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Der Ernst des Lebens - Ankunft in der Hölle - Grosny 1995
ОглавлениеIch war bereits fast 25 Jahre Soldat, als ich den ersten Krieg erlebte – den Tschetschenien-krieg im Nordkaukasus. Und damit begann für mich der Ernst des Lebens. Bisher war mir alles wie im Spiele zu geflogen. Das Lernen, das Abitur, das Studium an einer Militärhochschule, den Dienst in den Einheiten und Stäben der Luftverteidigung im Norden Deutschlands und das Studium an einer Militärakademie bei Moskau meisterte ich wie im Spiel. Viele Jahre war ich Student – Lernender ohne Verantwortung für andere Menschen. Das war die Theorie. Doch bei Grosny und Kabul kam die Praxis. Und die unterschied sich wesentlich von der Theorie. Um es vorweg zu nehmen: niemand hat mich gezwungen, nach Tschetschenien oder Afghanistan zu gehen. Ich entschied mich zu diesem Schritt, weil ich eine echte Herausforderung suchte.
Des Soldaten Praxis ist der Krieg – was sonst. Darauf wird er vorbereitet – ausgebildet – gedrillt. Wozu braucht die Welt Soldaten? Für den Krieg! Haben wir keine Kriege, wenn es in einigen Ländern keine Soldaten gibt? Doch!
Im Dezember 1994 begann der Tschetschenienfeldzug der russischen Streitkräfte. Kurze Zeit später beschloss die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), eine Unterstützungsgruppe nach Grosny zu entsenden. Eine Anfrage nach interessierten Offizieren kam in meiner Dienststelle an. Ich äußerte meine Bereitschaft.
Eine sechsmonatige allgemeine Ausbildung zum Militärbeobachter sollte bald beginnen. Da die Bundeswehr noch kein Personal mit Erfahrungen in Krisen- und Kriegseinsätzen hatte, wurden wir von norwegischen und österreichischen Offizieren ausgebildet.
Die Lehrgänge zur Vorbereitung auf den Einsatz im russischen Nordkaukasus führten mich auch nach Bad Ems. Diese Stadt an der Lahn zeigt viele Spuren einer gemeinsamen deutsch – russischen Geschichte. Ich fühlte mich in dieser Stadt sehr wohl.
Ich dachte darüber nach, was mich in Tschetschenien erwarten würde. Russland war mir ja nicht fremd, aber der Nordkaukasus hatte schon seine Besonderheiten.
In der Phase der Vorbereitung auf die Entsendung ins Kriegsgebiet Tschetschenien und später nach Afghanistan erwartete ich eine konkrete Einweisung durch meine Vorgesetzten in meine Aufgaben, Rechte und Pflichten. Jedoch blieb diese Erwartung unerfüllt. Es begann sogar ein Streit, wem ich während meines Einsatzes unterstellt sein würde.
Die Vorbereitung umfasste allgemeine Unterrichtungen über das Einsatzgebiet und Verhaltensregeln.
Es gab politische Mandate für den jeweiligen Einsatz: die UN Sicherheitsratsbeschlüsse, ein Mandat der OSZE für die Unterstützungsgruppe in Tschetschenien, in deren Bestand ich arbeiten sollte. Für meine Einsätze in Afghanistan gab es Mandate des Bundestages. Aber all das war zu politisch und zu allgemein, um mir eine Leitlinie für den Alltag in Tschetschenien und in Afghanistan zu geben.
So erteilte ich mir selbst mein Mandat: Die Menschen achten!
Dieses Mandat soll aber auch eine Botschaft sein, die weiter getragen werden soll – an alle, die aus unserer Heimat in ein Krisen- und Kriegsgebiet gehen.
Alles, was wir Westler – unsere Entwicklungshelfer, unsere Diplomaten, unsere Soldaten oder Polizisten in anderen Kulturen tun, erfolgt im Namen unserer Tradition, unserer Werte und der Demokratie – ob dies gewollt ist oder nicht. Soll die Überlegenheit unserer Kultur überzeugen, müssen wir überlegen arbeiten und handeln.
Die Lehren meines Großvaters, wie man sich den Menschen gegenüber verhalten sollte, schienen lange Jahre für mich nicht relevant gewesen zu sein.
Dies änderte sich schlagartig, als ich mit Menschen zu tun bekam, die meinten, ein Mandat zum Töten anderer Menschen zu haben, die gottgläubig waren und sich selbst berufen fühlten, die Rolle Gottes bei der Bestimmung des Lebensendes anderer Menschen übernehmen zu können.
Ich hatte mein Gepäck für sechs Monate schon längst gepackt. Die beiden Tropenkisten standen zu Hause marschbereit im Korridor. Doch meine Entsendung nach Tschetschenien wurde mehrmals verschoben. Die letzten Tage vor dem Beginn meines Einsatzes in Tschetschenien waren vom Abschied geprägt. Dabei ging es weniger um den Abschied von Angehörigen und Freunden, sondern um den Abschied von meinen Wurzeln. Ich hatte das Bedürfnis, an die Stätten meiner Kindheit zurück zu kehren – allein. Ich wollte Abschied nehmen, indem ich die alte Dorfgasse entlang gehe, am Bach einhalte, das Haus und den Garten meines Großvaters sehe. Auch wenn sich vieles verändert hatte, Großvater schon lange gestorben ist und auch viele andere Leute, Nachbarn, ehemalige Klassenkameraden das Dorf verlassen haben, da gab es noch genügend Raum für Erinnerungen. Das Bergholz, Teile des Kammerforstes mit den angrenzenden ausgedehnten Wiesen sind einem Braunkohlentagebau gewichen. Selbst der Verlauf des alten Schnauderbaches ist verlegt worden. Diese Erinnerungen taten mir gut und ich konnte in der Ferne wenig später auf die frischen Bilder zurückgreifen. Dies verlieh mir Kraft.
Im November 1995 war es endlich soweit: der Marschbefehl traf ein. Ich wurde nach Düsseldorf gebracht und stieg in den Intercity Night nach Wien. Am nächsten Morgen traf ich in Wien ein. Die Anblicke der Hinterhöfe Wiens von den Gleisen aus enttäuschten mich. Ich kannte die Stadt nur aus den Hochglanzprospekten der Reiseagenturen. Zwei Tage Einweisung bei der OSZE standen auf der Tagesordnung. Ich wurde gut von Mitarbeitern der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der OSZE betreut. Die Einweisung beschränkte sich auf administrative Belange. Die erwartete inhaltliche Orientierung blieb auch hier aus.
Aber mein Mandat stand ohnehin fest.
Dann flog ich von Wien nach Moskau. Auch dort bin ich von Vertretern der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Russischen Föderation wahrgenommen worden. Ich fand in der Botschaft Unterkunft. In der freien Zeit ging ich in die Stadt. Moskau war mir vertraut, obwohl ich viele Jahre nicht dort gewesen bin und die Stadt sich verändert hat. Schließlich nahm ich den Flug Moskau – Grosny. Der Abflug wurde mehrmals verschoben. Dies würde die Lage im Landegebiet erfordern. Ich beobachtete die wartenden Fluggäste. Da waren einige Offiziere der Russischen Armee und der Inneren Truppen. Die Mehrzahl waren jedoch tschetschenische Männer. An dem vielen Gepäck sah man, dass sie zum Zwecke der Versorgung in Moskau weilten. Diese Männer unterschieden sich äußerlich wesentlich von den russischen. Sie waren überwiegend schwarz gekleidet und trugen Hüte. Es fiel auf, dass ihre Schuhe sehr sauber waren. Das war nicht einfach, wo doch die Strassen im November schlammig sind. Ihre Haare und Bärte waren sehr gepflegt.
Es ist ein nasskalter Novembertag, als ich in Grosny ankam.
Der Landeanflug der zivilen Passagiermaschine war atemberaubend. Erst fast über dem Flugplatzgelände leitete der Pilot den Sinkflug ein. Es glich eher einem spiralförmigen Sturzflug. So soll verhindert werden, dass das Flugzeug längere Zeit in niedrigen Höhen über die Steppe fliegt und möglicherweise mit Manpads, den tragbaren Einmann-Fliegerabwehrraketen angegriffen werden könnte.
Beim Rollen waren eine Reihe von Flugzeugwracks zu sehen. Hallen und Gebäude lagen in Trümmern. Auch die Rollbahn war sichtlich beschädigt. Über eine Behelfsleiter verließen wir Passagiere das Flugzeug. Gleichzeitig wurde das Gepäck aus den Ladekammern einfach herunter auf das Flugfeld geworfen. Meine Kisten waren zerbeult, noch bevor ich am Ziel angekommen war. Das Flugzeug rollte zum Start. Die Aufenthaltszeit von Passagierflugzeugen auf dem Flugplatz Grosny sollte so kurz wie möglich sein. Mühselig schleppte ich das Gepäck hinüber zum Abfertigungsgebäude. Da fand eine gründliche Personenkontrolle statt. Alles geschah mit großer Eile, denn die Abenddämmerung stand bevor. Endlich empfängt mich ein Mitglied unserer OSZE – Unterstützungsgruppe. Er stellte sich kurz als Bill vor und half mir, das Gepäck zu tragen.Um das Flugplatzgelände verlassen zu können, mussten wir zunächst etwa 500 m bis zum Checkpoint oder wie die Russen sagen – Blockpost – laufen. Das OSZE – Fahrzeug durfte nicht bis an das Flugplatzgebäude heranfahren. Mit dem Gepäck erweist sich der Fußmarsch nicht gerade als Vergnügen. Als wir endlich am Fahrzeug angelangt waren und die Kisten verladen hatten, wollte Bill schnell losfahren. Da brach unmittelbar neben unserem Fahrzeug ein Schuss. Ich zuckte zusammen, wurde aber durch Bill beruhigt. Es sei hier normal, wenn ein Schuss falle. Wichtig ist, zu wissen, dass die Waffen nicht gegen uns gerichtet seien. Wir konnten noch nicht fahren, denn es näherte sich von der Stadt her ein längerer Konvoi. Da empfiehlt es sich, abzuwarten. Eines der gepanzerten Fahrzeuge hat eine DDR-Flagge gehisst. Sie wird durch die aufgesessenen Mot.-Schützen geschwenkt, als sei es eine ihrer Trophäen.
Endlich konnten wir fahren. Bereits nach wenigen Metern sind wir am nächsten Checkpoint.
Obwohl unser Fahrzeug weithin mit der Aufschrift „OSZE“ gekennzeichnet ist, werden wir gründlich kontrolliert. Es diene ja nur unserer Sicherheit.
Dann ging es etwas schneller voran. Nach wenigen Kilometern sind die ersten Gebäude der Hauptstadt Tschetscheniens zu sehen – Plattenbauten. Sie sind kaum zerstört. Aber das verdanken sie ihrer Nähe zum Flugplatz. Die Russen haben den Großraum des Flugplatzes nicht systematisch bombardiert.
Unmittelbar an der Peripherie der Stadt – ein weiterer Checkpoint. Wieder wurden wir ganz genau in Augenschein genommen.
Nachdem wir das Plattenbaugebiet und auch das Hauptgebäude des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) passiert hatten, näherten wir uns einer Kreuzung von Hauptstrassen. Hier herrschte am Abend reger Verkehr. Schneller als 40 km/h zu fahren war wegen der schlechten Straßen nicht möglich. Hinter der Kreuzung gelangten wir in ein Stadtgebiet, das älter ist. Die Spuren des Krieges sind hier bereits wesentlich deutlicher. Nach einem weiteren Kilometer begann die Ruinenstadt. Das war sie nun, die Hauptstadt des Grauens. Sie machte ihrem Namen alle Ehre, denn Grosny bedeutet übersetzt „schrecklich“.
Wir näherten uns dem Zentrum der Stadt. Viel hatte ich gelesen und gehört von den Zerstörungen und vom Elend der Leute – der unmittelbare erste Eindruck war schlimmer. Ich vermochte nichts zu sagen. Es war ein Bild des Grauens. Wie viele unschuldige Menschen mochten hier eines qualvollen Todes gestorben sein? Wie viele haben dieses Inferno überlebt und vegetieren nun in den Kellern – ohne Heizung, Wasser und Nahrung?
Endlich sind wir angekommen. Das Büro der OSZE – Unterstützungsgruppe befand sich in einem einstöckigen Gebäude. Um zum Eingang zu gelangen, mussten wir klingeln. Ein weiteres Mitglied der Gruppe öffnete das hohe dunkelblaue Metalltor. Das Tor wies eine Reihe von Durchschüssen auf. Wir fuhren in den kleine Innenhof. Ich sah ein weiteres flaches Gebäude, das zum Grundstück gehörte. Dies waren Unterkunfts- und Bürotrakt zugleich. Im kleinen, aber europäisch anmutenden Büro der Mission konnte man die grauenvolle Welt, deretwegen wir hier sind, vergessen. Hier befanden sich Möbel, Inventar, Computer und Satellitenfernsehempfänger – alles aus Wien herantransportiert.
Der Mission gehörten zwischen vier und neun Entsandte der OSZE – Diplomaten und Offiziere - an. Der Chef war ein Botschafter. Die örtlichen Mitarbeiter – Schreibkräfte, Mechaniker, Kraftfahrer, eine Köchin und Wirtschafter waren Tschetschenen, aber zum Teil auch Russen.
Die ersten Tage der Mission waren geprägt vom Kennenlernen der örtlichen Besonderheiten, der Kontaktpartner und der Arbeitsmethoden im Office.
Ich begleitete so oft als möglich die erfahrenen Missionsmitglieder bei ihren Fahrten in die Stadt oder deren Umgebung. Zu Fuß besuchten wir die nahe gelegenen Basare. Wir passierten große teilweise zerbombte fünfstöckige Ziegelhäuser. Die Keller waren in der Regel nicht zerstört. Von der Strasse aus konnten wir durch die Kellerfenster sehen, dass da unten Leben war. Da wohnten Familien. Die ungenutzten Keller dienten als Mülldeponien. Ein Eldorado der Ratten und anderen Ungeziefers. Es gab keine regulär funktionierende Müllabfuhr. Auch zwischen den Ruinen häuften sich die Müllberge. Spontan wurde der Müll mit LKWs aus der Stadt gefahren. Er türmte sich kilometerweit beiderseits der großen Zufahrtsstraßen wie ein Wall wogegen auch immer.
An den Nachmittagen ging ich oft hinüber zum Prospekt des Sieges oder besser zu den Resten der einstigen Alleenpromenade. Da war ein verrosteter Kiosk für Zigaretten, Zeitungen, Zeitschriften und allerlei Papierkram. Die Verkäuferin war Armenierin. Sie versuchte durch den Betrieb des Kioskes ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Eigentlich war sie bereits im Rentenalter. Aber alle Dokumente, an Hand derer sie ihre Rentenanrechte nachweisen sollte, sind verbrannt. Alles hatte sie verloren. Grosny war ihre Heimat. Sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte, wenn die Tschetschenen sie vertreiben würden. Sie lebte nebenan im Keller eines zerbombten Hauses. Ich brachte ihr regelmäßig etwas Brot und Käse oder Wurst vom Basar. Sie erinnerte mich irgendwie an meine Mutter.
Staatlichen Einzelhandel gab es nicht mehr. Die Gebäudesubstanz der ehemaligen Kaufhäuser und Geschäfte war zerstört.
Die Basare waren das Herz der Stadt. Hier konnte man alles erwerben: Obst, Gemüse, Fleisch, orientalische Gewürze aber auch Baustoffe, Werkzeuge, Ersatzteile für Autos. Offen wurden auch Kleinwaffen aller Art einschließlich Munition angeboten. Die Preise sind verhandelt worden. Diebe oder Spekulanten hatten keine Chance, denn es herrschte ein gut organisiertes Sicherheitssystem. Dieses wurde durch private Unternehmen betrieben. Überhaupt boomte das Sicherheitsgeschäft. Manch einer konnte sich Bodygards leisten.
Ich bewunderte die Energie und den Fleiß der Händler. In der Morgendämmerung kamen sie mit Pferdekarren zum Basar und bauten ihre primitiven Stände auf. Dann mussten sie den ganzen Tag lang um einen guten Absatz kämpfen. Im Winter hatten sie der Kälte, im Sommer der Hitze zu widerstehen. Und immer wieder kam es zu Anschlägen im Bereich des Basars. Mit Bombenanschlägen wollten die Bojewiki – die Kämpfer – zeigen, dass die russlandtreue tschetschenische Regierung vor der eigenen Haustür nicht Herr der Lage war.