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4 »Und plötzlich war ich Metzger«
Der König von Katherine
ОглавлениеAmeisen kennen keine Mittagspause. Auch wenn es »High Noon« ist in Katharine, herrscht Hochbetrieb auf ihren Straßen. Als seien sie zu ewigem Gerenne verdammt, streben sie, im Zickzack zumeist, irgendwelchen Zielen zu. Manche transportieren Material für den Ausbau ihrer Nester. Andere wieseln um ihre Königin, ein Prachtexemplar mit silbernen Flügeln. Ein kurzes Stampfen mit dem Fuß genügt, und schon sprudeln Hunderte neuer Leiber aus den Löchern der rostroten Erde. Keine Minute dauert es, bis sich alles wieder in 40 die hergebrachte Ordnung fügt.
Wendet man seinen an mitteleuropäische Hektik gewohnten und auf ständige Abwechslung gepolten Blick zurück auf die Nationalstraße Nummer eins, die das 315 Kilometer südlich von Darwin gelegene Städtchen durchschneidet, glaubt man für einen Moment, die Hitze habe das Leben erstarren lassen. Ein Zischen beim Öffnen einer Bierdose, ein Gurren aus dem Grün hinter dem Fluss, der auch Katherine heißt, sind zu dieser Stunde seine einzigen Signale.
Am Nachmittag haben wir einen Termin mit dem Reiseunternehmer, den uns die Skatspieler in Darwin als den »König von Katharine« avisierten. Bei unserem ersten Rundgang durch sein Reich, mit dem wir, keinerlei Systematik folgend, die Zeit überbrücken, bleibt uns auch das Elend der Aborigines, der Nachfahren der australischen Ureinwohner, nicht verborgen. Eine Großfamilie döst, von Schnapsflaschen eingekreist, im Schatten eines riesigen Eukalyptusbaumes. Eine Gruppe von Frauen, in deren Gesichtern sich die Härte des Alltags abbildet, wartet vor einer Sozialstation ungeduldig auf Einlass. Das therapeutische Angebot, das man in fetten Buchstaben auf deren Frontscheibe gepinselt hat, beschreibt zugleich einen gesellschaftlichen Teufelskreis: »Arbeitslosigkeit«, »Häusliche Gewalt«, »Kindesmissbrauch«.
Neben dem Eingang zum Freizeitzentrum für Jugendliche hängt ein Hinweis, der mit dem Begriff »Regeln« überschrieben ist und den Duktus der desperaten Klientel zu treffen versucht: »Hey, ihr Typen! Seid ihr wieder besoffen? Wenn ihr hierherkommt, habt ihr euch dem Boss unterzuordnen. Wenn ihr euch prügelt und dabei Sachen zu Bruch gehen, dann ruft der Boss die Polizei, und ihr landet im Knast. Für alles, was ihr demoliert, müsst ihr selbst blechen. Ist das klar?«
Die hautnahe Konfrontation mit der Realität ruft jene beklemmenden Fakten ins Bewusstsein, die man aus den Medien kennt: Die Lebenserwartung ist bei den Aborigines um zwanzig Jahre niedriger als bei der übrigen Bevölkerung, das Risiko, ermordet zu werden, achtmal höher. In vielen ihrer Siedlungen gelten Mädchen, die mit zehn Jahren noch Jungfrau sind, als die absolute Ausnahme.
Das australische Northern Territory, in dessen Herzen wir uns befinden, gehört zu den Zentren der etwa 350 000 in Australien lebenden Aborigines. Auch wenn man ein Buch über deutsche Auswanderer schreibt, also einen ganz anderen Schwerpunkt setzt, kann man diese Randgruppe, das wird uns in Katherine schnell klar, thematisch nicht ausgrenzen. Und so dreht sich auch in unserem Gespräch mit dem Inhaber der Firma »Travel North« zunächst alles um dieses größte soziale Problem der australischen Gesellschaft.
Werner Sarny, geboren am 7. Juli 1938 in Bad Godesberg am Rhein, hat einige Jahrzehnte mit Aborigines zusammengearbeitet und ihren Niedergang aus nächster Nähe verfolgt. Immer wieder breitet er, in einer Mischung aus persönlicher Betroffenheit und politischer Resignation, achselzuckend die Arme aus, als wir in seinem Büro um Erklärungen für den selbstzerstörerischen Umgang dieser Minorität mit sich selbst ringen.
Die Tragödie, so der Kern unserer Analyse, beginnt bereits ihren Lauf zu nehmen, als die ersten britischen Siedler vor gut zwei Jahrhunderten den Boden der Insel betreten, auf der seit etwa 40 000 Jahren die Ureinwohner als Jäger und Sammler leben. Zwei völlig konträre Welten prallen aufeinander: hier die spirituellen Nomaden, denen die lebensspendende Natur heilig ist, dort die extrem materialistisch eingestellten Eindringlinge, die Sesshaftigkeit anstreben, die Natur rücksichtslos ausbeuten und ihre Interessen mit Waffengewalt durchsetzen.
Seine auch durch andere Brutalitäten angehäufte Schuld versucht der Staat später zu kompensieren, indem er die Aborigines großzügig mit Geld ausstattet, ohne eine angemessene Gegenleistung von ihnen zu verlangen. Er stellt sie also ruhig, statt sie zu aktivieren. Die Folge ist eine Phlegmatisierung, an der später die mannigfachen Integrationsversuche scheitern. Nicht alle, aber viel zu viele und immer mehr Aborigines entziehen sich der auf den Konsens bedachten Gesellschaft. Ihr wichtigster Fluchthelfer ist der Alkohol.
Der Sog der Isolation hat, wie das Beispiel Katherine zeigt, längst die Kinder erfasst. »Nur dreißig Prozent von ihnen besuchen in dieser Region eine Schule, und das zumeist auch nur unregelmäßig«, weiß Werner Sarny. »Es macht mich traurig, wenn ich an ihre Zukunft denke.«
»Gab es auch bessere Zeiten?«
»Ja. Das war, als viele Aborigines als Viehtreiber auf den Farmen arbeiteten. Dieser Job, bei dem man sich Hunderte von Kilometern durch das Land bewegen musste, entsprach ihrem Naturell, und weil er existenziell wichtig war, genoss er auch hohes Ansehen. Bezahlt wurden die Viehtreiber teils mit Geld, teils mit Verpflegung und Unterkunft. Oft gehörten sie zur Familie. Aber dann gab der Staat den Gewerkschaften nach, die für die Aborigines mehr Rechte, vor allem aber weitaus höhere Löhne verlangten. Weil sich das viele Farmer vor allem in Krisenzeiten nicht leisten konnten, stellten sie auf technische Mittel um und entließen ihre Viehtreiber.«
»Aber für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen, ist die Aufgabe von Gewerkschaften ...«
»Natürlich. Gegen eine bessere Bezahlung ist ja auch nichts einzuwenden. Aber in diesem Fall hätte der Staat vor allem den finanzschwachen Farmern einen Ausgleich für die höheren Löhne anbieten müssen. Das wäre die Lösung gewesen und hätte uns vieles von dem erspart, was wir heute beklagen. Als die Aborigines noch eine vernünftige Arbeit hatten, waren das vitale Menschen, die sich auch mit kulturellen Beiträgen an den Festen in dieser Gegend beteiligten. Heute leben sie in Ghettos.«
Werner Sarny spricht voller Sympathie über die Aborigines, unter denen er, wie er betont, »viele Freunde« hatte. Dass dieser Minderheit durch einen staatlichen Akt ein Teil seines Grundbesitzes zugeschlagen wurde, stört ihn weniger – so lässt sich aus seinen behutsamen Formulierungen heraushören – als das Unvermögen der neuen Eigentümer, damit konstruktiv umzugehen. Aus den Telefonaten, die er während unseres Besuches führt, kann man schließen, dass er ihnen als jederzeit ansprechbarer Berater zur Verfügung steht.
Mit seiner kurzen Leinenhose, den weißen Kniestrümpfen und seinem weder durch List noch Argwohn entstellten Blick sieht der Sohn einer Deutschen und eines Österreichers eher aus wie ein in die Jahre gekommener Führer einer Pfadfinderschar als der Eigentümer und Generaldirektor eines boomenden Unternehmens, das fast 200 Mitarbeiter beschäftigt. Wollte ein Bildhauer der Gutwilligkeit eine Gestalt geben – dieser Großvater mit den wasserblauen Augen und den noch immer jungenhaft blonden Haaren könnte ihm Modell sitzen.
Zwar blitzt bei uns, den mit ewigem Misstrauen geschlagenen Journalisten, der Gedanke auf, der biedere Habitus könnte die Tarnung eines knallharten Geschäftssinnes sein. Doch dann wären die Wände in diesem bescheidenen Büro wohl mit Erfolgsstatistiken drapiert und nicht mit gerahmter Lebensphilosophie: »Respect yourself, respect your culture.« Das entspricht exakt dem Appell, den der noch nicht resignierte Teil der australischen Gesellschaft gegenwärtig an die Aborigines richtet – wohl wissend, dass ihnen genau dieser Respekt über Jahrhunderte versagt blieb, aber auch in der Überzeugung, dass die ständige Fixierung auf die Sünden der Vergangenheit die Perspektive endgültig verstellt.
Früher Schuhmacher, heute erfolgreich in der Touristikbranche: Werner Sarny
Werner Sarny stammt, wie er sagt, aus »sehr, sehr armen Verhältnissen«. Bevor er 1959 nach Australien auswandert, lernt er Schuhmacher, das Handwerk seines Vaters. Er übt diesen Beruf auch für einige Jahre in einer Fabrik in Melbourne aus und stößt dabei auf eine Mangelerscheinung der Landesmode: Es gibt in diesem damals sehr prüden Land keine Frauenschuhe mit hohen Absätzen. Ihre Produktion anzustoßen, ist Werner Sarnys erste innovatorische Tat auf australischem Boden.
1963 setzt er sich in seinen VW-Käfer und startet eine Reise rund um den Kontinent. Anschließend will er nach Europa zurückkehren. In Cairns, einer von Melbourne etwa 3500 Kilometer entfernten Küstenstadt im Norden des Bundesstaates Queensland, geht ihm das Geld aus. Wie er sich aus dieser Notlage befreit, schildert er später einem Chronisten: »Nun gab’s dort keine Schuhfabrik, also suchte ich mir den nächstbesten Job. Den fand ich in einer Fleischfabrik. Man fragte uns Bewerber, ob jemand mit dem Messer umgehen könne. Klar doch, dass ich die Hand hob, alle Schuhmacher benutzten Messer. Und plötzlich war ich Metzger.«
Es ist eine Tätigkeit, die Werner Sarny auch auf der Weiterreise über Wasser hält und die er schließlich über einen längeren Zeitraum in Katherine ausübt, damals ein Zentrum der australischen Fleischfabrikation. Als er seine Tour in Richtung Westen fortsetzen will, bleibt sein Auto rund hundert Kilometer hinter Katherine liegen. Es dauert zwei Monate, bis Ersatzteile eintreffen. Um sie bezahlen zu können, heuert Werner Sarny wieder als Metzger an. Er steigt schnell zum Vorarbeiter auf, lernt eine Australierin kennen, heiratet sie – und so wird zur neuen Heimat, was als Transitstation gedacht war. Einen Nebenverdienst erwirbt er sich, indem er ausgestopfte Krokodile an die ersten Touristen verkauft, die diese abgelegene Region ansteuern. Die gefährlichen Reptilien fängt er selbst.
Mit dem Kauf eines Motels legt das Paar 1966 den Grundstein für eines der renommiertesten Reiseunternehmen des Kontinents. Es folgen, unter anderem, eine Tankstelle, eine Backpacker-Unterkunft, ein Touristikbüro, ein Busunternehmen, eine Farm. Und: Werner Sarny erkennt und nutzt die wilde Schönheit einer Sandsteinschlucht, durch die, von Wasserfällen gespeist, der Katherine-Fluss gurgelt. Bootsausflüge durch die dramatische Felslandschaft des Katherine Gorge gehören heute zu den touristischen Höhepunkten Australiens und sind auch eines der Ziele, zu denen die Passagiere des neuen transkontinentalen Zuges »The Ghan« während ihres vierstündigen Aufenthalts in Katherine geführt werden.
Der Fluss, der sich so lange als Segen erwies, wird für den Ort und seinen Ehrenbürger Werner Sarny 1998 zum Fluch. Zwei Meter tritt er in der Regenzeit über die Ufer und setzt die 7000-Einwohner-Gemeinde komplett unter Wasser. Zwei Menschen kommen ums Leben, Dutzende werden verletzt. Bilder von der Flut gehen um die ganze Welt. Der materielle Schaden treibt viele Familien in den Ruin.
Auch Werner Sarny erleidet durch das Hochwasser einen Verlust in Millionenhöhe. In einer Gegend, in der man Geschäfte noch per Handschlag besiegelt, vergisst man schnell, so der Unternehmer, »in Versicherungsverträgen das Kleingedruckte zu lesen«. Dass seine Firma dieses Desaster verkraftet, lässt ahnen, welch ein Vermögen sie in drei Jahrzehnten erwirtschaftet hat und warum man ihren Eigentümer den »König von Katherine« nennt.
Ein Taifun, der, wie in Darwin, eine Stadt in eine einzige Ruine verwandelt, eine Flut, die, siehe Katherine, ein Gebiet von der Größe der Bundesrepublik von der Außenwelt abschneidet – überall im tropischen Norden ist die Konfrontation mit den Urgewalten der Natur ein Bestandteil der Existenz. Fotos von Bürgern, die sich in Schlauchbooten durch die Landschaft bewegen, oder von Viehherden, von denen nur noch die Köpfe aus dem Wasser ragen, gehören in den Kneipen, Krämerläden oder Tankstellen zum Standarddekor. Im Zentrum von Katharine informiert seit 1998 ein Schaukasten darüber, wie man sich bei einer Flut angemessen verhält: »Halten Sie jederzeit Schlafsäcke, Zelte, warme Kleidung und batteriebetriebene Taschenlampen bereit. Überlegen Sie als Erstes, ob Sie jemanden in höher gelegenen Gegenden kennen. Und denken Sie daran, dass auch Ihr Haustier nach einer solchen Katastrophe unter Verwirrung und Angstzuständen leidet.«
Trotz allem: Werner Sarny zieht die gefährdete Weite Australiens der sicheren Enge Europas vor. Auch für diesen Auswanderer hat sich der Traum erfüllt, selbstständig zu werden, statt abhängig zu bleiben. Und so fürchtet er den Stillstand mehr als die nächste Flut. Mit 54 Jahren in Frührente zu gehen, wie seine in Österreich lebende Schwester, das wäre für ihn, wie er sagt, »der reinste Horror« gewesen. »In diesem Alter habe ich noch neunzig Stunden in der Woche für mein Unternehmen gearbeitet.«
Seine markantesten Erinnerungen an einen Besuch in Wien kreisen um ein sehr alltägliches Problem: die ewige Suche nach einem Parkplatz. »In der Innenstadt hieß es dauernd: ›Hier können Sie nicht stehenbleiben!‹. Als ich mein Auto mal am Flughafen abstellen wollte, bin ich mehr als zwei Stunden vor meinem Flug losgefahren. Aber das Parkhaus, für das man fünfzig Euro pro Tag bezahlen musste, lag zwei Kilometer von der Abflughalle entfernt. Meinen Flug habe ich verpasst.«
Werner Sarnys neueste Errungenschaft sind zehn Schulbusse, die jeden Tag Kinder in einem Umkreis von hundert Kilometern transportieren. Als er sie uns mit dem Stolz des Patriarchen präsentiert, verlieren sich die Fahrzeuge auf einem mehrere Fußballfelder großen Areal in der Nähe seines Bungalows. Probleme mit Parkplätzen gibt es nicht in Katharine – es sei denn, das Städtchen steht mal wieder unter Wasser.