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6 »Im Goldrausch hat Claudia die Zeit vergessen«
Ein neues Leben am Indischen Ozean
ОглавлениеIn Broome kann man mondsüchtig werden. Das liegt an einem seltenen Schauspiel, das die Natur an einem der vielen Strände dieses Städtchens am nördlichen Ende der australischen Westküste inszeniert. Wenn Ebbe herrscht am Indischen Ozean und sich der Mond in seiner ganzen Fülle in den zurückgebliebenen Wasserlachen spiegelt, dann hat man für ein paar Minuten den Eindruck, als führe eine Leiter aus Licht zu der goldgelben Scheibe hinauf. In diesem magischen Moment geht ein Raunen durch die Reihen der Zuschauer. Dass man ihn lediglich dreimal im Monat und dies auch nur zwischen März und Oktober erleben kann, erhöht seinen Reiz.
Die Magie des schönen Scheins – nichts könnte die Antriebskraft Broomes besser symbolisieren als der abendliche Zauber am Meer. Schon ein kurzer Spaziergang durch die Fußgängerzone genügt, um zu begreifen, dass Perlen das Elixier dieses Ortes sind. Fast jedes zweite Geschäft bietet Originale oder Imitate an. Ein 1999 enthülltes Denkmal erinnert an »all jene, die bei der Suche nach Muscheln ihr Leben ließen und ihren Beitrag zu Broomes Blüte leisteten«. Zwischen Bars und Boutiquen angebrachte Schautafeln dokumentieren, was Menschen alles auf sich nahmen, um an die erbsengroßen, in aller Welt begehrten Kugeln zu kommen, und welche Dramen ihre oft tödlichen Anstrengungen begleiteten.
1890, kurz nach dem ersten Perlenrausch, wirft eine wirtschaftliche Depression den Ort in die Armut zurück. Elf Jahre später, nach einer Phase der Erholung, wetteifern – wie der Chronist mit buchhalterischer Akribie festhält – 699 Malaien, 307 Filipinos, 280 Japaner und 132 Europäer um die vor der Küste eingekapselten Schätze. 1914 ersticken 33 Taucher, die sich zu weit in die Tiefe gewagt haben, unter ihren Hauben. Broome hat sich kaum von den Folgen der Weltwirtschaftskrise erholt, als es 1935 von dem schlimmsten Taifun seiner Geschichte heimgesucht wird. 142 Menschen kommen ums Leben. Zwanzig Schiffe werden zerstört.
Viele der Opfer sind Japaner, die mittlerweile das Perlengewerbe dominieren und für die man einen eigenen Friedhof einrichtet. Den Grabsteinen ist zu entnehmen, dass so manchem der wagemutigen Taucher die Konfrontation mit einem Hai zum Verhängnis wurde.
Der Rezession, die der Zweite Weltkrieg mit sich bringt, folgt der Siegeszug der billigeren Plastikperlen. Broome, das auf die Zucht in künstlich angelegten Kolonien umstellt, schafft sich ein zweites ökonomisches Standbein: den Tourismus. Der 23 Kilometer lange Cable Beach gehört mit seinem fast schneeweißen Sand und seinen bizarren Felsformationen zu den schönsten Stränden der Welt. Am Abend, wenn die glutrote Sonne mit dem Grau des Ozeans verschmilzt, ziehen Kamelkarawanen mit verzückten Urlaubern am Saum der See entlang.
In einem Städtchen, in dem knapp 7000 Menschen leben und das so viel zu bieten hat, residieren, da sind wir uns sicher, auch Deutsche. Aber wie und wo findet man sie? Der Wirt in unserem Motel kennt keinen, die Frau hinterm Tresen der Tankstelle auch nicht. Dutzende von Familiennamen und Orten hat man uns in Darwin, wo wir vor gut einer Woche unsere Recherchen begannen, genannt. Aber Broome war nicht dabei. 2500 Kilometer sind wir bis hierher gefahren. Ohne einen deutschen Auswanderer zu interviewen, das schwören wir uns, werden wir diesen Ort nicht verlassen.
Auf dem Nachttisch in unserem Zimmer liegt, in leuchtendem Weiß, das Branchenadressbuch für diese Region. Noch nie haben wir uns mit so viel Verve auf einen dermaßen faden Text gestürzt. »Möchten Sie, dass Ihre Buchhaltung in Ordnung kommt? Dann rufen Sie Connie Grohmann an!« – Zu langweilig, finden wir. »Für Entertainment aller Art sorgt Oliver Vogelgsang.« – Zu exotisch, lautet unser Urteil. »Ihre Hochzeit arrangiert Elisabeth Lucke.« – Das könnte eine Option sein. »Kompletter Service, auch in abgelegenen Gegenden, Lothar Oppermann, Malermeister.« – Deutsche Handwerker sind begehrt in Australien. Das würde thematische Relevanz garantieren. Also: anrufen!
0428 452006 – eine Handynummer. In das Brummen des Motors, das schneidende Geräusch des Fahrtwindes und die Musikfetzen aus dem Autoradio mischt sich die freundliche, aber kaum vernehmbare Stimme des Malers Lothar Oppermann. Er sei, so viel kann man heraushören, gerade im Outback unterwegs. Wir sollten es in zwei Stunden nochmal versuchen. Dann sei er zu Hause zu erreichen.
91 92 1814 – der Festnetzanschluss. Er gehöre, sagt der Handwerker, der »zweiten Generation« an, die bereits in Australien geboren wurde. Aber sein in Perth lebender Vater, der sei in den fünfziger Jahren von Deutschland ausgewandert und habe bei mehreren australischen Großprojekten Pionierarbeit geleistet. Wir notieren uns seine Telefonnummer und haben einen weiteren, hochinteressanten Kandidaten – in der 2400 Kilometer entfernten Hauptstadt des Bundesstaates Western Australia, aber noch immer nicht in Broome. Der Telefonhörer fällt schon fast auf die Gabel, als vom anderen Ende doch noch der rettende Tipp kommt. »Ach, mir fällt gerade ein, dass meine Nachbarn Deutsche sind: Andreas und Claudia Billiau. Nette Leute sind das.«
Das sind sie. Claudia Billiau, Jahrgang 1961, berichtet am Telefon, obwohl in wenigen Stunden ihr Flug nach Perth geht, mit Engelsgeduld von der Perlenkollektion, die sie entworfen habe und über deren Vermarktung sie in Perth mit einem Agenten verhandeln werde. Eine Kombination aus echten Perlen, edlem böhmischen Glas und Goldverzierungen sei das – »wirklich wunderschön«.
Ihr Mann Andreas, Jahrgang 1956, empfängt uns, während seine Frau mit dem Musterkoffer in Richtung Süden unterwegs ist, auf der Terrasse eines Grundstücks, für das der Begriff »Paradies« durchaus angemessen scheint. Die schlanke Eleganz der Palmen korrespondiert mit der sakralen Würde burmesischer Buddhafiguren. Über der das ganze Areal entflammenden Blütenpracht flattern die schönsten Schmetterlinge. Selbst die Tauben, eigentlich ziemlich ordinäre Vögel, tragen in diesem Garten Eden Krönchen auf ihren Köpfen. Über dem Saum des Buschs, der gleich hinter dem Anwesen beginnt, leuchten die Dünen des Indischen Ozeans in der Abendsonne.
Seinen Redefluss, der ein ungewöhnliches Auswandererschicksal beschreibt, unterbricht unser Gastgeber immer wieder durch ein dunkles, aus der Tiefe der Brust hervorquellendes Lachen. Wie ein Tusch auf jede Etappe seines Erfolgs wirkt es – und wie eine spöttische Bestrafung derer, die ihn vor acht Jahren, als er sich mit seiner Frau für Australien entschied, warnten: Mensch bleib hier, Andreas; sei nicht so verrückt, alles aufzugeben, was du dir in Deutschland aufgebaut hast!
Spektakel im Abendlicht: Kamelkarawane am Strand von Broome
Andreas und Claudia Billiau – und das unterscheidet sie von der Mehrzahl unserer bisherigen Interviewpartner – setzen sich mit ihrem Schritt nicht aus der Armut ab, sondern sie wollen dem Stress entfliehen, den für sie der Wohlstand mit sich bringt. Erst das gutgehende Geschäft für Zeitschriften und Schreibwaren in ihrem Geburtsort Berlin, dann ein neuer Laden in bester Lage im Ostseebad Dahme, schließlich die prosperierende Zimmervermittlung an der Strandpromenade – das alles bringt eine Menge Geld ein, doch es fehlen die Zeit und die Muße, es auszugeben, das Leben zu genießen. »Achtzig Arbeitsstunden in der Woche«, erinnert sich Andreas Billiau, »waren für uns beide die Regel.«
Als das Paar aus einem Australienurlaub an die Ostsee zurückkehrt, wird es mit einer schockierenden Nachricht konfrontiert. Der beste Freund, mit dem man vor wenigen Monaten noch an der nächsten Geschäftsidee bastelte, ist tot. Herzinfarkt. Mit fünfzig. »Das«, so Andreas Billiau, »war der Wendepunkt in unserem Leben. Ich habe mir gesagt: Wenn du so weitermachst, passiert dir das auch. Und damit stand fest: Wir kehren in das Land, in dem wir gerade unsere Ferien verbracht haben, zurück – für immer.«
»War es schwer, nach Australien auszuwandern?«
»Ich muss sagen, der Beamte in der australischen Botschaft hat uns sehr geholfen. Ganz unbürokratisch lief das ab. Wir konnten nachweisen, dass wir bereits in Deutschland als Geschäftsleute erfolgreich waren und unser Geld nicht im Lotto gewonnen hatten. Das war sehr hilfreich. Und ein solides Startkapital hatten wir durch den Verkauf unseres Besitzes auch.«
»Und wie hätte das ohne Startkapital ausgesehen?«
»Also, wenn du zum Beispiel Elektriker, Klempner oder Zimmermann bist, ist das kein Problem. 250 000 Handwerker werden in Australien gerade gesucht, vor allem in Gegenden mit Bergwerken. Die boomen nämlich wie verrückt, weil die Chinesen alles an Rohstoffen aufkaufen, was die Minen hergeben. Eine Menge Geld kann man da verdienen. Man muss natürlich bereit sein, eine Zeit lang fern von jeder Zivilisation zu leben.«
»Was hat Sie an Broome gereizt?«
»Da lief in Deutschland im Fernsehen so eine Sendung mit Malcolm Douglas, der in Broome eine Krokodilfarm betreibt. Dieser Typ brachte auch die herrliche Natur und den lockeren Lebensstil so gut rüber, dass wir gesagt haben: Broome, das wär was für uns. Außerdem liegt die Stadt wirklich am Ende der Welt. Und wir wollten so weit weg vom Stress wie möglich. Vor allem wollten wir ›draußen‹ leben und nicht ›drinnen‹ wie in Deutschland.«
Die Billiaus wissen, welches Risiko es bedeutet, sich mit drei Kindern, die so gut wie kein Wort Englisch sprechen, in eine der Randzonen des Fünften Kontinents zu begeben. Doch Michelle (5), Marcel (6) und Pascal (7) bekommen sofort nach der Einschulung eine deutsche Pädagogin zur Seite gestellt, die ihnen jeden Tag von 8 bis 14 Uhr, also praktisch während des gesamten Unterrichts, bei der sprachlichen Eingliederung hilft. »Das hat uns sehr beeindruckt«, sagt der Vater. »Allen ethnischen Minderheiten steht dieser Service zu. Das fördert die Integration immens. Ich glaube, in Australien funktioniert das Prinzip Multikulti. ›Ausländer raus‹, habe ich hier jedenfalls noch nicht gehört.«
Etwa zwei Jahre lebt das Paar von der finanziellen Substanz, die es sich in Deutschland erarbeitet hat. Dann gerät es unvermittelt in den Sog eines Aufschwungs, den die Region vor allem ihrer attraktiven Lage und einer weltpolitischen Zäsur verdankt. In Broome spannt nämlich nicht nur die wachsende australische Mittelschicht aus, sondern zunehmend auch eine spezifische Klientel aus Europa: Russen, die der Kapitalismus, der in ihrem Heimatland mit der eruptiven Gewalt eines Vulkans ausbrach, zu Millionären machte. Für eine Werkstatt, die mit Perlen und Gold arbeitet, ist das eine ideale Zielgruppe. »Wir hatten hier zwei Russinnen«, berichtet Andreas Billiau, »die hatten sich für eines der teuersten Arrangements entschieden, bestanden aber darauf, dass es mit noch mehr Perlen bestückt wurde. Die konnten gar nicht genug bekommen davon. Wir haben jetzt sogar Agenten in Russland. Und die bestellen und bestellen ...«
Der Wert der Grundstücke, die das Paar nach der Ankunft in Broome erwarb, steigert sich innerhalb weniger Jahre um ein Vielfaches. Auf einem der Areale betreibt Andreas Billiau eine exklusive, in der Nähe des Strandes liegende »Bed and Breakfast«-Herberge. Musste er sich in Berlin und an der Ostsee noch um jede Kleinigkeit selbst kümmern, so kann er es sich in Broome leisten, einen Manager zu beschäftigen. Der Plan, in Australien die Arbeit mit Muße zu verbinden, ist aufgegangen. »Das liegt aber auch daran, dass die Leute hier nicht diesen No-Future-Blick haben wie in Deutschland. Sie machen es dir einfach, deinen Tag relaxed anzugehen.«
Toll. Fantastisch. Wahnsinnig. Unglaublich. Unserem Gastgeber galoppieren die Superlative davon, wenn er über das Abenteuer spricht, das er sich mit seiner Frau immer mal wieder an verlängerten Wochenenden gönnt. Die beiden kämpfen sich dann mit ihrem Geländewagen in die unwegsame Einsamkeit der einige hundert Kilometer von Broome entfernten Gebirgszüge vor, breiten dort ihre Schlafsäcke aus und suchen nach Gold. »Wenn du in dieser Gegend einen anderen Menschen triffst, dann ist das Zufall. Irgendwann mal war auch Claudia verschwunden. Ich habe nach ihr gesucht und gesucht ... nichts. Es wurde Nachmittag, Abend – von Claudia keine Spur. Dann tauchte sie plötzlich aus dem Dunkel auf, mit einem Klumpen von einem Kilo. Im Goldrausch hat sie völlig die Zeit vergessen. Später wollen wir in dieser Abgeschiedenheit mal ein paar Wochen oder Monate am Stück verbringen. Ja, das ist unser Traum.«
»Gibt es auch etwas, wovor Sie Angst haben?«
»Vor der Küste in der Nähe von Broome ist man auf gewaltige Gasvorkommen gestoßen. Also, wenn die erst ausgebeutet werden, dann ...«
»Dann?«
»... weiß ich nicht, ob der Tourismus das überlebt.«
Der Blick, mit dem Andreas Billiau uns fixiert, lässt darauf schließen, dass er sich von uns, den weit gereisten Journalisten, eine tröstliche Einschätzung erhofft. Es gibt, so viel wissen wir, ein kapitalistisches Naturgesetz: Der größere Profit schlägt den kleineren Profit. Und in der Zeitung haben wir gelesen, dass Malcolm Douglas, der von unserem Gastgeber so geschätzte Besitzer der Krokodilfarm, geweint hat, als er von dem Gasvorkommen erfuhr.
Aber das behalten wir für uns an diesem wunderbaren tropischen Abend, an dem eine Leiter aus Licht wieder von der Magie des schönen Scheins kündet.