Читать книгу Mein Mandat: Die Menschen achten! - Jürgen Heiducoff - Страница 7
Die Lektion von Schali
ОглавлениеEine Abordnung unserer OSZE - Gruppe hatte in Schali, einem großen Flächendorf südostwärts von Grosny mehrere Tage verbracht. Ich war dabei. Es war uns nach Gesprächen mit Kommunalpolitikern und den Abgesandten des Internationalen Roten Kreuzes nicht möglich, den Ort zu verlassen. Russische Truppen hatten alle Zufahrten blockiert.
Der russische Kommandeur hatte an die Bürger ein Ultimatum gerichtet, sie mögen eine in einer Liste vorgegebene größere Anzahl an Waffen bis zum nächsten Morgen übergeben. Geschieht dies nicht, würde die blockierte Stadt mit Artillerie und Luftangriffen zerstört werden. Was geschah, war, dass die Leute Geld auf den Strassen sammelten, die geforderten Waffen von den russischen Truppen kauften und sie am nächsten Morgen dem Kommandeur übergaben. Ein einträgliches Geschäft für den hohen Offizier und einige seiner Stellvertreter.
Nach fünf Tagen erhielten wir von der russischen Kommandantur die Information, dass für den Morgen des nächsten Tages die Räumung der zusätzlichen Blockadeposten geplant sei und wir nun den Ort verlassen könnten. Wir brachen auf und wollten die Sperrposten passieren. Die Männer an diesen Posten hatten wie üblich keine Kenntnis von den Weisungen der Kommandantur. Wir warteten den ganzen Vormittag mit vielen anderen Menschen auf der Strasse nach Argun, um Schali verlassen zu können. Mit uns fuhr Ruslan, ein Feldkommandeur der Südrichtung. Er musste nach Grosny. Wir fragten nicht nach, in welcher Mission er in die Hauptstadt wollte.
Es war ein wunderschöner Frühlingstag. Wir durften gegen Mittag endlich Schali verlassen und konnten schnell den Checkpoint passieren. Wie erleichtert waren wir, dass von Ruslan, der hinten im gepanzerten Landrover saß, keiner etwas mitbekam.
Nun passierten wir die lange alleeähnliche Strasse, auf der wir vor etwa einer Woche nach Schali kamen, als sei nichts geschehen.
Kein Fahrzeug und kein Mensch waren weit und breit zu sehen.
Das Erlebte lag mir schwer auf der Seele. Es war eine Lektion, die den Charakter und den Verfall der Moral der russischen Kommandeure deutlich machte. Ich empfand Abscheu vor diesen Praktiken.
Wir näherten uns dem Kreisverkehr vor dem Ort Argun. Schon von Ferne war eine große Menschenansammlung zu sehen – eine der vielen Dorfversammlungen. Emotionsgeladen ging es zu. Dies war daran zu erkennen, dass Gegenstände geworfen und die Arme zum Ruf „Allachu Akbar“ empor gestreckt wurden.
Nun erkannten wir Dyck, einen alten tschetschenischen Intellektuellen mit friedlichen Ansichten auf einem Potest stehend und energisch gestikulierend den Leuten Losungen und Aufrufe zu rufend.
Es dauerte nicht lange, bis auch er uns vernahm. Und es geschah, was geschehen musste: Dyck verkündete laut die Anwesenheit der OSZE – Leute und bat uns auf sein Potest. Sollten wir hier kneifen, hätten wir alle Glaubwürdigkeit verspielt. Schließlich schrieb unser Mandat vor, Kontakte zu den Konfliktparteien zu suchen und zu halten.
Als erster wurde ich auf das Potest gehoben, gezogen, geschoben. Dutzende von Händen hatten daran teil. Die Tschetschenen verehrten uns Deutsche. Ich genoss persönlich besondere Sympathien in zahlreichen einflussreichen Clans.
Die Stimmung unter den Versammelten erreichte einen Höhepunkt. Die grün – weißen Flaggen Itschkerias mit dem Wolf wurden geschwenkt und immer wieder wurden Sprechchöre angestimmt. Plötzlich wurde mir das Mikro übergeben. Wie organisiert trat ein Schweigen unter die Menge. Die Aufmerksamkeit aller richtete sich auf mich. Ich war emotional noch nicht zur Ruhe gekommen. Jedoch in dieser nicht geplanten Situation kehrte in mir extreme Ruhe ein. Da standen erwartungsvolle Menschen – Männer mit den traditionellen kaukasischen Fellmützen, Frauen mit den großen Kopftüchern, Männer und Jünglinge mit Felduniformen, Kinder. Da waren auch Journalisten von REUTERS. Alle sie schwiegen. In diesem Moment hob ich meine Stimme und sagte mit langsamen russischen Worten:
„Liebe Bürger von Argun! Liebe Gäste! Vor wenigen Stunden wurde durch die Bürger Schalis das Ende der Blockade erkämpft und erkauft. Eine unbeschreibliche psychische Anspannung fand ihr Ende. Die russische Artillerie verlässt die Feuerstellungen um den Ort. Die Kommandeure der beteiligten föderalen Verbände haben ihr Ziel erreicht und die Bürger gezwungen, ihre letzten Ersparnisse abzugeben. Aber – Schali ist gerettet, unzählige zivile Opfer und Leiden sind uns erspart geblieben. Wir OSZE – Leute und ein Team des IKRK haben die Ereignisse der letzten Tage inmitten Schalis erlebt. Wir waren unter den Menschen und mit ihnen. Wir haben über die Ereignisse täglich der OSZE nach Wien gemeldet. Wir haben ihnen mitgeteilt, welche unerfüllbaren ultimativen Forderungen die russischen Kommandeure an die Bürger Schalis richteten. Die Presse in den Staaten, in denen sie frei ist, wird darüber berichten. Schali und das Schicksal seiner Bürger sind weithin bekannt. Die Russen sind nicht in der Lage, die Wahrheit zu verschweigen oder zu verfälschen. Ihr weiteres brutales Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung ist völkerrechtswidrig. Dieser Konflikt ist mit Waffen nicht zu lösen. Der erste Schritt zu einem gerechten Frieden ist der Abzug der föderalen Truppen!“
Von der spontan hoffnungsvollen und optimistischen Stimmung beeindruckt begann ich zu rufen:
„Wir, die Bürger von Argun und ihre Gäste fordern den sofortigen Abzug aller russischer Truppen aus Tschetschenien! Wir fordern Frieden und Kompensation für die Opfer und Schäden! Wir fordern von Moskau die Finanzierung des Wiederaufbaues der tschetschenischen Dörfer und Städte, der Betriebe, der Brücken und Strassen!“
Es folgten Ovationen, Flaggen wurden geschwenkt, Schüsse brachen. Die Menge stimmte Sprechchöre an: „Nieder mit den Russen! Allachu Akbar! Es lebe Itschkeria! Frieden und Freiheit für Tschetschenien!“
Was war in mich gefahren? Ich war wie unter Drogen. Und ich genoss diesen Moment. Ich stand hinter den Forderungen, die ich ausrief. Doch ich war erschrocken über das, was die Tschetschenen daraus ableiteten. Sie haben eben eine völlig andere Denkstruktur. Später wurde mir klar, dass dies weder unparteiisch, noch diplomatisch war. Aber ich konnte nach all dem Erlebten einfach nicht anders. Mir war auch klar, dass die Versprechungen mit der Veröffentlichung des Geschehenen in der westlichen Presse sich nie erfüllen würden.
Ruslan hatte bereits das Potest erklommen und ergriff das Wort. Er schilderte, was er während der Blockade Schalis erlebt hatte – im Ort und außerhalb in den Wäldern. Er berichtete, wie es ihm und der Gruppe mehrfach gelang, sich freies Geleit bei russischen Blockposts zu erkaufen. Er versprach den Leuten, bis zum vollständigen Abzug der Truppen zu kämpfen.
Die nahende Dämmerung zwang uns, nach Grosny aufzubrechen.
Sicher blieben die Einwohner Arguns noch bis in die Nacht versammelt.