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Kaum waren die Hebeisens an die Haltbergstrasse gezogen, waren sie in eine Freikirche eingetreten. Mit den Gemeindemitgliedern pflegten sie auch privaten Umgang. Im Ort gab es eine Chrischona- und eine Pfingstgemeinde sowie methodistische und neuapostolische Kappellen. Christian Hebeisen mochte weder die Art von Kirche noch die zugehörigen Menschen. Früh war ihm sein Milieu zu eng, zu kleinkariert und zu bigott gewesen. Schon als Kind geriert er deswegen in den Ruf des Asozialen.

In der Volksschule, die er auf dem Schlossberg besuchte, zog er sich während der Pausen jeweils alleine auf die Bank am Aussichtspunkt zurück und genoss, derweil er schweigend sein Pausenbrot verzehrte, den Blick auf den Mürtschenstock, den Glärnisch, auf das Wäggital und den Etzel.

Irgendwann entdeckte er in der Freizeit das ausrangierte Stück Gleis zwischen Bubikon und Wolfhausen, das einmal Teil jener Dampfbahn gewesen war, welche die Seegemeinde Uerikon mit Bauma verbunden hatte, das nördlich davon im Fischental lag. Hebeisen liebte die schattige und verwachsene Nagelfluhschlucht, durch welche die Schienen führten, sowie die fünf grossen olivgrünen Tankkessel, die sie in der Mitte bedienten. Sie standen hälftig im Wald, waren verwittert, und es wurde in ihnen Heizöl gelagert.

An diesem romantischen Ort fand Hebeisen seine Ruhe.

Er liebte Einsamkeit. Gleichzeitig handelte es sich dabei um eine zweischneidige Sache. Es verhielt sich damit in seinem Leben ein bisschen wie mit dem Ei, mit dem Huhn und der Frage danach, was von beidem wohl zuerst gewesen sei. Hebeisen war sich nämlich nie so richtig im Klaren darüber, ob er sich zurückzog, weil er tatsächlich von einzelgängerischem Wesen war, oder ob er es bloss aus Stolz tat, um der subtilen Zurückweisung zuvorzukommen, wie er sie täglich in seiner Familie erlebte und deshalb auch vom Rest der Welt erwartete.

Hebeisen hielt sich deswegen lange Zeit für einen ungewollten Sohn. Bis ihm jemand erklärte, dass es sich gerade bei den unvorhergesehenen um so genannte Liebeskinder handeln würde, weil sie ohne Kalkül gezeugt würden. Sie seien unter einem ganz besonderen Stern geboren und würden deshalb vom Leben später bevorzugt behandelt. Es leuchtete Hebeisen ein, weshalb er die Möglichkeit für sich irgendwann ausschloss. Ein solches Liebeskind zu sein, das stand zu sehr im Widerspruch zu seiner Befindlichkeit.

Weiterhin erfuhr er chauvinistische Verletzung aus dem Kreis seiner Nächsten, ohne die dicke Haut zu spüren, die ihm deswegen um die Seele wuchs.

Hebeisen sollte früh eine Beziehung zum Katholischen entwickeln. Er begann damit, die römisch-katholische Kirche im Ort aufzusuchen, den modernen, quadratischen Raum mit den vielen Kabinen fürs Beichtgespräch. Aber nur alleine und wenn kein Gottesdienst war. Papst Johannes Paul II. war eine Figur, die ihn früh faszinierte. Es handelte sich um eine natürliche Verbundenheit, und im Gegensatz zur restlichen Familie empfand er dabei keinerlei Berührungsängste. Das Katholische war ganz einfach das, was Hebeisen in der Isolation seiner Kindheit als Erstes erreicht hatte, sinnstiftend und absolut. Intrigen in Schweizer Bistümern interessierten ihn nicht. Es betraf nicht das, woran er im Stillen partizipierte. Vor allem aber vermochten solche Konflikte nichts an seiner Einstellung zu verändern.

Im Dachstock seines Elternhauses belegte Hebeisen eine Kammer. Nur er besass dazu einen Schlüssel. Er nannte das Estrichabteil sein Atelier. An die Wand hatte er ein selbstgemachtes Kruzifix gehängt. Im Raum machte er experimentelle Musik auf einer elektrischen Gitarre, die er occasion erworben hatte. Arnold Böcklin, der Maler, und Stuart Sutcliffe, der Musiker, waren Vorbilder, die ihn inspirierten. Er malte grosse Bilder in Ölfarben, nachts und im Licht von Opferkerzen. Meistens handelte es sich um Mordfantasien: um Hinrichtungen, um Duelle und um die Porträts von sterbenden Nazis. Die Werke, die meist in Grau und Rot gehalten waren sowie auf schwarzem Papier, hatten eine hohe Qualität, und Hebeisen wusste, dass er Talent besass. Es war eine innere Unbestechlichkeit, die seinen Pinsel führte. Trotzdem blieb es bei der Selbstbefriedigung im Versteckten. Es war Scham, die ihn davon abhielt, diesen Teil seiner Persönlichkeit öffentlich zu machen. Zu arg kollidierte er mit den seelischen Erfordernissen seiner Erziehung. Sein Kreatives war dem Unsensiblen nicht gewachsen, wie es das Protestantische für ihn überall bereithielt. Kam es hingegen vor, dass er mit seinen klandestinen Leidenschaften tatsächlich auf fremdes Interesse stiess, bei Verwandten, bei Lehrern oder bei Freunden seiner Eltern, dann fand sich Hebeisen stets in der Rolle desjenigen wieder, der sein Werk zu schützen hatte wie einen hochempfindlichen Film, dem Zerstörung durch Überbelichtung drohte, so sehr fürchtete er sich damals vor falscher Aufmerksamkeit, vor der Entweihung seines Unabhängigsten durch den Inzest.

Im engen Refugium gab es auch eine Musikanlage, einen Plattenspieler mit Radio und zwei zugehörigen Boxen. Abends hörte Hebeisen hier «Sounds», die Sendung mit François Mürner auf DRS3. Bei der ersten Schallplatte, die er in einem alternativen Musikgeschäft in Zürich kaufte, handelte es sich um die Maxisingle «Eloise», nämlich in der Version von The Damned, und «Paris, Texas», der Film von Wim Wenders, weckte Hebeisens tiefere Leidenschaft fürs Kino, nachdem das aufsehenerregende Werk seinerzeit in Cannes die Goldene Palme gewonnen hatte.

Sein Atelier war Hebeisens Gummizelle, die der Unliebsame eingerichtet hatte, um den Rest der Familie vor seiner Pubertät zu bewahren.

Von Zeit zu Zeit hielt er auf seinen Leinwänden die Aussicht fest, die ihm das kleine Mansardenfenster bot: den Hain und die Dächer des Quartiers, nämlich im Licht der verschiedenen Jahreszeiten. Dazu benutzte er Rahmglacéfarben, die er auf seiner Sperrholzpalette anrührte wie Tonglasur. Auf den Sims neben dem Aschenbecher streute er hie und da Körner, um damit die Amseln und die Spatzen zu füttern. Das Mansardenfenster lag zufälligerweise nach Norden. Hebeisen war stolz darauf, denn er hatte gehört, dass viele berühmte Künstler bei nördlichem Lichteinfall gemalt hatten, weil es dann im Atelier keine wandernden Schatten gab, die das Resultat auf der Leinwand verfälschen konnten.

Die Zeitungen berichteten über Tschernobyl, über den Borkenkäfer und übers Waldsterben.

Das familiäre Mobbing hörte auf zum Preis, dass Hebeisen sich im Alltag nun selbst verletzte.

Es war die Zeit, in der er anfing, sich um sein Äusseres zu kümmern.

Der Sklave

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