Читать книгу Anschwellendes Geschwätz - Jürgen Roth - Страница 12

Kraus und Kant

Оглавление

Daß er hundertdreißig Jahre alt wird, das hätte sich Karl Kraus, der heute vor hundertdreißig Jahren geboren wurde, ernsthaft erhofft. Den Einzeltod hielt er zuweilen für eine ähnliche Pest und Zumutung wie die Welt in ihrer niederträchtigen Beschaffenheit, die Welt, die, so ein fast geflügeltes Wort des großen Wieners, nach der Presse erschaffen wurde und seither versinkt im Ozean der »Welthirnjauche«; und die, die Welt, noch jenseits aller Pressefrechheiten und publizistischen Infamien vor allem in Agonie und Raserei liegt, weil die Menschen nicht zur Besinnung gelangen und ihren Planeten unvermindert in einen die Apokalypse hier und heute vor Augen führenden Friedhof verwandeln, auf dem sich die Würdelosigkeit der Gattung nackt und kahl und fürchterlich in stetig wachsenden Leichenbergen zu erkennen gibt.

Daß ihm irgendein dahergelaufener Quackel in irgendeinem nutzlosen Feuilleton einen Geburtstagsgruß darbringt, hätte sich Kraus schneidend verbeten. Seine Verachtung der bürgerlichen Usancen und der bürgerlichen Gesellschaft, die vernebelnd so heißt, damit man über den Kapitalismus und den Krieg nicht reden muß und in der Nabelschau das Bewußtsein verlogen befriedet, war – entgegen aller Häme, die ihm von den Feiglingen entgegengebracht wurde – Ausdruck eines Mutes, der Zeitungsschreibern so fern ist wie der Mars der Erde, und einer Liebe zu den Menschen, die deshalb wahrhaftig war, weil sie auf jede sentimentale, scheinheilig empathische Äußerung verzichtete.

Nur im Haß vermag Humanität noch zu überdauern angesichts einer Welt, die in Gewalt, Leid und Barbarei zugrunde geht – das war wohl ein Credo des Karl Kraus, obschon er eingewendet hätte, daß, wer ein Credo hat, keinen Gedanken hat. Sein Haß galt den Schmöcken, und er galt dem Militär und allen, für die es kein Skandal ist, daß Menschen hingemetzelt werden.

In der Fackel Nr. 474-483, im Mai 1918, stellte er der Rede eines deutschen Mörders, der 1917 dem »Herrn der Heerscharen« gedankt hatte für den »völligen Sieg im Osten« und »die Heldentaten unserer Truppen« »wurzeln« sah »in den sittlichen Kräften, im kategorischen Imperativ« des »großen Weisen von Königsberg«, eine kurze Kant-Passage gegenüber, in der der philosophische Jubilar des Jahres die »Hymnen, die dem Herrn der Heerscharen gesungen werden«, als furchtbares Symptom der Gleichgültigkeit bezeichnet, weil sie »noch eine Freude hineinbringen, recht viel Menschen oder ihr Glück zernichtet zu haben«.

Kraus ließ diese deutsche Soldatenperversion, wie nicht selten, unkommentiert. Wenige Seiten später widmete der Hasser dem ostpreußischen Milden das sechzehnstrophige Gedicht »Zum ewigen Frieden«, seine Verehrung auch dadurch bezeugend, daß er Kants Vermächtnis als Motto vorausschickte: »Bei dem traurigen Anblick [...] der Übel, [...] welche sich die Menschen untereinander anthun, erheitert sich doch das Gemüth durch die Aussicht, es könnte künftig besser werden; und zwar mit uneigennützigem Wohlwollen, wenn wir längst im Grabe sein und die Früchte, die wir zum Teil gesät haben, nicht einernten werden.«

Die Verse, die Kraus, der finstere Aufklärer, darunter schrieb, sind nichts anderes als zart, warm, hell und wahr. »Nie las ein Blick, von Thränen übermannt, / ein Wort wie dieses von Immanuel Kant. // Bei Gott, kein Trost des Himmels übertrifft / die heilige Hoffnung dieser Grabesschrift«, beginnt die Hymne, und sie endet, das Ende aller Zeiten abwehrend: »Sein Wort gebietet über Schwert und Macht / und seine Bürgschaft löst aus Schuld und Nacht. // Und seines Herzens heiliger Morgenröte / Blutschande weicht: daß Mensch den Menschen töte. // Im Weltbrand bleibt das Wort ihr eingebrannt: / Zum ewigen Frieden von Immanuel Kant!«

Anschwellendes Geschwätz

Подняться наверх