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Das Massaker von Gudermes

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Mitte Dezember 1995 wurden Bill und ich eingeladen zur Familie von Zaurbeck in ein Dorf unweit der zweitgrößten tschetschenischen Stadt Gudermes. Zunächst zögerten wir, diese Einladung anzunehmen, weil in der Stadt Kämpfe stattfinden sollen. Wir nahmen an und fuhren mit einem Überlandbus in Begleitung von Zaurbeck. In der Kälte fiel es nicht schwer, unser Äußeres dem der Einheimischen anzupassen. Wir trugen dunkle Winterjacken und zogen die Pelzmützen besonders weit ins Gesicht. Im Haus der Eltern Zaurbecks wurden wir mit einem zünftigen Abendessen begrüßt. Dem schlossen sich lange Teegespräche an. Anschließend konnte ich nicht einschlafen. Aus der Stadt Gudermes waren die Detonationen der Einschläge der Artilleriegeschosse zu hören. Am nächsten Tag, so ist schon beim Tee beschlossen worden, sollten wir gemeinsam mit Zaurbecks Eltern in die Stadt Gudermes fahren. Es gab da eine Zufahrt, die nicht kontrolliert wurde. Die Eltern hatten aus ihrer Stadtwohnung bei ihrem letzten Aufenthalt nicht alle Dokumente mitführen können. Sicher ist sicher – man sollte in diesen Tagen alle Papiere immer bei sich führen. Wir sollten so Einblick in die Lage erhalten.

Auf der Hauptstrasse kamen uns lange Konvois Lastkraftwagen und Traktoren entgegen - Flüchtlinge aus dem umkämpften Gudermes und den umliegenden Dörfern. Wir nahmen Kontakt zu einigen der Flüchtlinge auf. Sie sprachen von unglaublichen Ereignissen, die sich in ihrer Stadt in den letzten Stunden zugetragen haben sollten. Die Bombardierungen und Artillerieangriffe hätten die meisten Wohnungen zerstört.

Wir verließen die Hauptstrasse und gelangten unbemerkt durch ein verlassenes Industriegebiet in die Stadt. Es bot sich uns ein Bild des Schreckens, das ich nie vergessen werde. Das war also die Hölle – ein von Menschenhand geschaffenes Inferno. Strassen und Gebäude waren stark beschädigt. Hier und da brannte es. Fahrzeuge auf den Strassen waren ausgebrannt. Die Gasleitungen entlang der Strassen brannten. An einigen Ecken lagen Leichen. Abgerissene Gliedmaßen lagen herum. Einwohner waren kaum zu treffen. Überall aus den Kellern der Häuser waren Schreie zu hören. Es waren die Schreie der Verletzten, die nicht versorgt werden konnten. Sanitätsfahrzeuge konnten auf Grund der Trümmer auf den Strassen nicht durch kommen. Mir dröhnte der Kopf. In mir war alles aufgewühlt. Mein Hals war wie abgeschnürt. Keiner von uns vermochte ein Wort zu sagen. Die Bevölkerung ist aufgerufen worden, zu Hause zu bleiben – anderenfalls würde für ihre Sicherheit nicht garantiert werden können. Nach tagelangem Beschuss der Stadt mit Artillerie sowie Bombenangriffen waren russische Infanteristen von allen Seiten eingerückt. Die russischen Infanteristen, die überall zu sehen waren, hatten noch mit sich selbst zu tun. Sie nahmen vereinzelte zivile Fahrzeuge nicht wahr. Wir gelangten ohne Kontrolle in die Nähe der Wohnung der Eltern von Zaurbeck. Die letzten 400 Meter mussten wir zu Fuß gehen, denn die Trümmer versperrten den Weg. Wie durch ein Wunder war das Gebäude, in dem sich die Wohnung von Zaurbecks Eltern befand, nicht so stark zerstört. Nachdem die Papiere und Dokumente eingepackt waren, sahen wir zu, so schnell als möglich die Stadt zu verlassen. Alles geschah noch im Durcheinander der Besetzung der Stadt. Die Infanteristen wagten sich nicht, die Häuser zu stürmen. Niemandem war klar, ob die Bojewiki, die tschetschenischen Kämpfer noch in der Stadt waren oder diese verlassen hatten. Ich sah, wie vereinzelt russische Soldaten in Kellerfenster hinein schossen. Schreie ließen darauf schließen, dass sich die Leute in den Kellern verschanzt hatten. Ihre Wohnungen waren durch die Bombardierungen der letzten Tage stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Sie hatten Angst, in die oberen Etagen zu gehen. Das hätte ihnen aber mehr Schutz vor dem Beschuss mit Schützenwaffen gegeben. Diese Lektionen haben die Bewohner Grosnys bereits hinter sich. Während der Bombardierungen soll man sich in den Kellern aufhalten und dann, wenn die Infanterie einrückt – in den oberen Etagen. Die Einschüsse mit Schützenwaffen von der Strasse aus gehen so in die Decke.

Auf dem gleichen Weg – durch das verfallene Industriegebiet – konnten wir die Stadt verlassen. Wie wir später erfuhren ist noch am gleichen Tag Gudermes völlig isoliert worden. Die Inneren Truppen hätten einen dichten Ring um die Stadt errichtet, so dass kein Mensch mehr rein oder raus konnte.

Zwei Tage später beschlossen wir, mit einem Team er OSZE – Gruppe offiziell – auf Antrag - gemeinsam mit dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) nach Gudermes zu fahren. Es ging darum, sich ein Bild von der humanitären Lage zu machen, um Hilfe einleiten zu können. Ich war dabei. Auf der Strasse nach Osten kamen uns keine Flüchtlinge mehr entgegen. Die Straßen waren menschenleer. Wir gelangten an die ersten Straßensperren noch weit vor Gudermes. Über der Stadt waren Rauchsäulen zu sehen.

Die Posten hatten strengen Befehl, niemanden passieren zu lassen – in beiden Richtungen. Ab mittags des auf die Einnahme der Stadt folgenden Tages wurde eine großräumige Abriegelung befohlen. In der Stadt waren Hunderte von Untergrundkämpfern, die sich heftige Gefechte mit den russischen Truppen lieferten. Der Großteil der Bevölkerung befand sich noch in der abgeriegelten Stadt. Der Gefechtslärm war weithin hörbar. Wir teilten uns. Mit einem Fahrzeug blieben die Vertreter des Roten Kreuzes mit einem unserer Leute an der Zufahrt stehen und mit einem anderen Fahrzeug fuhren ein Teil unserer Gruppe zum Hauptquartier der Russischen Truppen nach Chankala.

Da es dem Trupp des IKRK nicht gelang, Zufahrt zur Stadt zu bekommen, wollten wir das Problem mit dem Befehlshaber der Russischen Truppen besprechen. Im Hauptquartier Chankala bei Grosny angekommen, baten wir um einen Termin beim Kommandierenden General. Der sei unabkömmlich, da er im Gefechtsstand die Kämpfe koordinieren würde, lautete die Antwort. Wir baten, warten zu dürfen, bis der General wenige Minuten Zeit finden würde. Gegen 22.00 Uhr erschien er im Besprechungsraum. Er war ein kleiner Mann, der eine gewisse Ruhe und Autorität ausstrahlte. Sein Äußeres war sehr gepflegt. Er sprach ruhig und überlegt. Wir teilten ihm mit, dass das IKRK keine Zufahrt nach Gudermes erhalten hätte, um sich ein Bild von der humanitären Lage machen zu können. Der General entgegnete, dass sich „Banditenverbände“ in der Stadt festgesetzt hätten und russische Patrouillen bekämpfen würden. Die „Banditen“ hätten den Forderungen, die Stadt zu verlassen, nicht Folge geleistet. Die Handlungen seiner Truppen seien unausweichlich nötig gewesen, um die Sicherheit der Bevölkerung zu garantieren. Im Übrigen liege damit die Gesamtverantwortung für die entstandene Lage auf Seiten der „Banditen“.

Wir unterbreiteten dem General den Vorschlag, einen Sicherheitskorridor zu bilden, auf dem die Zivilbevölkerung die Stadt verlassen könne. Dies lehnte er strikt ab mit dem Hinweis, dass auf diese Weise auch viele „Banditen“ entkommen und sich ihrer Verantwortung entziehen würden. Unsere Verweise auf die Genfer Konventionen, die die Streitkräfte zum Schutz der Nichtkombattanten verpflichten, wies der General ebenfalls zurück. Die Genfer Konventionen würden sich auf Kriegshandlungen zwischen Staaten beziehen. Hier im Nordkaukasus sei aber kein Krieg und damit würde auch das Kriegsvölkerrecht keine Anwendung finden.

Weitere Versuche unsererseits, ihn auf die Schiene zu bringen, die Zivilbevölkerung trotzdem von der Humanität der Operation der Russischen Truppen zu überzeugen, waren nicht zielführend. Er rief seine Sekretärin. Die junge, sehr schöne Russin im Range eines Leutnant bekleidete uns zu unserem Fahrzeug.

So mussten wir unverrichteter Dinge zurück zu unserem Office fahren. Gut dass wir im gepanzerten Landrover unterwegs waren, denn nächtliche Fahrten durch die tschetschenische Hauptstadt haben ihre besonderen „Reize“. Da werden spontane Feuergefechte ausgetragen. Die nächtliche Ausgangssperre wird nicht eingehalten, weil die Polizei sich selbst fürchtet, auf die Strassen zu gehen.

So fuhren wir zügig zurück: Der schwere gepanzerte Landrover donnerte durch die Schlaglöcher. Im Nachtquartier angekommen konnte ich lange keine Ruhe finden. Ich wurde die Bilder von Gudermes nicht los. Mich lähmte unsere Machtlosigkeit.

Am nächsten Morgen einigten wir uns, einen Bericht über unsere Bemühungen an die OSZE zu senden.

An den Folgetagen meldeten sich neue Augenzeugen, denen eine Flucht aus Gudermes gelungen war. Sie berichteten von unglaublichen Massakern in der Stadt. Die Blockade wurde nicht gelockert. Auch Frauen, Kindern und Alten wurde es noch immer nicht ermöglicht, die Kampfzone zu verlassen.

Die größte Enttäuschung für uns war jedoch die Untätigkeit der OSZE. Da war keine Reaktion auf unseren Bericht und da waren auch keine diplomatischen Aktivitäten in Richtung Russland zu bemerken. Und Weihnachten nahte.

Ich entschloss mich, dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium der Verteidigung einen eigenen nationalen Bericht zu senden. Darin äußerte ich die Bitte um Weisung und Erteilung weiterer Handlungsanweisungen. Jedoch – nichts geschah. Telefonische Nachfragen blieben ohne Ergebnis. Keiner der Referenten und Beamten wollte sich festlegen.

Das offizielle Moskau bestritt, dass es in Tschetschenien Krieg führen würde. Dort sei eine Operation gegen kriminelle Subjekte im Gange. Die Verantwortung für eventuelle schwierige Lagen tragen allein die „Banditen“. Den Kräften der Russischen Föderation würde es gelingen, die Ordnung wieder her zu stellen.

Mein Mandat: Die Menschen achten!

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