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Es war einmal das Adornowahrjahr
ОглавлениеAdorno war »ein philosophierender Intellektueller«, schrieb Jürgen Habermas 1963 anläßlich des sechzigsten Geburtstages von Adorno, und Adorno war, so Habermas weiter, »ein Schriftsteller unter Beamten«.
Die Beamten waren die Schulphilosophen, diejenigen, die den systematischen und deduktiven Zwängen der universitär vermittelten Lehren gehorchten und einer Sprache dienten, die weniger an Philosophie – als ein Philosophieren – denn viel-mehr an Verwaltung gemahnte.
Adornos kreisender Stil widersprach der Sprache der bürokratischen Philosophie in der verwalteten Welt vehement. Und so sehr Adorno das Geschäft der Philosophie von innen her zu decouvrieren und dergestalt die Wahrheit der Reflexion auf das Schicksal des Subjekts philosophisch zu retten versuchte, so sehr war ihm oft danach, die »Eiswüste der Abstraktion« zu fliehen und z. B. bergzuwandern.
Das Jahr 2003 war, man mag sich daran vielleicht trotz aller Beschleunigung der Quasselkonjunkturabfolgen noch erinnern, mutmaßlich mehr als alles andere: das Adornojahr, und zur Feier des hundertsten Geburtstages des »interdisziplinären Einzelarbeiters«, wie Rolf Wiggershaus in seiner Studie Die Frankfurter Schule den Soziologen, Aphoristiker, Literaturexegeten, Husserl-Deuter, Musikphilosophen und Komponisten nannte, versuchten Symposien, Festakte, Konzerte, Liederabende, Preisverleihungen, Straßenumbenennungen und Ausstellungen den »ganzen Adorno« vorzustellen, d. h. »Leben und Werk« in Einheit, in der großen Synthese zu zeigen.
Deshalb durfte im Vorfeld auch damit gerechnet werden, auf bis dato unbekannte Aspekte des »Adornoschen« (Wiggershaus) Schaffens, Wirkens und Wandelns aufmerksam gemacht zu werden. Einen frühen Hinweis hatte die Frankfurter Ausgabe der Bild-Zeitung gegeben, in der über den Jubilar zu lesen gewesen war: »In der Welt der Philosophie, der Sozialpolitik und der Musik hat er Frankfurt berühmt gemacht.«
Sozialpolitik – interessant. Adorno: ein engagierter Referent in Sachen Mieterschutz, öffentlicher Wohnungsbau und Kindertagesstättenproblematik? Das klang ehrenwert und stellte jedoch nur ein erstes Steinchen jenes schillernden Mosaiks dar, das anschließend vor unseren Augen zusammengesetzt wurde, um uns den ungeschmälerten, den »wahren Adorno« zu präsentieren.
Adorno nämlich war in seiner Funktion als Leiter und oberster Skatspieler des Instituts für Sozialforschung auch ein bedeutender Blondinenforscher und Champagnerverehrer. Und Adorno war ein antizipatorischer Olympiagegner und unermüdlicher Boulespieler, ein eifriger Sommerhutfan und ausgefuchster Eintracht-Experte, der die prekären finanziellen Verhältnisse des launischen und verluderten Vereins durch mehrere Gutachten und Strategiepapiere nachhaltig zu verbessern trachtete.
Adorno war darüber hinaus, das dokumentiert ein Photo, das jahrelang an der Wand des studentischen Cafés im Philosophischen Institut der Universität Frankfurt hing, ein begeisterter Pappnasenträger, der im kindlichen Übermut seinen alten Kumpel Horkheimer sogar beim Wettlachen ausstach, und zwar deutlich nach Pappnasenpunkten.
Erinnert sei aber auch an ein Wort von Oskar Negt: »Adorno war ein solider Uhrmacher.« Und erinnert sei daran, wie zum Beschluß des ganzen Adornojahrgedackels im Lokalteil der Frankfurter Rundschau vom 30. Dezember 2003 ein Resümee zu all der besinnungslosen »Besinnung auf das Universalgenie Theodor W. Adorno« gezogen wurde: »Eine Streitkultur, wie sie sich an seiner Denke bis heute entzündet, könnte die Stadt unterdessen gut gebrauchen. Eben nicht nur in den hochgeistigen Diskursen, die das Adorno-Jahr gebracht hat.« Sondern, die schauderhafte »Denke« weiterdenkend in Richtung Sozial- und Stadtpolitik: »Mancher hat Vertreter der Stadtpolitik auf den Podien vermißt.« Und Sozialpolitiker, die mit Adornos »Denke« im »Kopf« »eine politische Debatte entzündet« hätten. Denn »Politikern müßte doch daran gelegen sein, daß die Lähmung durch Spar- und Gelddebatten überwunden würde«. Und sei’s durch ein derart versautes Denke- und Debattengeschwafel right out of the »Pig Press« (Eckhard Henscheid).
Zwischen Bild und lokaler Frankfurter Rundschau: nur noch ein gradueller Unterschied. Bild enthält sich – noch – des »Diskurses«, die seriöse Tochter hat dafür die »Streitkultur« in petto, eine Streit- und Stammelkultur, die sie trotz der simultan und sogar auf Seite eins ausgelobten »Verzichtskultur« weder einzudämmen noch abzuwracken gedenkt. Warum auch? Das Blatt befindet sich in einer glanzvollen Gesellschaft aus Zeitungen, Magazinen, Fernsehkanälen und sonstigen Institutionen und Instituten, in der wenig anderes betrieben wird, als unaufhaltsam den von Adorno halb beklagten, halb analytisch entblößten »Schwindel der Kommunikation« zu verbreiten und, so das denn geht, zu verbreitern. Oder einfach bloß wie wild weiterzutreiben. So daß vor lauter sinnfällig anschwellendem Schwindel füglich über einen nahezu mediendichten Schwindel des Geschwätzes gejammert werden darf, der sich, sofern zu allem Überdruß noch die Medien- und die Kommunikationswissenschaften ihr abgestandenes geistiges Scherflein beitragen, im Hybrid- und Metaschwindel des »Geschwätz-Geschwätzes« (Roland Tauber) vervollkommnet.
Man kann darüber lachen, man kann deshalb brechen, man kann im praktisch parallel eröffneten Paralleluniversum des stern und in dessen erster Ausgabe des Post-Adornojahres den im alten Sinne reaktionären Gehalt des Geschwätzes über das Geschwätz der Politik zur Kenntnis nehmen, die herrschsüchtige Gesinnung des immerzu »identisch« (Adorno) faselnden Politfeuilletons, für das zumal und im Erörterungszusammenhang der bestenfalls noch bestens erinnerlichen Bohlen- und Harald-Schmidt-Hysterie der ruchlose Zwischenrufer Hans-Ulrich Jörges zuständig ist. Der wußte nicht nur von einem alles und jeden einbegreifenden »Krisensyndrom« der sog. »verbohlten Republik« zu berichten, sondern sorgte sich zudem »um die Leere und ums Anschwellen«, ums allgemeine und allerörtliche Anschwummsen oder Dickmachen, durch das »ein ganzes Land zum geistigen und politischen Vakuum« werde, ausgenommen jener hohe Ort am Hamburger Baumwall, von dem aus in den »Leerraum Deutschland« hineingejörgelt wird, bis die dicken Eier des Propheten bersten.
Da heißt es natürlich, es prinzipiell besser zu wissen und sich »dialektisch« (Jörges) mit Bohlen wie Schmidt »gegen den Strich« gemein zu machen (»Beide haben einen klaren Blick für die traurigen Umstände«), um, man sagt es halt noch mal, »am Ende des deutschen Vakuum-Jahres 2003« in die vollen zu keifen, auf daß der eingebildete Diskursführer der Journaille erhört werde: »Das Denken pausiert schon länger in Deutschland. Und nicht nur das Denken. Das Land steht. Still, aber geschwätzig. Der Reform-Vodoo am Jahresende ist nicht mehr als ein Erzittern. [...] Grell überschminkte Feigheit. Die Gesetze der Ökonomie diktieren nicht weniger als die Neugründung eines erstarrten Landes – erstarrt durch die Pervertierung der Sozialsysteme ins Unsoziale, die Infizierung der Wirtschaft mit der bürokratischen Sklerose des Staates, die Verirrung der Politik im Gestrüpp des Konsensdschungels. [...] Die Großdenker der Siebziger und Achtziger sind erfüllt vom Ekel der Ökonomie, die Feuilletons beschweigen die Grundsteinlegung für eine andere Republik. Kein Diskurs, nirgends.« Wenn’s denn stimmte, das mit dem Diskurs – es ist ja noch ein Jörges da.
Man darf indes, abseits solcher dialektischen und diskursivkommunikativen Adorno-Bomben, unterm Leit- und Titelbegriff des »anschwellenden Geschwätzes« auch das eigensinnige und ungebändigt krumme Parlieren, das wahrheitsfähige Sprechen, das end- wie regellose Gerede derer verstehen, die selten oder nie über ein mediales Forum verfügen und die den »Diskurs« so eindringlich meiden wie die »Debatte« oder die »Kultur«. Man kann sie daher hie und auch da wenigstens kurz zu Wort kommen lassen. Denn im Anfang war, mit Herder zu reden, das menschliche Wort, die »Besonnenheit«, und so wird es bleiben, selbst wenn das ohrenbetäubende Geschnaube in den Reziprokwelten der Presse, der Politik und der »Kulturszene« (Frankfurter Rundschau, s. o.) davon selten etwas wissen möchte – und dafür um so mehr von den eigenen tosenden Angelegenheiten.
Gewiß, manch einer und manch einem der hier zusammengepferchten Glossen und Aufsätze über die Kommunikationskatastrophen der jüngeren Zeit haftet ein gerüttelt Maß an überholter Aktualität an, vor allem auf Grund der grandios rasanten Umwälzung der neusten Republikverhältnisse durch die vorgezogenen Bundestagswahlen am 18. September 2005. Literatur, und sei’s weitgehend polemisch legierte, vermag mit dem galoppierenden Unsinn längst nicht mehr Schritt zu halten. Trotzdem sollte den in Rede stehenden Texten der Eingang in dieses Buch nicht verwehrt werden – wenn auch bloß aus Motiven der nietzscheanisch-archivarischen Geschichtsfortschreibung und im Sinne einer kleinen kakophonischen Dokumentation des kommunikativen Krawalls. Zumindest unter solchen Aspekten ist der Wiederabdruck derartiger Einlassungen dann womöglich sogar eschatologisch gerechtfertigt. Dafür spricht ein furioser, 2005 in den USA zum Bestseller avancierter Essay des emeritierten Princeton-Philosophieprofessors Harry G. Frankfurt mit dem Titel On Bullshit (frei übersetzt nach Robert Gernhardt: Vom Scheiß der Zeit), dessen Kernthese die taz so zusammenfaßte: Eine »der hervorstechendsten Eigenschaften unserer Kultur« sei: »das Blödsinnquatschen, das Rumpalavern, das Heiße-Luft-Produzieren – oder schlicht ›bullshitting‹, wie man es so schön prägnant im Englischen ausdrückt«.