Читать книгу Der Sklave - Jürg Brändli - Страница 7
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ОглавлениеUngerechtigkeit war etwas, das ihn immer beschäftigt hatte, schon als kleines Kind. Wahrscheinlich bestand sogar eine seiner ersten Lebenserfahrungen im Empfinden von Ungerechtigkeit, diesem lähmenden brennenden Schmerz, der sich früh mit seiner Sexualität verband und ihn fürs Leben prägen sollte. Er hatte eine Schwäche für die Schwachen. Er mochte es nicht, wenn Tiere gequält wurden. Er empfand eine Faszination für das unerträgliche Schicksal von Jesus, dem Gottessohn, der für den Rest der Menschheit am Kreuz gestorben war. Früh hatte es seine Beziehung zu Gott gestört, an den er deswegen irgendwann zu glauben aufgehört hatte. Er hatte Tom Sawyer bewundert, weil der in Mark Twains Erzählungen viel Schmerz in Kauf nahm, um die Mädchen vor den strafenden Lehrern zu beschützen, und geachtet hatte er immer auch dessen Kollegen Huckleberry Finn, weil der einen Schwarzen vor der Sklaverei bewahrte, indem er mit ihm auf dem Floss den Mississippi hinuntertrieb. «Der längste Tag» war ein Film, der ihn in der Seele demütigte. Er mochte es unerklärlicherweise, wenn in Römer- und Piratengeschichten Menschen ausgepeitscht wurden, aber er war nicht schwul. In der Bibelstunde, wohin ihn seine Eltern konsequent schickten, fand er Gefallen an der Geschichte mit Samson, dem sein Haar gestohlen wurde, und an der grausamen Salome, die den Kopf von Johannes, dem Täufer, forderte. Mückenstiche, die im Sommer seine Unterarme übermaserten, wurde er im Heimlichen nicht aufzureissen müde, bis sie im Herbst kleine dunkle Male bildeten. Wenn ihn die Mädchen an der Schule erniedrigten, zumal jene, die ihm gefielen, dann fühlte er sich jeweils ausser Stande sich zu wehren, was stets seine Unschuld erschütterte und ihn stark erregte. Die anderen Knaben misstrauten ihm, weil er schwächer war als sie und sich, um zu überleben, unmännlicher Spiesse bediente. Er glaubte an die weibliche Macht, und im Zweifelsfall war er mit seiner Mutter. Er wuchs auf im Schatten eines persönlichen Unheils, im Wissen um eine tödliche Achillesverse, von der die erwachsene Welt eine grössere Ahnung hatte als er selbst, weshalb Uneingeweihtsein seine Kinderseele marterte. Es trieb ihn in die Abhängigkeit von Älteren, die er hasste. Er litt unter Todessehnsucht. Es quälten ihn schwarze Gedanken. Christian Hebeisen war nie wirklich froh darüber gewesen, zur Welt gekommen zu sein.