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2.2.2 Dimension der Temporalität

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Neben der kulturspezifischen, metaphorischen Konzeptualisierung drücken Tempusangaben implizit oder explizit unterschiedliche Aspekte der zeitlichen Referenz aus: neben inhärenten, semantischen Merkmalen wie zum Beispiel Perfektivität, Iterativität oder Inchoativität, auch funktionale Aspekte wie eine Unterscheidung zwischen Erzähltempora (Präteritum im Deutschen, weil es Abgeschlossenheit in der Vergangenheit ausdrückt) und Berichtzeit (Perfekt im Deutschen, weil das Ende offen ist). Diese können in Tempora wie dem Perfekt/Präteritum, imparfait, present perfect oder auch lexikalisch wie in Präfixen im Deutschen ausgedrückt werden (auf-, ver-, abblühen als Aktionsart). Die Tempora drücken unterschiedliche Referenzen auf die Ereignis-, die Referenz- und die Sprechzeit aus. Eine Äußerung wie Che ist mit dem Motorrad durch Südamerika gefahren markiert nicht nur eine bestimmte, hier nicht näher benannte, aber bekannte Referenzzeit in der Vergangenheit (1952) und deren potenzielle Unbegrenztheit, sondern auch einen Sprechzeitpunkt außerhalb der Ereigniszeit (zum Beispiel gerade eben). Zudem markiert eine Äußerung, der Professor hat gesagt, Che ist … gefahren eine weitere Referenzzeit zum Ereignis. Diese Referenzaspekte gilt es im Sprachunterricht und Spracherwerb insofern zu berücksichtigen, als auch bei ihrer Realisierung kulturspezifische Präferenzen wirken können oder müssen.

Im Fremdsprachenunterricht werden Fragen des Ausdrucks von Zeit in der Regel auf lexikalische und formale Aspekte reduziert. Selten geht es um Funktionen der Temporalität. Es wird also vor allem das unmittelbar erforderliche Inventar für den Ausdruck zeitlicher Verhältnisse genannt: gestern, heute, morgen, vor einer Woche, in einer Stunde, immer, der Tag, der Monat, das Jahr, 13 Uhr, 1984, eine Ewigkeit. Und es werden die – meist obligatorischen – grammatischen Markierungen des Tempus eingeführt, in der kommunikativen Didaktik das Perfekt vor dem Präteritum, weil es in der Umgangssprache häufiger ist, aber ansonsten am besten rein topologisch, also die kurzen Tempusformen vor den zusammengesetzten. Ob das Präsens überhaupt ein Tempus ist, ob die Partizipien nicht eher Adjektive sind und wie Tempus und Aspekt zusammenhängen, interessiert dabei nicht, ist vielleicht für Lerner auch nicht unbedingt wichtig. Die Konsequenzen dieser linguistischen Diskussion könnten jedoch vermittlungsrelevant sein, aber das fällt meist unter den Tisch, weil diese zu einer Komplexität führen könnten, deren Bewältigung Lernern trotz des Lebensbezuges nicht zugetraut wird. Dabei wären aber doch folgende Fragen durchaus für die Vermittlung von Sprachen hoch relevant: Wann lässt sich Temporalität rein lexikalisch markieren? Wieso wird sie oft implizit ausgedrückt und unter welchen Bedingungen? Wieso kann man im Deutschen etwa mit dem Präsens fast alle Tempora ausdrücken? Worin besteht der Unterschied zwischen Präteritum und Perfekt? Welche textkonstituierenden Funktionen haben Tempora eigentlich? Wieso sagt man im Westdeutschen bin angefangen und nicht habe, wieso kann ein Rennfahrer gefahren haben und gefahren sein? Dazu gibt es recht viel und umfangreiche, oft auch kontroverse Literatur. Vater (2007) gibt unter Rückgriff auf einschlägige Forschungsliteratur eine konzise Darstellung der wichtigsten Orientierungslinien, mit denen die Komplexität des temporalen Systems von Sprachen, vor allem des Deutschen, übersichtlich erklärt werden kann. Auf seine Darstellung nimmt der folgende Abschnitt Bezug.

Ereignis-, Referenz- und Sprechzeiten

Unter dem Begriff Temporalität lassen sich alle Funktionen und Mittel fassen, die zeitliche Dimensionen in der Sprache ausdrücken, also Aspekte der innersprachlichen Temporalsemantik und der Referenz auf die außersprachliche Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit besteht in Zeitpunkten, Zeiträumen und Zeitspannen, Vorgängen und Vorgangsweisen (zum Beispiel in Beginn, Dauer, Ende, Wiederholbarkeit, Gleichzeitigkeit, Vor- oder Nachzeitigkeit) und anderem, die wir als rekurrente Muster erkennen (vergleiche Oakley 2007). Temporale Beziehungen können lexikalisch explizit, etwa durch Adverbiale ausgedrückt werden, durch grammatische Mittel wie Tempus und Aspekt erscheinen oder implizit gegeben sein, etwa durch lokale Angaben oder situative Voraussetzungen wie etwa in der Warnung »Achtung«, die weder eine adverbiale noch eine grammatische Zeitmarkierung enthält.

Die durch das Tempus ausgedrückte Temporalität lässt sich nach dem einflussreichen Schema von Reichenbach (1947) nach drei Kriterien bestimmen:

1 SprechzeitSprechzeit (S, point of speech);

2 EreigniszeitEreigniszeit (E, point of event);

3 ReferenzzeitReferenzzeit (R, point of reference).

Die SprechzeitSprechzeit (S), bei Klein (1994) time of utterance (TU), bezeichnet die Referenz auf den Zeitpunkt oder Zeitraum, in dem die Äußerung produziert wird. Von dort aus kann ein Ereignis (E) zuvor, gleichzeitig oder später stattfinden. Es war schön im Urlaub bedeutet also, dass E vor S erfolgt ist. Wann genau, kann ein Sprecher zudem lexikalisch markieren (etwa durch letztes Jahr). Der Urlaub war so teuer, dass ich mir lange Zeit keinen mehr leisten werde situiert die traurigen Aussichten in der Zukunft. S erfolgt vor E. Bei Isch bin glücklisch fallen beide zusammen, ob im Dialekt, in der Talkshow oder irgendwo anders. Mit dem Plusquamperfekt und ähnlichen Tempora in anderen Sprachen lässt sich eine Vor-Vorzeitigkeit zu einem Ereignis vor der Sprechzeit ausdrücken. Bis vorletztes Jahr hatte sie noch nie Urlaub gemacht. Referenzzeit (R) = vorletztes Jahr, E = davor, S = jetzt. Eine wichtige Differenzierung ergibt sich aus Kleins Konzepten der Situationszeit (TSit), in der das Ereignis stattfindet, auf das sich ein Sprecher in der Topik-Zeit (TT) bezieht. Der ermittelnde argentinische Staatsanwalt wurde in der Badewanne gefunden. Er war tot. bezieht sich auf TT (das Finden) und TSit (das Totsein), das zur Sprechzeit noch andauert. Das Tempus markiert also nach Klein (1994) die Referenz zwischen TU und TT. Die Relation zwischen TT und TSit wird demzufolge, wo Sprachen das erlauben oder für nötig halten, durch Aspektmarkierungen ausgedrückt. Das Präsens im Deutschen markiert sowohl die Inklusion von TU (S) und TT (wie oben E, Gegenwart) als auch die Nachzeitigkeit von TT nach TU (Zukunft).

Kontextuelle Relation und intrinsische Relation

Ehrich und Vater (1989) zeigen, dass es im Sinne der einflussreichen Kategorisierung von Reichenbach (1947) sinnvoll ist, in den Relationen von E, S und R zwischen intrinsischer und kontextueller Referenz zu unterscheiden. Die intrinsische betrifft das Verhältnis von E und R, die kontextuelle das Verhältnis von R und S. In Bezug auf die intrinsische Referenz stimmen Präsens und Präteritum im Deutschen somit überein: E und R sind simultan. In Bezug auf die kontextuelle Referenz von R und S stimmen dagegen Präsens und Perfekt überein: R ist simultan mit der Sprechzeit. Das heißt, das Perfekt kann im Deutschen die Sprechzeit mitumfassen und ist, anders als das Präteritum, nicht von dieser ausgeschlossen. Genau aus diesem Grund wird das Präteritum in der Rechtssprache bevorzugt: es bezeichnet abgeschlossene und nicht potenziell in der Gegenwart (Sprechzeit) oder Zukunft noch veränderbare Ereignisse.

kontextuelle Relation
S, RR < S
intrinsische RelationE, RPräsensPräteritum
E < RPerfektPlusquamperfekt

Abbildung 2.6:

Intrinsische und kontextuelle Bedeutung deutscher Tempora (Vater 1997: 28)

Aus den beiden genannten Dimensionen ergibt sich zudem eine dritte Relation zwischen E und S: Perfekt und Präteritum unterscheiden sich in der intrinsischen und der kontextuellen Bedeutung, wie in der Tabelle oben dargestellt, markieren aber die gleiche deiktische Relation, nämlich E liegt vor S. Im Plusquamperfekt ergibt sich folgerichtig eine intrinsische Relation von E vor R und die kontextuelle Relation R vor S (Ehrich & Vater 1989: 119) beziehungsweise nach Klein (1994: 131) für das Englische »TU after TT and TT after TSit«.

PerfektPräteritum
E < RIntrinsische BedeutungE, R
S, RKontextuelle BedeutungR < S
E < SDeiktische InterpretationE < S

Abbildung 2.7:

Deiktische Deutung von Perfekt und Präteritum (Vater 1997: 28)

Funktionale Aspekte der Temporalität

Tempora können darüber hinaus auch kognitiv relevante, textuelle Funktionen übernehmen, indem sie Hinweise auf die Lokalisierung und Verarbeitung von Vorwissen beziehungsweise auf einen bestehenden Ausgleichsbedarf zwischen Sprecher und Hörer geben. Die Kontinuität der, im Deutschen und Englischen meist obligatorischen, Tempusmarkierung etwa produziert zwar Redundanz, markiert damit jedoch auch die weitere Gültigkeit des zuvor etablierten Temporalitätsrahmens. Fremdsprachenlerner umgehen diese Obligatorik gerne durch Rückgriff auf das Prinzip der anhaltenden Markierung, demgemäß eine sprachliche Markierung solange gilt, bis sie explizit aufgehoben ist. Keine Markierung ist also auch eine Markierung.

Mit dem Tempus lässt sich Weinrich zufolge zudem zwischen erzählter und berichteter Welt unterscheiden (Weinrich 2005). Das Signal Es war einmal … als Einleitungsformel markiert eine bestimmte Textsorte, nämlich das Märchen, während die gleichen Ereignisse im Perfekt ausgedrückt, eher einem Protokoll oder Bericht zugestanden werden müssten. Das wichtigste Erzähltempus ist daher im Deutschen das Präteritum. Allerdings nicht zwingend, denn auch im Präsens und Perfekt lassen sich unter bestimmten Umständen Ereignisse erzählen. Darüber hinaus gibt es noch regionale Präferenzen, die sich bekanntlich unter anderem im Präteritumschwund im deutschen Sprachgebiet ausdrücken.

Das bedeutet, dass lokal bedingt die oben genannten Referenzdimensionen nicht immer realisiert werden. So spielt in süddeutschen Varietäten die Unterscheidung der kontextuellen Relationen zwischen Präteritum und Perfekt offenbar keine so wichtige Rolle wie in nord- und westdeutschen Varietäten. Es ist ein interessantes Phänomen, dass mit dem Wegfall dieser Differenzierungen oder Differenzierungsmöglichkeiten eine Notwendigkeit für Ersatzformen geschaffen werden kann. Diese liegen etwa in den hessischen und unterfränkischen Varietäten des doppelten Perfekts und des doppelten Plusquamperfekts vor: Mir habbe Hunger g’kabt g’kabt (Wir haben Hunger gehabt gehabt) oder Beim Unnerwasserkriesch sinn mir 14 daach unner Wasser marschiert und ham als noch staubische fieß g’happt g’katte (Beim Unterwasserkrieg sind wir 14 Tage unter Wasser marschiert und haben immer noch staubige Füße gehabt gehabt).

Es ist erstaunlich, wie viel Information in wenigen und kleinen Morphemen stecken kann, wie diese sich sogar überlagern oder auch außer Kraft setzen kann. Beachtenswert ist auch, wie viel Information und Korrektiv der Kontext bereithalten kann, um die verbleibenden Unklarheiten zu disambiguieren. Nicht jeder Lerner wird das ganze mögliche Inventar auch nutzen müssen, aber Temporalitätskonzepte unterscheiden sich zwischen den Sprachen und sind damit potentiellermaßen anfällig für konzeptuelle Transfers und Fehler.

Sprachenlernen und Kognition

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