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In Tonias Vortrag war es um die Entstehung der legendären Golden Gate Bridge in der Bucht von San Francisco gegangen. Nachdem Hebeisen ihr ein Jahr lang kaum von der Seite gewichen war.

– sie hatten beinahe jedes Wochenende miteinander verbracht, waren mit dem Fahrrad den Zeltplätzen der Innerschweiz nachgereist, und Hebeisen hatte seine Freundin im Atelier mehrmals in Ölfarben porträtiert, einmal sogar nackt –, trieben die Recherchen für diese mündliche Arbeit seit langem wieder einmal einen Keil zwischen die beiden Verliebten, sowohl räumlich wie geistig. Auch bei Tonia führte es zur Konkretisierung von Zukunftswünschen. Sie nahm es in Angriff, sich um eine Green Card zu kümmern, um sich nach der Matura tatsächlich den amerikanischen Traum zu erfüllen, und informierte sich deshalb in Büchern und Reiseführern über das Leben an der Ost- und Westküste der Vereinigten Staaten.

Es war etwas, von dem sie Hebeisen nicht allzu viel erzählte.

Auf beiden Seiten begannen sich jene schmerzlichen Symptome zu häufen, die das Ende ihrer Beziehung markierten.

Als Hebeisen an einem der kommenden Samstage alleine den Flohmarkt in der Zürcher Stadthausanlage aufsuchte, um wie gewohnt durch das antiquarische Angebot an Bildbänden und Malutensilien zu stöbern, sollte er eine folgenschwere Entdeckung machen.

Zwischen den schweren Kunstbüchern steckte eine abgegriffene Ausgabe der «Geschichte der O» von Pauline Réage.

Die Titelillustration verschlug Hebeisen für Momente den Atem.

Sie zeigte eine halbnackte bleiche Frau in goldenen Fesseln und in einem aufgerissenen Rokoko-Kleid. Ihre Augen waren der schönen Sklavin verbunden worden.

Der Händler verlangte fünf Franken für die erotische Lektüre, der Preis stand mit Bleistift auf die Innenseite des Buchdeckels geschrieben. Hebeisen entfernte den dunkelgrünen Schutzumschlag, so dass dem Buch seine erwachsene Natur nicht mehr anzusehen war, und bezahlte klopfenden Herzens.

Hebeisen sollte die Geschichte nie zu Ende lesen.

Der Text war ihm zu altmodisch, zu trivial und zu prätentiös.

Trotzdem wühlte ihn die Existenz des Buches auf.

Irgendetwas in ihm drin hatte Leck geschlagen, als er darauf gestossen war, und die Tatsache erfüllte sein Empfinden neuerdings mit einer dunklen, unerklärlichen Schwäche. Es handelte sich um etwas, worüber er mit niemandem reden konnte. Zuletzt mit Tonia. Bei den Gedanken, die ihm im Zusammenhang durch den Kopf schossen, fühlte er sich nämlich schmutzig und pervers.

Die diffuse Not wich bald der Erkenntnis, dass seine erwachsenen sexuellen Wünsche mit der Realität seiner aktuellen Beziehung kollidierten. In seinen Fantasien identifizierte sich Hebeisen mit der devoten «O». Seine wahre geschlechtliche Identität wartete demnach auf der passiven Seite auf ihn.

Nach mehreren erotischen Erlebnissen mit sich alleine, die ihn gleichsam erlösten wie erniedrigten, kam Hebeisen zum Schluss, dass er ein Sklave war.

Als Tonia anrief, um ihm nicht ohne Traurigkeit mitzuteilen, dass es besser sei, wenn sie sich neben der Schule eine Zeitlang nicht mehr sehen würden, war Hebeisen einverstanden. Er wusste, dass sie niemand andern traf. Gleichzeitig hatte sich das heimliche Erwachen seiner neuen Leidenschaften während der letzten Wochen wie Betrug an seiner Freundin angefühlt, so dass er ohnehin zur Überzeugung gelangt war, dass Tonia die falsche Frau für ihn gewesen wäre.

Es war das Ende ihrer harmonischen Beziehung.

Seine letzten Ferien vor der Matura verbrachte Hebeisen alleine, indem er mit dem Zug nach Amsterdam reiste und dort für zehn Tage ein billiges Hotelzimmer bezog. Es ging ihm vor allem darum, alleine zu sein.

Er ass und trank viel. Er besuchte das Rijksmuseum, wo er stundelang Rembrandts «Nachtwache» studierte sowie die kleineren Werke Vermeers. Er verbrachte einen ganzen Tag im Vincent van Gogh-Museum. Er besuchte die Destillerie, in der das berühmte Heineken-Bier gebraut wurde. Abends streunte er durchs Redlight, wo er während des ganzen Urlaubs vor dem Besuch einer Folterkammer zurückschreckte. Trotzdem fühlte er sich wohl in der Stadt. Er empfand sich aufgehoben in etwas Protestantischem, das übers Kirchliche hinausging und von dem er spürte, dass er es ernst nehmen konnte. Es hatte nicht mit den Drogen zu tun oder dem freizügigeren holländischen Umgang mit Sexualität. Der machte ihm nämlich eher zu schaffen. Hebeisen brauchte eine Weile, um sich bewusst zu werden, dass er sich vielmehr in einer Umgebung bewegte, in der eine offene Minderheitenkultur gepflegt wurde. Es führte zur unangenehmen Empfindung, dass er in einer solchen Welt bloss Zaungast war, weil es ihm bei seinem Entwicklungsstand an der nötigen Bereitschaft zum Schmerz fehlte, mit dem ein ernsthaftes Eintreten verbunden gewesen wäre. Beim einsamen Biertrinken in der spätherbstlichen Sonne musste Hebeisen oft an seine Eltern denken und daran, dass es in seinem Leben nie wirklich zu einer echten Freundschaft gekommen war. Es waren sehr erwachsene Gedanken.

Das holländische Fernsehen zeigte in einer Gewitternacht «Diamonds Are Forever», nämlich als Hebeisen auf seinem kleinen Hotelzimmer bei geöffnetem Fenster nicht einschlafen konnte. Auf seinem Nachttisch standen und lagen mehrere kleine Fläschchen von Johnny Walker. Er sah den Bond-Film nicht zum ersten Mal. Aber jetzt mochte er nicht mehr den Chauvinismus, die Homophobie, den Tanz ums Rothaarige und das Kirchliche darin, auch wenn es sich wahrscheinlich um die beste musikalische Tonspur der Serie handelte.

Im Nachtzug kehrte er nach Zürich zurück. Bei der Einfahrt in den Hauptbahnhof empfand er diesmal leise Gefühle der Depression. Die alte Heimat zu erreichen, die sich dazwischen nicht verändert hatte, fühlte sich ein bisschen an wie Sterben.

Der Sklave

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