auf und beschattete ihre Augen mit einer Hand. Angesichts der dunklen Silhouette vor der aufgehenden Sonne rang sie nach Luft. Lord Hawk. Obwohl ihr seine Züge verborgen blieben, erkannte sie ihn sofort. Kräftig gebaut und hoch gewachsen, überragte er sie um mindestens zwei Haupteslängen, und sie selbst war, verglichen mit den meisten Sächsinnen, ziemlich groß. Mit seinen breiten Schultern verdeckte er beinahe das Sonnenlicht. Weder sein Äußeres noch seine Haltung drückten etwas Sanftes aus, vielleicht abgesehen von den Locken, die im Wind flatterten. Auf dieses Haar, das sich um seinen Hals kräuselte, konzentrierte sie sich. Seidig und weich, wie Babylöckchen... Bei diesem Gedanken lächelte sie.
»Guten Morgen.« Seine Stimme glich einem Quell, der in den Tiefen der Erde entsprang. Ohne Zögern ergriff sie die Hand, die er ihr reichte. Seine Haut fühlte sich warm an, die Handfläche rau und schwielig. Hastig zog sie ihre Finger zurück und blinzelte in die Sonne.
»Guten Morgen, Mylord.« Sie sprach klar und deutlich. Aber in ihren eigenen Ohren hörte sich ihre Stimme schwach und zittrig an, wie das Lied von Schilfgräsern in einem heftigen Windstoß.
»Wo ist deine Herrin?«
Die unvermittelte Frage verwirrte Krysta. Gegen ihren Willen schaute sie auf und begegnete seinem Blick. »Meine Herrin, Mylord?«
»Lady Krysta. Entsinnst du dich nicht, wem du dienst?«
Benahm er sich immer so anmaßend? So ungehobelt? Dieser Mann, dessen Liebe sie gewinnen musste? Sekundenlang presste sie die Lippen zusammen. »Das weiß ich sehr gut, Mylord. Lady Krysta kommt hierher.«
Die Stirn gerunzelt, strich er durch seine seidigen Locken – eine Geste, die seine Ungeduld bezeugte. Halb wandte er sich ab, als wollte er nichts mehr mit ihr zu tun haben. Dann drehte er sich wieder um, offensichtlich unentschlossen. »Ja, das hat man mir mitgeteilt. Nun frage ich mich, warum sie noch nicht eingetroffen ist.«
Auf solche Fragen war sie nicht gefasst. Sie hatte nicht einmal erwartet, mit ihm zu reden, solange sie die Dienerin seiner abwesenden Braut spielte, sondern angenommen, sie würde ihn nur aus der Ferne beobachten. Stattdessen stand er dicht vor ihr, und ihre Unsicherheit wuchs. »Für Lady Krysta kann ich nicht sprechen, Mylord.«
Angstvoll sah sie, wie er die Brauen zusammenzog. Ist mein Bräutigam gewalttätig, überlegte sie. Bis zu einem gewissen Grad zweifellos, denn er war ein mächtiger Kriegsherr. Aber wandte er auch gegen schwächere Menschen rohe Gewalt an? Würde er eine Dienerin schlagen, die nicht die gewünschte Auskunft gab? Oder eine Ehefrau, die sein Missfallen erregte?
Seufzend schüttelte er den Kopf. »Nein, das kannst du wohl nicht. Danach hätte ich dich gar nicht fragen sollen.«
So nachsichtig war er? So schnell bereit, ihr zu verzeihen? Eine neue Zuversicht stieg in ihr auf. Um ihn zu erfreuen, betonte sie: »Jedenfalls wird sie nach Hawkforte reisen. Und sie fiebert ihrer Ankunft entgegen.«
»Tatsächlich?« Sein Staunen wirkte fast jungenhaft. Und was las sie in seinen meerblauen Augen? Hoffnung?
Aus einem unergründlichen Impuls heraus, wollte sie diese Hoffnung schüren. »O ja. Mit dieser Heirat möchte Lady Krysta einen Beitrag zum Frieden zwischen den Norwegern und den Sachsen leisten, und sie glaubt, das wird ihr gelingen.«
»Also genießt du ihr Vertrauen? Teilt sie dir ihre Gedanken mit?«
Krysta zauderte. Was sollte sie erwähnen? Wie weit durfte sie gehen? »Wenn ich auch nur eine Dienerin bin, Mylord – in dieser Angelegenheit kenne ich die Wünsche meiner Herrin. Daraus macht sie kein Geheimnis.«
»Dann hegt sie keine Bedenken?« Hawk warf einen Blick aufs Meer, bevor er sie wieder anschaute. »Keine Zweifel?«
»Nun – die Heirat wird ihr Leben völlig verändern, mit einem fremden Mann, in einem fernen Land. Aber meine Herrin ist fest entschlossen, ihr Bestes zu tun, um Euch zu beglücken.«
»Sicher wäre ihr Erscheinen ein guter Anfang.« Seine Worte klangen nicht ärgerlich, nur leicht irritiert.
»Allzu lange müsst Ihr nicht mehr warten, Mylord. Es ist nur – ihr ganzes bisheriges Leben verbrachte sie mit denselben Menschen, und die Trennung fällt ihr schwer. Vor der Abreise will sie für das Wohl dieser Leute sorgen.«
»Darum müsste sich ihr Halbbruder kümmern – wie heißt er doch gleich? Sven?«
Beklommen fragte sie sich, was eine Dienerin über Sven sagen würde. Nur dreimal in ihrem Leben war sie ihm begegnet. Einmal nach dem Tod des Vaters, das zweite Mal bei Wolf Hakonsons Besuch, und zuletzt hatte der Bruder sie zu sich bestellt, um ihr mitzuteilen, sie würde Lord Hawk heiraten. Trotz der nur flüchtigen Bekanntschaft fühlte sie sich unbehaglich, wann immer sie an Sven dachte, denn sie hielt ihn für einen Mann mit leerem Lächeln. Und seine Versprechungen erschienen ihr noch leerer. »Gewiss, Mylord. Aber Lady Krysta möchte persönlich die Verantwortung für ihre Leute übernehmen.« Das stimmte. Wochenlang hatte sie sich um ein paar Dutzend Familien im Dorf unterhalb ihres Hauses auf den Meeresklippen bemüht und ihre Zukunft gesichert.
»Wie lobenswert...«
Krysta begann zu lächeln.
»Es sei denn, die Lady ließ sich von ihrer Eitelkeit leiten.«
Da erlosch das Lächeln. »Eitelkeit?«, wiederholte Krysta und schnappte entgeistert nach Luft. »Ist man eitel, wenn man für seine Mitmenschen sorgt?«
»Manche Leute wissen nicht zwischen echter Anteilnahme und dem Bestreben zu unterscheiden, andere zu beherrschen.«
»Glaubt mir, Lady Krysta kennt den Unterschied.«
Obwohl er nickte, wirkte er keineswegs überzeugt. »Natürlich bist du ihr treu ergeben, das ist verständlich.«
»Nicht nur treu ergeben, Mylord. Ich kenne Lady Krysta, und ich versichere Euch, sie will niemanden beherrschen.«
Plötzlich starrte er sie so eindringlich an, dass ihr ein Schauer über den Rücken lief. »Ist sie etwa dumm?«
Wenn sie den Mund noch weiter aufriss, würde sie womöglich eine Fliege verschlucken. Ein paar Mal musste sie tief Atem holen, bevor ihr die Stimme wieder gehorchte. »Darf ich fragen, warum Ihr das befürchtet, Mylord?«
»Weil die meisten Menschen eine gewisse Macht ausüben möchten. Nur die Törichten tun alles, was man ihnen befiehlt. So ist die Lady doch nicht veranlagt?«
Geduld, mahnte ihr Verstand. Hoffnung, drängte ihr Herz. »Keineswegs, Mylord.«
Lord Hawk bückte sich und hob den schimmernden Stein auf, den sie vorhin bewundert hatte. Mit einer flinken Drehung des Handgelenks schleuderte er ihn aufs Meer. Fünfmal hüpfte der Kiesel über die Wellen, ehe er versank. »Und wie ist sie?«
Die Neugier eines Jungen, die Frage eines Mannes.
»Wie ich bereits erklärt habe, sie sorgt sich um ihre Leute. Sie möchte den Frieden zwischen den Norwegern und Sachsen festigen, und sie wird ihr Zuhause vermissen. Aber sie ist fest entschlossen, auf Hawkforte ein neues Heim zu finden.«
Wie wehmütig ihre Stimme klingt, dachte Hawk. Nicht nur ihre Herrin wird an Heimweh leiden. Er musterte die junge Frau, deren Gesellschaft er nicht gesucht, nach deren Namen er absichtlich nicht gefragt hatte, ein Mädchen mit grünen Augen und Sommersprossen auf dem Nasenrücken, ein hübsches Ding... Nicht so strahlend schön wie seine Schwester Cymbra, deren Anwesenheit genügte, um allen Männern den Kopf zu verdrehen. Wenn die Dienerin lächelte, wirkte sie noch zauberhafter. Oder wenn sie ihn nachdenklich betrachtete, so wie jetzt.
Streckte er wirklich und wahrhaftig eine Hand aus, um ihre Wange zu berühren?
Mühsam schluckte sie und wich zurück. »Mylord...«
»Krah, krah...« Im Sonnenschein flatterten schwarze Schwingen. Hawk blickte zu dem Raben auf, der dicht über seinem Kopf kreiste. Auf den Ästen der Bäume hinter dem Strand hockten weitere Raben, dunkle Schatten zwischen den Blättern. »Krah, krah...« Hatte es schon immer so viele Raben auf Hawkforte gegeben? Daran erinnerte er sich nicht. Und es spielte auch gar keine Rolle. Solche Vögel flogen herbei und wieder davon.
Doch die grünäugige Dienerin nahm den kleinen Zwischenfall viel wichtiger. Zunächst wirkte sie erstaunt, dann biss sie ärgerlich in ihre Unterlippe. Vielleicht mochte sie Vögel nicht. »Mylord, jetzt muss ich gehen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte sie den Strand hinauf. Beinahe wäre er ihr gefolgt. Aber er hielt sich gerade noch rechtzeitig zurück. Eine Dienstmagd seiner Braut! Welch eine Torheit...
Eine Zeit lang blieb er am Wasserrad stehen, bis ihn die Pflicht zur Festung zurücktrieb. Das Tor war geöffnet, mehrere Wagen fuhren hindurch, Handkarren wurden in den Hof geschoben. Außerhalb der Mauer lag die Stadt, von Hawks gut ausgebildeten Männern bewacht. Bald drohten die blühenden Geschäfte der Siedlung ihre Wälle zu sprengen. Im nächsten Jahr würde Hawk eine neue Mauer errichten lassen. Viele Kaufleute zogen hierher, die im Schutz seines Schwerts zu Wohlstand gelangten. Auch Gelehrte kamen von weit und breit an diese Küste, eine Entwicklung, die König Alfred in die Wege geleitet hatte. Nur zu gern folgte Hawk diesem Beispiel, denn er schätzte die Gesellschaft von Männern, die zahllose Bücher gelesen hatten und so anschaulich über längst vergangene Ereignisse sprechen konnten, als wären sie erst gestern geschehen. Zahlreiche Zugereiste besaßen andere Talente. Auf Hawkforte arbeiteten die besten Schmiede von ganz Essex und darüber hinaus, das galt ebenso für die Gerber, Zimmermänner und übrigen Handwerker. Emsige Mönche schmückten in der Abtei, die Hawk gebaut hatte, ihre Handschriften mit schönen Bildern. Fachkundige Apotheker betreuten die Kranken. Besonders stolz war Hawk auf die Kanäle, die seine Experten angelegt hatten und die in diesem Jahr, wo es nur selten geregnet hatte, für üppig grüne Felder sorgten.
Mit dem enormen Aufschwung hatte er nie gerechnet, sondern eher ein Schicksal voller Blut und Schweiß erwartet. König Alfreds Visionen verdankte er ein sehr angenehmes Leben, und er war fest entschlossen, das Glück seiner Leute und sein eigenes zu schützen. Um jeden Preis. Doch er wollte die Freude, die ihm beschieden war, auch genießen. Und so wanderte er guten Mutes in einer abgetragenen schmucklosen Tunika aus brauner Wolle durch die Straßen zu seiner Burg. Nur das Schwert an seiner Seite und die Ehrerbietung der Stadtbewohner bekundeten den Rang des Festungsherrn. Schüchtern lächelten sie ihn an, lüfteten die Hüte, und eine alte Frau drückte ihm ein noch ofenwarmes Rosinenbrötchen in die Hand. Bereitwillig nahm er es entgegen, denn er hatte seinen Turm verlassen, ohne zu frühstücken. Während er weiterschlenderte, biss er in das knusprige Gebäck.
Langsam ging er an den Läden und Werkstätten entlang. Hier und dort blieb er stehen, um mit einem Kaufmann oder einem Bauern zu sprechen. Früher hatte er die Namen aller Bewohner von Hawkforte gekannt. Aber jetzt waren zu viele hierher gezogen. Trotzdem bemühte er sich stets um persönliche Bekanntschaften. Ein Mann, der Toby hieß, legte einen Arm um die kräftigen Schultern seines jungen Sohnes und verkündete, an diesem Tag würde der Bursche seine Lehre bei einem Wagenbauer beginnen. Lächelnd zerzauste Hawk das Haar des Jungen, beglückwünschte ihn, und einige Zuschauer nickten wohlwollend.
Dann kam er an einer Taverne vorbei, die häufig von Schiffskapitänen und ihren Besatzungen besucht wurde. Tische und Stühle wurden vor die Tür gestellt, und ein paar Männer nippten am ersten Ale des Morgens. Dankend lehnte Hawk ab, bei ihnen Platz zu nehmen. Als er den Hang zur Festung hinaufstieg, nahm er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr und blieb stehen. Instinktiv berührte er den Griff seines Schwerts.
Thorgold schnaufte verächtlich, trat unter einem steinernen Torbogen hervor, der die Straße überspannte, und grinste Hawk an. »Beruhigt Euch, Mylord, da ist nur der alte Thorgold. Einen schönen guten Morgen wünsche ich Euch.«
»Und ich dir«, erwiderte Hawk automatisch und kam sich albern vor, weil er zur Waffe gegriffen hatte. Aber nicht so albern wie vorhin. Beinahe hätte er die Wange des grünäugigen Mädchens gestreichelt... Diese Erinnerung bewog ihn, einen strengen Ton anzuschlagen, was er vorher nicht beabsichtigt hatte. »Was tust du hier?«
»Oh, ich gönne meinen alten Knochen eine kleine Rast, Mylord, denn wir haben eine weite Reise hinter uns.«
Immer noch leicht verärgert, bemerkte Hawk: »Klar, das muss ein ungewöhnlich langer Weg sein. Sonst wäre deine Herrin sicher schon eingetroffen.«
»Seid Ihr so ungeduldig?«, kicherte der bärtige Mann mit den krummen Beinen. »Dazu habt Ihr auch allen Grund. Ein bildschönes Mädchen...«
»Ein Mädchen? Bist du so vertraut mit ihr?«
»Gewiss, seit der Stunde ihrer Geburt kenne ich sie.«
An diesem Tag hatte Hawk schon genug Dummheiten begangen. Warum sollte er jetzt damit aufhören? »Erzähl mir von ihr.«
»Seid Ihr so eifrig bestrebt, die Lady kennen zu lernen?«, fragte Thorgold belustigt.
»Eifrig bestrebt? Nein, nur neugierig.«
Der alte Mann kräuselte die Lippen und nickte verständnisvoll. »Ah, reine Neugier. Deshalb sind so manche Männer um die Welt gezogen. Oder sie wollten dem schönen Geschlecht entrinnen. Mit den Frauen hat man leider immer nur Ärger. Unentwegt nörgeln sie über dies oder jenes, mit grässlichen Stimmen wie... Nein, ich will nicht sagen, sie krächzen wie die Raben. Damit würde ich mir einige Schwierigkeiten einhandeln. Aber wenn sie in Wut geraten, schreien sie furchtbar schrill. Findet Ihr nicht auch?«
Seufzend dachte Hawk an Daria. »Ja, allerdings.«
»Aber zum Glück gibt’s auch andere Frauen. Sanft wie ein Frühlingsregen, stark wie das Wasser, das über den Felsen rauscht und ihn glättet. Der Felsen weiß kaum, wie ihm geschieht. Und es stört ihn keineswegs.«
»Ich bin kein Felsen«, erwiderte Hawk und schaute zum Himmel auf. Schmerzhaft stach ihm das gleißende Blau in die Augen. Und überall saßen Raben – auf den Festungsmauern und den Ästen der Bäume. So viele Raben. »Ich bin ein Mann.«
Da kicherte Thorgold wieder. Diese Antwort schien ihm zu gefallen. Gönnerhaft verkündete er: »Sie mag Haarbänder.«
»Was...?«
»Bänder. Für ihr Haar. Die mag sie. In vielen verschiedenen Farben. Dafür schwärmte sie schon in ihrer Kindheit.« Mit schmalen Augen starrte der kleine Mann den Lord an. »Diese Bänder verwahrt sie in einem Kästchen. Wie Blumen zusammengerollt.«
»Schlägst du vor, ich soll Haarbänder kaufen?«
Thorgold zuckte die Achseln. »Jedenfalls würde es nicht schaden.«
»Und Juwelen, Pelze, Seide?«
»Nur Haarbänder.«
»Ein edles Pferd, luxuriöse Wandbehänge für ihr Gemach, kostbare Parfüms?«
»Haarbänder.«
»Ein Spiegel aus den fernsten Regionen Arabiens, Kassetten aus Zedernholz voller Gewürze, eine Harfe, deren Saiten an den Schwanz eines Einhorns gespannt sind?«
»Haarbänder. Das Einhorn würde ich an Eurer Stelle vergessen, Mylord. Solche Tiere kann man nicht fangen.«
Erfolglos versuchte Hawk, ein Lächeln zu unterdrücken. »Willst du andeuten, ich soll bis ins hohe Alter immer nur Haarbänder kaufen?«
»Wenn Ihr Euch so glücklich schätzen dürft, Mylord... Überschüttet Euch Fortuna mit ihren Gaben?«
»Verdammt will ich sein, wenn ich das weiß...«In seinem bisherigen Leben hatte Hawk Freud und Leid kennen gelernt. Das Essex seiner Kindheit war ein gefährliches Land gewesen, nicht so friedvoll wie jetzt. Und ein vernünftiger Mann musste stets auf der Hut sein. Seine Mutter war zu früh gestorben und hatte nur vage, süße Erinnerungen hinterlassen, die manchmal eine schmerzliche Sehnsucht heraufbeschworen. Dieses Gefühl konnten viele Dinge auslösen – eine Melodie, ein Duft, das Gemurmel einer Stimme, die fast, aber nicht völlig vertraut klang. Daran war er gewöhnt. Aber seiner selbstsüchtigen, gedankenlosen jungen Ehefrau, die in ihrem sträflichen Leichtsinn kurz nach der Hochzeit einen tödlichen Unfall erlitten und ihr ungeborenes Kind ins Jenseits mitgenommen hatte, gönnte er kaum einen Gedanken. Nach den Maßstäben dieser Welt hatte er viel erreicht, und das erfüllte ihn mit Genugtuung. Trotzdem fragte er sich manchmal, ob er nicht noch mehr erhoffen sollte – etwas Unerkanntes, Unerwartetes.
Ein Signalhorn ertönte, um die Ankunft einer Reiterschar zu melden. Geschmeidig schwang sich Hawk auf den Torbogen und blickte über die Stadt hinweg. Ein Dutzend Krieger galoppierte unter dem flatternden königlichen Banner heran.