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3 »Nie wieder Bellenberg!«
Ein schwäbisch-australischer Überlebenskampf
ОглавлениеEin Gurren ist es nicht, was aus dem Dunkel der Wildnis tönt. Zwitschern, Trällern oder Krähen kann man es auch nicht nennen. Irgendwo dazwischen bewegt sich der Ton, der, so viel steht fest, unheimlich klingt.
»Geistervögel«, klärt uns Regina Wiebelskircher auf. »Die heißen so«, fügt ihr Mann Udo hinzu, »weil man sie zwar hören kann, aber nie zu sehen bekommt. Sie sind nachtaktiv. Das sind die Kängurus, die auf unserem Grundstück grasen, zwar auch, aber die zeigen sich wenigstens morgens und abends in der Dämmerung.«
In Howard Springs, einem der ausufernden, sich in der zaunlosen Weite verlierenden Vororte von Darwin, liegt das 10 000 Quadratmeter große Anwesen. Das Einfamilienhaus in seiner Mitte dient als Wohnung und als Büro und taugt auch zum Refugium. Das gilt besonders für die riesige Veranda, von der man direkt in den vor tropischer Vitalität strotzenden Busch blickt.
Es dauert eine Weile, bis man sich in diesem Ambiente an Begriffe wie »atomare Bedrohung«, »Baader-Meinhof-Hysterie« oder »Nato-Doppelbeschluss« gewöhnt. Wie verbale Irrläufer schwirren sie durch den Raum und verlangen doch gespannte Aufmerksamkeit. Schließlich markieren sie den Anfang einer Auswandererkarriere, die nach der Dramaturgie der Achterbahn verlief.
»Wenn man Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre die Fernsehnachrichten eingeschaltet hat«, blickt Udo Wiebelskircher zurück, »dann gab es doch fast nur Gewalt und Bedrohung. Gloom and doom, wie es auf Englisch heißt. Na ja, und irgendwann haben wir es mit der Angst bekommen und beschlossen, Deutschland zu verlassen. Wirtschaftliche Gründe waren es jedenfalls nicht. Wir waren beide um die dreißig. Ich hatte einen guten Job in der Computerbranche. Und ein Haus besaßen wir auch schon. Eigentlich hätten wir glücklich sein können in Bellenberg – wenn da nicht diese pessimistische Grundstimmung gewesen wäre.«
Der Schwabe Udo Wiebelskircher spricht bedächtig, legt zwischen den Sätzen Denkpausen ein, die der Ruf der Geistervögel füllt. Für Spontaneität und Emotion sorgt seine aus der norddeutschen Elbniederung stammende Frau. »Die Atmosphäre war es nicht allein«, relativiert sie, »ich wollte auch unbedingt was sehen von der Welt. Tag für Tag Bellenberg – bis zum Lebensende? Das kann’s doch nicht sein. Mit achtzehn bin ich schon mal nach Südafrika abgehauen. Toll war das. Ich war die treibende Kraft hinter unserem Entschluss. Der Udo ist mehr ein Familienmensch, dem ist die Entscheidung schwerer gefallen als mir. Sie müssen wissen: Ich hab’ Zigeunerblut in den Adern.«
Udo Wiebelskircher nimmt einen kräftigen Schluck aus seinem Bierglas, wendet den Blick in die schwarze Nacht, lässt die Worte seiner Frau erst einmal sacken. Er selbst, das spürt man, würde sich nicht dazu durchringen können, wildfremde Besucher mit persönlichen Bekenntnissen zu konfrontieren. Eine paralysierende Pause entsteht. Regina Wiebelskircher befreit uns mit einem Temperamentsausbruch von der zwanghaften Vorstellung, die Stille mit einer womöglich unpassenden Frage überbrücken zu müssen. »Und dann«, schimpft sie, »war da noch diese Ungeheuerlichkeit mit unserer Tochter. Als sie fünf war, haben wir sie für die Schule angemeldet. Dabei kam heraus, dass sie nicht getauft ist. Und da hat’s dann geheißen: Die Getauften kommen in die katholische Klasse, die Nichtgetauften in die Ausländerklasse. Das hat das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht. Ich kann nur sagen: Nie wieder zurück nach Bellenberg!«
Es gibt also eine Reihe von Gründen, die dieses in einer schwäbischen Kleinstadt etablierte Ehepaar 1981 veranlassen, das Wagnis einer Auswanderung einzugehen: politische, atmosphärische und individuelle. Zur Wahl stehen damals Kanada und Australien. Dass die beiden sich für Australien entscheiden, liegt an einem Bekannten, der sich in den Bundesstaat New South Wales absetzte und ihnen Fotos von der faszinierenden Landschaft dort schickt. Weiße Strände, blauer Himmel, üppige Vegetation ... Regina Wiebelskircher würde am liebsten sofort ihre Koffer packen. Doch ihr Mann wählt den sicheren Weg. Er formuliert eine fristgerechte Kündigung, vergattert seine Frau aber, das Schreiben erst mal zu Hause aufzubewahren. Dann setzt er sich in ein Flugzeug und lotet an der Südostküste, einem der wirtschaftlichen Zentren Australiens, die Arbeitsmöglichkeiten aus. Sie gestalten sich erfolgversprechend. Also signalisiert er nach Bellenberg: Kündigung abschicken!
Die Entscheidung zahlt sich aus – zunächst. Als eine technologische Revolution die Computerbranche erfasst und die Firma, für die der deutsche Auswanderer arbeitet, mit der übermächtigen Konkurrenz nicht mehr mithalten kann, steht das Ehepaar vor dem Nichts.
Zurück in die Heimat, sich wieder einrichten im schwäbischen Idyll und nie mehr ein solches Risiko eingehen – das wäre eine typisch deutsche Reaktion. Flexibel und mobil sein, unkonventionell handeln und ein neues Wagnis eingehen – das ist die australische Variante. Udo und Regina Wiebelskircher entscheiden sich für den australischen Weg. Sie verkaufen ihr Haus in Melbourne und investieren den Erlös in einen Caravanpark, den sie zusammen mit einem anderen Auswandererpaar in einer reizvollen Flusslandschaft in der Nähe der Ostküste betreiben.
Eine vielversprechende Perspektive ist das auf einem Kontinent, den in zunehmendem Maße die »grauen Nomaden« erobern. So nennt man die Pensionäre, die, statt nach Bali oder auf die Fidschi-Inseln zu jetten, monate- oder jahrelang mit ihren Wohnwagen durch Australien reisen, um die wilde Schönheit und die historischen Wurzeln ihres eigenen Landes zu entdecken.
Die Zielgruppe stimmt, aber die Chemie unter den Geschäftspartnern nicht. »Irgendwann hat es dann echt geknallt«, erinnert sich Regina Wiebelskircher. »70 000 Dollar haben wir bei diesem Geschäft in den Sand gesetzt. Also, wir hatten in Australien wirklich unsere ups and downs.«
Rauf, runter, rauf: Das bleibt für das Ehepaar aus Bellenberg noch über Jahre der Lebenstakt. Die Rückkehr nach Melbourne in die noch immer von Turbulenzen geschüttelte Computerbranche – gescheitert. Das Angebot, in Darwin, ausgerechnet in Darwin, für die Finanzbehörde die Wartung der Computer zu übernehmen – ein Hoffnungsschimmer. Udo Wiebelskircher sagt zu, zieht mit seiner Frau in den gottverlassenen Norden. Doch schon bald entledigt sich das Amt seines alten Systems – und seines deutschen Spezialisten. »Das geht alles ganz schnell hier. Da gehst du morgens auf die Arbeit und nach dem zweiten Frühstück bist du wieder zu Hause.«
Es ist die Kehrseite einer Flexibilität, die auch der Arbeitgeber für sich in Anspruch nimmt. Udo Wiebelskircher macht sich selbstständig, will sein eigener Herr sein. Ein letztes Mal versucht er es mit Computern – und scheitert. Doch statt aufzugeben, trifft das Ehepaar eine ebenso mutige wie weitsichtige unternehmerische Entscheidung. Es betreibt, wie es in der Fachsprache heißt, Diversifikation. Man stellt sich, einfacher ausgedrückt, wirtschaftlich auf mehrere Beine.
Der erste Schritt: Die beiden verkaufen ihr Haus in Darwin und ziehen in eine Mietwohnung. So zu existieren, ist die Ausnahme in Australien, wo Hausbesitz oft als einzige Absicherung für das Alter dient. Mit dem Gewinn erwirbt das Ehepaar einen Imbiss, den Regina Wiebelskircher, die mit jungen Jahren bereits Erfahrungen in der Gastronomie sammelte, in der Fußgängerzone der aufstrebenden Stadt betreibt. Der Laden wirft immerhin so viel ab, dass es »für das Brot und die Butter reicht.«
Udo Wiebelskircher, der seit 1988 die australische Staatsbürgerschaft besitzt, profitiert nun endlich von einer Beobachtung, die er seinerzeit auf dem Gelände des Caravanparks machte. »Viele der Besucher«, erinnert er sich, »hatten ihr Boot dabei und Schwierigkeiten damit, es am Ufer festzumachen. Solide und flexible Bootsstege, hab’ ich mir damals schon gesagt, das könnte mal was sein.«
1993, gut zehn Jahre nach seiner Ankunft in Australien, gründet Udo Wiebelskircher eine Firma, die sich auf dieses Gebiet spezialisiert – und diesmal gewinnt er. Überall an den prosperierenden Küsten siedelt sich eine kaufkräftige und bootsbesessene Mittelschicht an. Auch in Darwin werden innerhalb weniger Jahre drei neue Anlegestellen, marinas, errichtet. »Achtzig Prozent der Anlagen«, betont Udo Wiebelskircher, »habe ich installiert. Die Lehre als Elektromechaniker, die ich in Deutschland gemacht habe, kommt mir bei der Lösung der elektrischen Probleme natürlich sehr entgegen. Im Moment laufen bei mir so viele Anfragen ein, dass ich Tag und Nacht arbeiten könnte.«
Ein Leben im Takt der Achterbahn: Regina und Udo Wiebelskircher
»Ist es ein gefährlicher Job?«
»Nur in krokodilreichen Gegenden. Aber wenn ich an den Flussmündungen im Norden tätig bin, steht immer jemand mit dem Gewehr neben mir. Der würde sofort schießen, wenn mir ein Krokodil zu nahe käme.«
Auch für Regina Wiebelskircher hat sich die Geduld, die sie im Existenzkampf bewiesen hat, am Ende gelohnt. Sie arbeitet jetzt selbstständig für einen Grundstücksmakler, vermietet Immobilien für ihn. In einer Gesellschaft, zu deren Merkmalen seit jeher Mobilität und Fluktuation gehören, ist das ein blühender und auch angesehener Geschäftszweig.
»War es schwer, in diesen Beruf einzusteigen?«
»Überhaupt nicht. Man absolviert einen vierwöchigen Kurs, bezahlt dafür 1200 Dollar – und dann heißt es nur noch: ›Off you go!‹ In Deutschland könnte ich einen solchen Job nicht ohne Lehre ausüben. Da musst du doch schon eine Prüfung ablegen, wenn du den Rasen betreten willst.«
»Wie oft reisen Sie nach Deutschland?«
»Alle zwei Jahre.«
»Welchen Eindruck haben Sie, nachdem Sie dort gelandet sind?«
»Es ist furchtbar. Du bist kaum aus dem Flugzeug raus, da wirst du schon von irgendwelchen Beamten belehrt. Dann willst du morgens um fünf auf dem Bahnhof ein Ticket kaufen und hast nur einen großen Schein dabei, weil du ja gerade aus Australien kommst. Aber da heißt es gleich: ›Also, Kleingeld muss man immer bei sich haben!‹ Wenn man etwas falsch macht, dann ist gleich immer großes Theater, dann wird man von oben bis unten angeguckt.«
»Und wie ist das in Australien?«
»Da will man dir immer helfen. Ich bin mal in Melbourne direkt unter einer Autobahnbrücke mit einem Achsbruch liegen geblieben und habe Udo angerufen. Es ist unglaublich, wie viele Autofahrer in der Stunde, die ich auf ihn gewartet habe, anhielten und mir ihre Hilfe anboten. In Deutschland hätte man mich nur angeglotzt.«
Die Variationen des Lächelns, mit denen Udo Wiebelskircher die Suada seiner Frau begleitet, verraten Einverständnis mit dem Trend, aber Abweichung im Detail. »Ja, es stimmt, der Service ist miserabel in Deutschland. Aber wenn ich an die Kneipen denke, die alten Städtchen, die Kultur – das gefällt mir bei unseren Besuchen immer wieder. Und das vermisse ich in Australien.«
»Gibt es etwas, was Ihnen in Australien besonders missfällt?«
»Die Verherrlichung der Gewalt im Sport. Rugby, Football – da geht es wirklich brutal zu. Und irgendwie durchzieht das die gesamte Gesellschaft. Ich habe den Eindruck, dass jemand, der in eine Schlägerei verwickelt ist, besser wegkommt, als einer, der bei Rot über die Kreuzung fährt.«
Darwin, am nächsten Abend. Wir sind zu Gast im »Night Cliffs Sports Club«. Das Ehepaar Wiebelskircher hat uns eingeladen. »Ordentliche Kleidung« verlangt die Vereinsordnung. Das bedeutet: »Nach 19 Uhr keine Schlappen, zu keiner Zeit schmutzige Arbeitskleidung.« Das ist kein antiquierter Dresscode, sondern die Festlegung auf ein Minimum.
An einem Ecktisch des mit geldfressenden Spielautomaten ausgestatteten Saales tagt der harte Kern des »Deutschen Clubs«. Udo Wiebelskircher steht ihm vor. Harry Maschke, der Unternehmer und Konsul, hatte das Amt auch schon mal inne. Die Herren spielen Skat, die Damen Canasta. In den Kommentaren, ohne die keine solche Runde auskommt, vermischen sich Deutsch und Englisch. »Ick hab’ nur rubbish«, schimpft Vera aus Berlin. Sie ist mit Jürgen verheiratet, einem Maschinenschlosser aus Harry Maschkes Betrieb. Eine Partie später klagt Vera: »Ick hab’ noch immer keenen jolly jezogen!«
Der »Deutsche Club« war mal eines der gesellschaftlichen Zentren Darwins. Heute ist er auf sechzig Mitglieder geschrumpft – obwohl die Zahl der Deutschen zugenommen hat. »Darwin«, erläutert Udo Wiebelskircher, »hat sich zu einer multikulturellen Stadt entwickelt. Menschen aus sechzig Nationen leben hier mittlerweile zusammen. Die Deutschen sind dafür bekannt, dass sie auf die anderen zugehen. Ich glaube, keine Nation integriert sich schneller in die Gesellschaft. Auch wir im Club sind keine Vereinsmeier, sondern offen für alle.«
»Demnächst«, ergänzt Regina Wiebelskircher, »gründen wir in Darwin einen europäischen Club. Das ist zeitgemäßer. Aber unsere Tochter wird auch daran kaum Interesse haben. Sie ist jetzt 32 und arbeitet als Laborantin in einem Krankenhaus. Die versteht sich als waschechte Aussie.«
Es ist unser letzter Tag in Darwin. Die Chance, diesen Kreis nach deutschen Auswanderern zu fragen, die an unserer Reiseroute residieren, lassen wir uns nicht entgehen. So viele Namen werden uns wie auf Startschuss serviert, dass wir Mühe haben, sie zu sortieren.
»Also die Frauke, die hat ’nen Schmuckladen in Kununurra, gleich gegenüber von Woolworth.«
»Der Bernie Ostermeier ist ein interessanter Typ. Der hat einen Lastwagen konstruiert, dessen Ladefläche sich beim Kippen zur Seite dreht. Millionär ist der mit dem Patent geworden.«
»In Bathurst, da gibt’s eine Tankstelle, die einem Deutschen gehört. Kein Wort Englisch konnte der, als er nach Australien kam. Läuft prima, der Laden.«
»Den Werner in Katharine, den müsst ihr auch unbedingt besuchen. Der betreibt dort ein Reisebüro. ›The king of Katherine‹, nennen sie den.«
Katherine? In diese Richtung fahren wir morgen.