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Begonnen hatte alles in den Sechzigerjahren, noch bevor Christian Hebeisen geboren worden war.

Vater Heinz hatte damals angefangen, seine militärischen Wiederholungskurse in der Nachbarsgemeinde Hinwil zu absolvieren. Dort, am westlichen Dorfrand, befand sich das sogenannte AMP, der grosse Armeemotorfahrzeugpark mit seinen flachen unauffälligen Bauten und den schmalen Teerstrassen, auf denen der Probeverkehr durch den Moosstock und das Pilgerwegholz kreiseln konnte. An drei Wochen im Jahr war er hier, am Fuss des Bachtels, zwischen den Schiessübungen als Soldat um die Revisionen von Armeelastwagen bemüht, um Materialtransporte, um Tarnanstriche und um den Fahrzeugputz.

Heinz Hebeisen wusste nicht, womit er es verdient hatte. Seine Rekrutenschule hatte er nämlich als einfacher Lastwagensoldat bei den Transporttruppen in Thun absolviert: Panzerparaden, Schiessverlegung in den Berner Alpen, Kilometermarsch, Dosenfleisch, Gamellenteigwaren. Er hatte eben seine Berufslehre beendet, und es stand ihm sein Ingenieurstudium am Technikum in Rapperswil bevor. Als Rekrutenschüler fiel er positiv auf, er hatte den Respekt der Vorgesetzten und der Kameraden, jedoch keine Ambitionen aufs sogenannte Weitermachen, was respektiert wurde.

Heinz ging davon aus, auch für seine Wiederholungskurse ins Bernische aufgeboten zu werden. Es kam anders. Jemand, der es offensichtlich gut mit ihm meinte, liess ihn danach nämlich nicht in einen regulären Dienst einrücken, sondern bot ihn dazu auf, seine verbleibenden Diensttage in unmittelbarer Nachbarschaft zu seiner Heimatgemeinde abzuleisten. Aber damit nicht genug. Er war um die fünfundzwanzig Jahre alt, als er vom Kommando dazu abdetachiert wurde, die Funktion eines Ordonnanzfahrers auszufüllen, um für den Rest seiner Dienstpflicht im Jeep hohe Offiziere zu chauffieren. Man wollte nicht, dass er sich noch länger die Hände schmutzig machte. Es führte dazu, dass Heinz sein Sturmgewehr, sein Stgw 57, im Zeughaus Rapperswil abgeben konnte, um stattdessen eine leichtere Pistole zu beziehen.

Er bedankte sich für das Privileg mit einem offiziellen Brief.

Inzwischen hatte er Esther kennengelernt, und die beiden waren übereingekommen, nach Abschluss seines Studiums zu heiraten und eine Familie zu gründen.

Es war die Zeit, in der Heinz Hebeisen die folgenschwere Bekanntschaft mit Harald Grendelmeier machte.

Grendelmeier, ein herrischer Oberst in den Vierzigern, war der erste und der einzige Vorgesetzte, dem Heinz Hebeisen während seiner Widerholungskurse als Fahrer zur Verfügung stehen sollte. Im zivilen Leben war er als Anwalt für eine Grossbank tätig, mit Büro an der Genferstrasse in Zürich. Er war ein kalter Chauvinist. Er hatte graues, krauses Haar und eingefallene, fahlbraune Wangen. Er trug eine bundesrätliche Hornbrille, und an der Stelle seines Magens klaffte eine Grube, was seine uniformierte Gestalt auf Gürtelhöhe ins Lächerliche zog. Trotz seiner hohen Stellung besass er einen krankhaften, unkontrollierten Zug ins Respektlose und einen selbstgerechten Tick ins Erzieherische. Er war ein miserabler Zuhörer, der andern Menschen ständig ins Wort fiel. Er war gönnerhaft und humorlos.

Heinz Hebeisen mochte Harald Grendelmeier.

Stunden verbrachte er damit, im offenen Jeep, im Puch oder im hellbraunen VW Golf vor Kasernen und Gasthöfen auf ihn zu warten, während er die Zeitung las, einen Kaffee trank oder sonst eine Freiheit genoss, die andern Soldaten von seinem Rang verwehrt blieb.

Er hatte einzig auf seinen Schlaf zu achten und darauf, dass der Vorrat an Benzinkanistern aufgefüllt war. Das Kartenstudium erledigte der um fünfzehn Jahre ältere Grendelmeier, der stets die Kontrolle wahren musste, in den meisten Fällen selbst.

Ihre gemeinsamen Fahrten brachten die beiden Männer näher zusammen, wobei sie oft zwischen den Jahreszeiten im Glarnerland unterwegs waren, im Rheintal und auf den Seitenstrassen des Linthgebiets.

Grendelmeier erzählte wenig aus seinem zivilen Leben. Sein Beruf war ihm gleichermassen eine Verschlusssache wie die militärischen Geheimnisse, die er im feldgrünen Holzkoffer bei sich führte. Hie und da gab er Hebeisen aber legale Tips für Aktienkäufe, die sich in der Regel bezahlt machten. Gelegentlich erzählte er von seiner Frau. Dies tat er meistens dann, wenn Hebeisen vor einer Telefonkabine der PTT angehalten und Grendelmeier sie angerufen hatte. Angeblich mochte sie die Filme von Lina Wertmüller. Grendelmeier selbst war ein Fan von Pier Paolo Pasolini. Hebeisen konnte mit keinem der Namen etwas anfangen.

Nach dem erfolgreichen Abschluss seines Studiums nahm Heinz Hebeisen eine Stelle in Hombrechtikon an, nämlich im Kleinbetrieb, wo er bereits seine Lehrzeit absolviert hatte. Bald darauf sollte es zum ersten ausserdienstlichen Kontakt zwischen ihm und Grendelmeier kommen. Der diplomierte Ingenieur stiess im «Zürcher Oberländer» nämlich auf ein Inserat, das eine Kaderstelle bei Sulzer ausschrieb, die ihn sogleich brennend interessierte. Nachdem er sein Vorhaben mehrmals gründlich überschlafen hatte, wählte er die Nummer von Grendelmeiers Büro in Zürich, um seinen militärischen Vorgesetzten um ein Empfehlungsschreiben zu bitten.

Es war die Zeit unmittelbar vor den blutigen Globuskrawallen im Juni 1968. Die Dienstkollegen trafen sich im ersten Stock des Buffets im Zürcher Hauptbahnhof, um nach Feierabend einen kalten Weissen mit Siphon zu trinken. Grendelmeier hatte sich bereits am Telefon spontan dazu bereiterklärt, Hebeisen den Gefallen zu machen. Kurzangebunden und zackig. Jetzt sass er seinem Protegé im massgeschneiderten konservativen Leinenblazer gegenüber und überreichte ihm ein verschlossenes Kuvert im C6-Format. Der Akt wurde begleitet von einer wegwerfenden Geste der Zuversicht. Grendelmeier wollte um die Sache keine grossen Worte machen. Vielmehr genoss er es, eine Stunde lang Abstand zu gewinnen von seinen Palastpflichten, um an der mittelständischen Welt des Heinz Hebeisen teilzunehmen, in den er ehrlichen und festen Glauben zu setzen schien.

Heinz Hebeisen sollte die Stelle bekommen.

Es waren damit unerwartete Annehmlichkeiten verbunden: das grosse Haus zur Miete in der unmittelbaren Nachbarschaft sowie die damit verbundene Möglichkeit zur Familiengründung mit Esther. Heinz Hebeisen unterschrieb den Vertrag, ohne viel zu überlegen. Ein erfülltes Berufs- und Privatleben nahm damit zu Beginn der Siebzigerjahre seinen Anfang.

Susi, das erste Kind, kam 1970 zur Welt. Dieter folgte zwei Jahre später, und Sohn Christian wurde als Nachzügler 1976 geboren.

Die Grendelmeiers waren in der Idylle über Jahrzehnte immer wieder zu Gast, und zwar auch noch als der Vater sein Soll an Wiederholungskursen längst erfüllt hatte. Die Gattin von Harald hiess Yvonne. Sie war von vernachlässigter Schönheit, der bürgerliche Typ, spröde und sportlich aus der Jugend. Sie war laut und humorvoll auf eine oberflächliche Weise, ihr dichtes graues Haar trug sie mit goldener Blondierung, und im Sommer kleidete sie sich stets mit modern gemusterten, ärmellosen Blousen und dunkelblauen Jupes.

Harald Grendelmeier genoss die Einladungen zu den Gartenfesten im kleinen Kreis jeweils ganz besonders, denn er hatte eine Schwäche, nämlich die Sehnsucht nach den einfacheren Verhältnissen seiner Kindheit: Minigolf, Bratwurstgrillade, Sauerrahmkartoffeln und Weisswein vom Zürichsee. Tochter Susi, Pferdeschwanz und Kurzarmpullover, spielte nach dem Eindunkeln jeweils ein Lied auf der Handorgel, dies im bunten Schein der Becherkerzen. Bruder Dieter, im Jimmy Hendrix-T-Shirt, rauchte bei den Gelegenheiten stets eine Gitanes, weil sich der Vater für einmal keine Blösse geben konnte und es dem kinderlosen Grendelmeier die Chance gab, den antiautoritären Mann von Welt zu spielen und den jungen Erwachsenen zu seinem Laster zu beglückwünschen.

Heinz Hebeisen seinerseits absolvierte in der Grillschürze jeweils einen Auftritt von kindischer Dienstbarkeit.

Irgendwann wurde ihm klar, dass er mit Christian, seinem jüngsten, in der Runde punkten konnte, und er fing an, ihn mit all seinen Talenten vorzuschicken, um den noblen Gästen im Namen der Familie zu imponieren: mit seiner Musik, seinen Bildern und den persönlichen Gedanken dahinter, von denen das Kind wusste, dass sie dem Vater in Wahrheit nichts wert waren, es sei denn, er konnte in irgendeiner Weise an der Wirkung partizipieren, die sie bei andern auslösten. Tatsächlich sollte Grendelmeier auf die aussergewöhnliche Natur von Christian Hebeisen aufmerksam werden, spätestens als er ins Pubertätsalter kam. Christian Hebeisen mochte Grendelmeier nicht. Dessen prüfendes Auge. Das Kind war feinfühliger als der Vater, und Christian spürte, dass die fehlende Sensibilität Heinz Hebeisens Grendelmeier verletzte, ohne dass es der Gast zeigte. Es war Christian unangenehm. Es machte Grendelmeier in seinen Augen zu einem Menschen, bei dem man nicht wissen konnte, woran man in Wirklichkeit war. Als es zu Gegeneinladungen ins Gut der Grendelmeiers kam, das sich am Hallwylersee befand und in dem es Bedienstete gab, sollte der zwölfjährige Christian den Anlässen stets fernbleiben. Dann täuschte er Migräne vor oder blieb unauffindbar, weil er sich vorsorglich zu den Tankkesseln am Bahngleis zurückgezogen hatte.

Er wusste nicht, worin das Unbehagen gründete, das ihm die Gegenwart des mächtigen Bekannten seines Vaters auslöste. Er konnte es sich nicht erklären. Jedoch handelte es sich um eine Angst, die noch viele Begegnungen in seinem Leben begleiten sollte. Christian Hebeisen wusste noch nicht, dass es sich um genozidale Spiessigkeit handelte: um seinen eigenen Tod auf den Stockzähnen des Klemmsadisten. Er wusste noch nicht, dass es in der Schweiz auch nach dem Krieg so etwas wie den Gauleiter gab. Hingegen wuchs in ihm das tiefere und schreckliche Bewusstsein, dass ihm seine Eltern, aber insbesondere sein Vater, im Leben nie eine Hilfe sein konnten.

Heinz Hebeisen nahm die schönen Jahre, die jeder finanziellen Sorge bar bleiben sollten, in seiner Unschuld als ein Geschenk. Nie stellte er sich die Frage, ob der erfahrene Segen, der in der Referenz seines militärischen Vorgesetzten gründete, jemals ein Opfer fordern könnte.

Der Sklave

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