Читать книгу Der Sklave - Jürg Brändli - Страница 16
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ОглавлениеAls Debora Kellenberger in sein Leben trat, war Christian Hebeisen damit beschäftigt, über «Philadelphia» nachzudenken, über das Gerichtsdrama von Adrian Lyne, in dem Tom Hanks einen entlassenen HIV-Positiven spielt. Hebeisen war am Vorabend seit langem wieder einmal mit Sebastian ins Reprisenkino gegangen, denn es handelte sich beim Film um einen Tip, der an der juristischen Fakultät seit Wochen die Runde machte. Tatsächlich hatte die Geschichte Hebeisen berührt. Vom Aspekt der Ungerechtigkeit, wie sie im täglichen Erwerbsleben den Vertretern von Minderheitensexualität widerfuhr, fühlte er sich ganz persönlich angesprochen. Es hatte sein Interesse am Arbeitsrecht geweckt.
Es war Mittag, und er sass alleine an einem Gartentisch im Rechbergpark unter den schattigen Bäumen, in der steilen Grünzone östlich der Universität. Er las im Schweizerischen Strafgesetzbuch und markierte relevante Textstellen mit einem bunten Breitstift.
Wenn er aufblickte, dann fiel sein Blick auf die Treppen, die Kieswege und die Kegeltannen der gepflegten Anlage. Es war heiss, die Grillen zirpten, und aus den geöffneten Fenstern des nahen Konservatoriums drangen Abschnitte von unbeholfenem Pianospiel zu ihm herüber. Als er die Augen schloss, verwandelten sich die Klänge vorübergehend in ein märchenhaftes Morsesignal. Beinahe wäre er in der Idylle eingeschlafen.
Es war Debora Kellenberger, die ihn weckte.
Sie stiess an seine Schulter und fragte, ob es ihr erlaubt sei, sich zu ihm zu setzen.
Nur zu, meinte Hebeisen, während er blinzelte, und machte eine einladende Geste. Ihr Mittagessen bestand aus einem Thunfischsandwich und einem Orangensaft.
Sie stellte sich ihm mit Namen vor. Debora wusste, dass Hebeisen Jura studierte, was ihn überraschte. Obwohl sie ihr eigenes Studium längst abgeschlossen hatte und mitten im Berufsleben stand, hatte sie vor zehn Tagen eine öffentliche Vorlesung besucht. Sie erzählte ihm, dass er ihr dabei aufgefallen sei. Einfach so.
Es schmeichelte dem scheuen Hebeisen. Debora Kellenberger war nämlich eine überaus attraktive Person.
Sie hatte ein blasses, aristokratisches Gesicht und langes, glänzendes Haar. Sie war versiert geschminkt und hatte einen femininen Körper. Sie trug schwarze Jeans, eine weisse Blouse, und über der Schulter einen modisch geschnittenen hellgrauen Regenmantel. In ihrem Haar steckte eine Sonnenbrille aus bernsteinbraunem Horn, und um den Hals trug sie eine unauffällige Perlenkette.
Sie hatte etwas von einem modernen Harlekin.
Sie war getrieben von einem tiefen Bedürfnis nach Gemeinsamkeit, das Hebeisen sofort gefangen nahm.
Nachdem sie ihm beiläufig das Du angetragen hatte, erzählte sie, dass sie als Anwältin für eine Grossbank tätig war. Debora besass ein Büro am Hauptsitz an der Bahnhofstrasse, und sie verfügte über jede Menge Kontakte im In- und Ausland.
Hebeisen fand, dass sie auf ihn ein bisschen wie eine Droge wirkte. Sie hatte Geschmack. Sie verströmte etwas Weltenbürgerliches. Gleichzeitig lag in der Art ihrer Konversation etwas Manisches. Sie hatte Zugang zu einer Welt, die ihm selbst verschlossen war, und damit stand sie für ein Erwachsensein, von dem er insgeheim spürte, dass es ihm Angst machte. Es hatte irgendetwas mit Gewalt zu tun.
«Hast du bereits Pläne für die Zeit nach dem Studium?», wollte sie von ihm wissen.
«Äusserlich befindest du nicht auf dem Weg zum Fünf-Sterne-Anwalt.»
Hebeisen liess sich nicht verletzen. «In meiner Freizeit bin ich Maler», sagte er gelassen.
Debora hob anerkennend eine Augenbraue. «Das ist spannend», meinte sie ernst.
«Wer weiss», sagte Hebeisen, indem er seine Lektüre ablegte.
«Wer weiss was?», fragte sie zwischen zwei Bissen.
«Vielleicht hänge ich das Recht nach Studiumsende an den Nagel und kümmere mich nur noch um die Kunst.»
«Und wenn nicht?», fragte Debora. Sie nahm einen Schluck Saft, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
Hebeisen überlegte. «Dann werde ich Strafverteidiger.»
«It doesn’t pay», sagte Debora.
»Dann werde ich Strafverteidiger, um mich ausschliesslich für Menschen zu engagieren, mit deren Problemen ich mich persönlich identifizieren kann und für deren Sache zu kämpfen sich gesellschaftlich auch wirklich lohnt.»