Читать книгу Mein Mandat: Die Menschen achten! - Jürgen Heiducoff - Страница 6
Die Evakuierung, das Interview und dessen Folgen
ОглавлениеDeutlich war an den Folgetagen zunächst eine Abkühlung des Verhaltens der russischen Seite zu unserer Gruppe zu spüren. Und dann war der Aufbau des psychischen Druckes gegen uns nicht zu übersehen. Auf Grund der Feiertage verließen der Chef der Mission und etwa die Hälfte der anderen Entsandten Grosny in Richtung Heimat. Fünf Offiziere blieben. Tags wurde mit dem örtlichen Personal Routinedienst gemacht. In den Nächten waren nur wir Ausländer in der Mission. Für unsere Sicherheit stand eine Infanteriegruppe der Inneren Truppen zu unserer Verfügung. Ein gepanzertes Kampffahrzeug BMP 60 stand etwa 40 Meter vor der Einfahrt zu dem durch uns angemieteten Hof – direkt an der Strasse. Unmittelbar vor dem Tor war ein Posten dieser Infanteriegruppe platziert.
In den Vorweihnachtstagen waren fast jede Nacht Schießereien vor unserem Tor zu hören. Die Aussage der Russen am nächsten Tag war immer, dass sie von Banditen angegriffen worden seien. An einem Tag stellten wir in einem der Strasse zugewandten Büroraum Einschüsse fest - durch das Doppelfenster in die Decke. Tags darauf bei der Auswertung mit dem russischen Gruppenführer konnten wir ihm nachweisen, dass die Flugbahn der Projektile so verlief, dass die Abschussstelle etwa vier Meter vor dem Fenster sein musste. Sollte es also dem „Banditen“ gelungen sein, bis unmittelbar an unser Gebäude heran zu kommen oder sind die Schüsse von den Russen selbst abgegeben worden?
Wenn Gäste uns sprechen wollten, war vereinbart, dass der russische Posten klingelt, damit dann ein Angehöriger der Mission prüft, welcher Gast um Einlass bittet, um zu entscheiden, ob geöffnet wird.
In einer der folgenden Nächte klingelte es. Mein schwedischer Kamerad wollte das Gebäude verlassen, um zu überprüfen, wer um Einlass bittet. Als er die Tür öffnete, wurde vom Tor her das Feuer eröffnet. Er hatte deutlich das Mündungsfeuer der Kalaschnikow sehen können und wir alle waren aus dem Schlaf gerissen. Den Rest der Nacht blieben wir in Deckung unter der Fensterbank.
Am Morgen war das Personal des Infanteriezuges ausgetauscht und die Ablösung wusste natürlich nichts von den Ereignissen der Nacht.
Psychoterror gegen das OSZE – Personal?
Es war schon der 22. Dezember. Wir ersuchten um eine Auszeit außerhalb Tschetscheniens bis zum Neuen Jahr. Dem wurde statt gegeben. Wir beluden zwei Fahrzeuge und verließen Grosny und Tschetschenien in Richtung Nordossetien. Es sollte nicht wie eine Evakuierung aussehen, sondern wie ein geplanter Feiertagsurlaub. Von Wladikavkaz aus flogen wir nach Moskau. Dort waren wir in einem Hotel auf den Leninbergen untergebracht. Auf dem Tagesprogramm standen Gespräche in den verschiedenen Botschaften.
Ich hatte noch immer nicht die Erlebnisse von Gudermes verarbeitet. Vor allem die Enttäuschung über die Handlungsunwilligkeit der OSZE und auch der deutschen Stellen wühlte mich auf.
Ich entschloss mich, das Problem an die Öffentlichkeit zu bringen. So nahm ich Kontakt zum ARD – Studio in Moskau auf. Sonia Mikich, die damalige Leiterin traf mich schon am nächsten Tag. Über Weihnachten haben wir ein Interview für die Tagesthemen vorbereitet. Am 27.12.1995 wurde es in Deutschland gesendet. Das Interview fand bei klirrendem Frost vor dem Weißen Haus in Moskau statt. Ich kritisierte unmissverständlich die Vorgehensweise der russischen Truppen in Gudermes als Verstoß gegen die Menschenrechte. Detailliert schilderte ich meine Erlebnisse der letzten Tage.
Das Medienecho schlug ein wie eine Bombe. Internationale, auch russische Agenturen meldeten meine scharfe Kritik an der Art der Kriegführung der Russen gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung.
Das Interview störte das Feiertagsregime in den Ministerien zu Hause. Diplomaten und Generäle riefen mich an. Statt auf die Feiertage einzugehen drohten sie mir mit der sofortigen Abberufung aus der Mission wegen Überschreitung meiner Befugnisse. Das Interview hätte angemeldet und genehmigt werden müssen.
Trotz all dieses Stresses fühlte ich mich erleichtert.
Am Schicksal der Menschen von Gudermes konnte ich nichts ändern. Aber vielleicht ist es mir gelungen, auf echte Verstöße aufmerksam zu machen, die nicht geduldet werden sollten.
Die Wellen beruhigten sich schnell. Ich erntete zwar namentliche Kritik vom Oberbefehlshaber der russischen Truppen in Tschetschenien und musste mir im russischen Außenministerium eine diplomatische Schelte abholen.
Nach unserer Rückkehr nach Grosny Anfang Januar schien alles vergessen gewesen zu sein.
Es gab auch kein Nachspiel. Ich konnte meine Arbeit in der Mission fortsetzen.
Nach diesen ersten turbulenten Wochen für mich in der Mission folgte eine Periode relativer
Normalität. Es hatte ein Personalwechsel in unserem Team statt gefunden.
Wir baten den Kommandanten, den Mot.-Schützenzug, der unser Office bewachte, abzuziehen. Er brachte uns wenig Sicherheit, sondern lenkte eher noch die Gefahr auf uns. Und er diente auch nicht der Betonung unserer Unparteilichkeit. Ab sofort wurden wir bewacht von Polizisten des tschetschenischen Innenministeriums, die wir mit OSZE – Geldern entlohnten. Sie befanden sich in unserem Hof und nicht draußen auf der Strasse.
Wenn ich von Normalität spreche, dann ist eine Arbeit entsprechend unserer Pläne gemeint. Zur Normalität gehörte es aber auch, dass nachts draußen geschossen wurde und dass hin und wieder auch Mörsergranaten zu hören waren. Die neu zu versetzten Diplomaten fragten mich manchmal am Morgen, ob die Einschläge der letzten Nacht gefährlich waren. Ja, woher sollte ich dies wissen. Natürlich hätte ein Zufallstreffer unserer ungeschützten Gebäude verheerende Auswirkungen. Dort ertappte ich mich dabei, dass ich bisher im Trubel der ersten Wochen weder Zeit zum Nachdenken über die Gefahren, noch richtig Angst hatte. Seit mir die täglichen Gefahren bewusst geworden sind, hatte ich Angst. Vor allem nachts konnte ich vor Angst nicht tief schlafen. Ich begann mir vorzustellen, was passieren würde, wenn unser Gebäude von einer Granate getroffen würde. Es gab keine Rettungskette zur Evakuierung Verletzter. Die Russen hatten Probleme, ihr eigenes Personal zu versorgen.
Ja – ich hatte Angst. Dies sollten aber die anderen nicht merken. Ich glaube, alle hatten Angst, auch wenn keiner darüber sprach.
Um die Verwundungsgefahr unserer Gruppe zu reduzieren, beschlossen wir, nicht mehr alle im Office auch zu übernachten, sondern Nachtquartiere in verschiedenen umliegenden Höfen von Familien anzumieten. Dort würde man den Schutz und das Gastrecht der Familie genießen. Da aber all diese Gebäude nur eine Etage hatten, bestand die Gefahr, in die Feuerlinie der Waffen des direkten Richtens zu geraten. Die Fenster der Räume zur Straßenseite waren zwar zu gemauert, aber was hält schon eine einfache Ziegelwand ab?
Ein paar Tage wohnte ich bei einer solchen Familie. Man nahm gemeinsam das Essen ein. Abends saß ich mit ihnen vor dem Fernseher und zum Schlafen ging ich in meinen kleinen Verschlag. Ich bemerkte den Druck, der auf die jungen Frauen ausgeübt wurde. Der jungen Ehefrau des Sohnes des Vermieters wurde es untersagt, ihre Eltern, die nur wenige Strassen entfernt lebten, zu besuchen. Sie lebte wie eine Sklavin. Es verging kein Tag, an dem sie nicht bitterlich weinte. Das wollte ich mir nicht länger ansehen.
Ich entschloss mich, eine Wohnung in einem mehrgeschossigen Gebäude zu beziehen. Da verzichtete ich zwar auf den Schutzfaktor Familie, aber so richtig überzeugte der mich sowieso nicht. Ich lebte in der vierten Etage eines großen Ziegelgebäudes aus der Zarenzeit direkt im Zentrum der Stadt am Prospekt Pobedy, der Allee des Sieges. Von hier aus konnte man zu Fuß den Regierungssitz der moskautreuen Regierung in fünf Minuten erreichen. Die beiden Aufgänge des gleichen Gebäudes nebenan waren weitgehend zerstört. Dort gab es nur die beiden unteren Etagen. Es bestand akute Einsturzgefahr. Der Blick aus dem Fenster meines neuen Anwesens bot einen gespenstigen Anblick – vor allem nachts. Da es keine Straßenbeleuchtung gab, waren nur die Silhouetten der Ruinen zu sehen. Schräg gegenüber befand sich die Ruine des völlig zerstörten Kulturpalastes. Die Nachbarwohnung gehörte Achmed Sakajew, dem Kulturminister der Regierung der Republik Itschkeria. Er wohnte bis zur Besetzung Grosnys selbst in dieser Wohnung.
An den Abenden wurde der Haupteingang von innen mit Eisenstangen verschlossen. Wenn also Gäste kamen, blieben die bis zum Morgen. Es war auch eine Ausgangssperre in der Dunkelheit verhängt. Das Neujahrsfest nach dem altrussischen Kalender (Stary Novy God/ das alte Neue Jahr) feierte ich in dieser Wohnung. Ich hatte deutsche Gäste vom ARD – Studio aus Moskau. Wir feierten ausgelassen und tranken auch etwas mehr vom guten Wodka. Wenn mehrere Gäste im Zimmer waren, erschien dies auch wärmer. Es funktionierte keine Heizung. Die einzige Wärmequelle war die kleine Gasflamme des Küchenherdes, die immer brannte. Dann wurde von Zeit zu Zeit mit Pappwedeln die erwärmte Luft aus der Küche in den Aufenthaltsraum gelenkt. Draußen herrschten Temperaturen um den Gefrierpunkt. Vom Balkon aus konnten wir durch die Reste der zerschossenen und zum Teil verkohlten Alleebäume auf den Prospekt schauen. Gegen Mitternacht wurde es da unten sehr lebhaft. Junge tschetschenische Männer veranstalteten gewöhnungsbedürftige Rennen – Autorennen mit den neuesten Modellen von Mercedes und BMW. Sie jagten den Prospekt auf und ab und versuchten sich gegenseitig durch Schüsse auf die Reifen zum Stehen zu bringen. Der Prospekt war gesäumt von Menschen und einer von uns sagte spontan: „Lasst uns auch runter gehen!“ Da keiner widersprach, wurde dies getan. Das Leben hier sei ohnehin risikogeladen, meinten alle. Gegen halb eins nachts leuchtete der Himmel über Grosny von den unzähligen Leuchtgranaten, die auch von den Russen abgeschossen worden sind.
Ich stehe am Fenster der alten Villa im Prospekt des Sieges. Der Blick ist über den Innenhof hinüber zu den neuen Gebäuden aus der Sowjetzeit gerichtet. Dort ist wieder ein Haus, das noch vor wenigen Tagen unbeschädigt war. Die Silhouette der Stadt ändert sich im Wochentakt. An vielen Häusern waren Schilder befestigt mit der Aufschrift „Ljudi“, was darauf verweisen sollte, dass dort Leute leben.
Durch die Zerstörungen herrschte extremer Wohnraummangel. Menschen lebten überall: in Kellern, in Schuppen oder in den zerstörten Stahlbetonhochhäusern.
Das offizielle Moskau behauptete stets, dies sei kein Krieg, sondern eine militärische Operation gegen Terroristen und Banditen. Wer die Ruinen der Gespensterstadt Grosny gesehen hat, gelangt zu der Folgerung, die Russen betrachten alle Tschetschenen als Banditen. Und auch das ist nicht korrekt, denn in den Ruinen lebten auch viele Russen, die in Grosny geboren und aufgewachsen sind.
Ich bekam hier ein erstes Mal vor Augen geführt, wie ungeeignet Militär zur Lösung von Konflikten ist. Durch die unangemessene militärische Gewalt durch die russische Luftwaffe und Infanterie sind erst die tiefen Gräben und der Hass zwischen den Menschen entstanden.