Читать книгу Das bunte Leben eines einfachen Seemanns - Jürgen Ruszkowski (Hrsg.) - Страница 5

Оглавление

Schiffsjungenschule Priwall

Vorher war da aber noch eine Voraussetzung zu erfüllen, die mir meine Mutter schnellstens erklärte: Bevor man eine Ausbildung zum Matrosen machen konnte, musste man zu damaliger Zeit erst einmal auf eine Schiffsjungenschule. Eine solche befand sich in Lübeck-Travemünde auf dem Priwall.

Mit den Formalitäten der Anmeldung hatte ich nichts zu tun. Ich weiß nur noch, dass ich am 15. April 1957 mitsamt Seesack per Bahn nach Travemünde fuhr, mit der Fähre zum Priwall übersetzte und nachmittags wohlbehalten in der Schiffsjungenschule eintraf.

Hier merkte ich schnell, dass ich nicht der Einzige war, der den Lehrgang zu absolvieren hatte. Mit mir standen etwa 60 andere junge Leute in der Begrüßungshalle.

Nach einer kurzen Ansprache durch den Lehrgangsleiter, einem Kapitän Krieger, wurden uns allen die Zimmer zugewiesen, wo wir die nächsten drei Monate nächtigen sollten.

Die Zimmer waren mit jeweils drei Doppelstockbetten, einem Tisch, Stühlen in der Mitte sowie sechs Holzspinden ausgestattet, in die jetzt jeder von uns Ankömmlingen seine mitgebrachten Sachen einräumte.

Dann ging es zum Essen. In einem riesengroßen Speiseraum wurde aufgetischt. Mit uns Neuen waren noch etwa 60 andere Teilnehmer anwesend. Sie hatten inzwischen die Hälfte des Lehrgangs absolviert und trugen eine Arbeitskleidung, mit der wir erst noch ausgestattet werden sollten, was auch am Nachmittag geschah.

Der angebrochene Nachmittag und der Abend standen zu unserer freien Verfügung, was damit genutzt wurde, uns richtig miteinander bekannt zu machen und das Haus näher kennen zu lernen.

Am nächsten Tag erfolgte schon am Morgen der erste Schreck: Schon um 6:00 Uhr wurden wir mit dem jetzt bekannten Türenaufreißen und Schreien „Reise, Reise, raus aus der Scheiße“ geweckt. Ein zeitlich limitiertes Waschen und Anziehen folgte. Danach war im Flur eine Paradeaufstellung einzunehmen, und es wurde abgezählt, was wir, die neu waren, aber noch gehörig lernen mussten.

Dann wurde die Planung für den Tagesablauf bekannt gegeben. Diese ganze Routine sollte sich in den nächsten drei Monaten fast täglich wiederholen. Im Sommer erfolgte das Antreten aber des Öfteren draußen, auf so einer Art Kasernenhof. In den nächsten Tagen wurden wir systematisch ausgebildet.

Nach dem morgendlichen Frühstück von 7:00 Uhr bis 7:30 Uhr fand ein regelrechter Unterricht bei verschiedenen Lehrern statt, die alle Kapitäne waren.

Theoretischer Unterricht und praktische Ausbildung wurden meist gesplittet, so dass wir nicht den ganzen Tag auf unserm Hintern sitzen mussten.

An die Theorie kann ich mich gar nicht mehr so recht erinnern, die Praxis war sowieso für alle viel interessanter. Es wurde im Freien die Bearbeitung von Tauwerk geübt, das Spleißen und die ganze Knotentechnik. An dicht beistehenden Davids hingen zwei Rettungsboote, die immer wieder zu Übungen ins Wasser gelassen wurden, um das Rudern und auch das Wriggen zu üben. Beim gemeinsamen Rudern kam es in erster Linie auf die strikte Befolgung der Kommandos an, was uns sichtlich schwer fiel.

Das Mittagessen wurde immer gemeinsam im Speisesaal eingenommen. Es summte dann dort wie in einem Bienenkorb. Wir saßen alle auf langen Bänken und schielten gelegentlich zu unseren Ausbildern, die natürlich getrennt von uns, an normalen Tischen und auf Stühlen saßen.

So gegen 16:00 Uhr war Feierabend, dann wuschen wir uns und zogen unsere Freizeitkleidung an. Die Zimmer wurden gereinigt, die schon morgens gebauten Betten noch einmal geprüft und auch der Schrankinhalt noch einmal gerade gezupft, denn gegen 17.30 Uhr war jeden Werktag immer ein bedeutsamer Zeitpunkt: Ein Oberbootsmann kam ohne Anklopfen ins Zimmer. Jeder sprang sofort hoch und nahm Hab-Acht-Stellung ein. Der für jedes Zimmer gewählte Zimmersprecher machte Meldung wie beim Militär und der Oberbootsmann begutachtete nach Lust und Laune einige Spinde von innen oder bemängelte die Glätte eines Bettbezuges oder Ähnliches. Danach zog er wieder ab, und wir atmeten tief durch.

Die ersten 14 Tage waren angefüllt mit neuen Eindrücken. Mit einem Ausgang war in dieser Zeit nicht zu rechnen. Neidvoll hatten wir schon immer die betrachtet, die an Wochenenden von den Ausgängen zurückkehrten. Allerdings war immer abends 22:00 Uhr Zapfenstreich, es sei, sie hatten, wie auch wir später, eine „Landgangsbescheinigung“ für eine Heimfahrt, diese galt dann von Samstag Mittag bis zum Sonntag Abend, natürlich spätestens 22:00 Uhr.

Nach 14 Tagen wurden wir mit der „Landgangsuniform“ eingekleidet, eine uns damals unheimlich störende Kluft, dunkelblaue Hose mit Schlag und vorne mit der Klappe, einem blauen Hemd, was immer schön gebügelt sein musste, einem dunkelblauen Schlips, einem Kolani, einer joppenähnlichen Uniformjacke mit einem Ärmelstreifen, der uns sofort als Lehrgangsteilnehmer auf dem Priwall erkennbar machte, dazu ein dunkelblaues Schiffchen, deren Sitz auf dem Kopf genau vorgeschrieben war.

Nach 14 Tagen kam die Regelung, dass man bei „Landgang“ jeden Vorgesetzten, den man auf der Straße außerhalb der Schiffsjungenschule traf, durch Stehenbleiben und Handanlegen an das Schiffchen grüßen musste. Eine für uns abscheuliche Angelegenheit, der wir uns oftmals durch einen Bürgersteigwechsel zur anderen Straßenseite zu entziehen versuchten.

Wer nun gedacht hatte, samstags wäre allgemeines Abrauschen in die Freiheit, dem wurde erst einmal eine immer am Samstag stattfindende Hürde in den Weg gelegt, bei der wir das erste Mal fast alle stolperten.

Um 14:00 Uhr wurde vor dem geplanten Landgang draußen allgemeines Antreten angeordnet. Der Oberausbilder schritt nun die Reihen ab und begutachtete jeden von uns, und - oh Schreck -, er hatte fast bei jedem etwas auszusetzen, sei es, dass etwas mit dem Hemd nicht stimmte, das Schiffchen nicht richtig saß, die Schuhe nicht gut genug geputzt waren, die Fingernägel zu lang waren - oder man eben nur aus dem Mund roch.

Für die Beseitigung der Mängel gab es jetzt eine Frist von fünfzehn Minuten, dann musste man wieder zurück sein, und es wurde noch einmal geprüft, und wehe, es war nicht so, wie der Ausbilder es sich vorstellte: Abmarsch auf die Bude, Kleidung wechseln und Strafwache schieben. Und es waren schon einige dabei, die das erste Wochenende auf dem Schulgelände bleiben mussten, ich war dabei.

Als zusätzliche Strafe musste ich damals Wache gehen, d. h. die ganze Nacht im Zwei-Stunden-Rhythmus in einer Wachuniform am Zaun der gesamten Anlage entlanggehen, ausgerüstet mit einer Taschenlampe, sonst nichts.

Für dieses Privileg, für die Sicherheit zu sorgen, bekam ich die Erlaubnis, am Sonntag nach dem Frühstück in meinem Bett liegen zu dürfen, aber auch nur bis zum Mittag. – Toll!

Schon das nächste Landgangsvorhaben glückte. Geschniegelt wie ein Zirkusbär, verließ ich zusammen mit einem Kollegen, der schon länger da war, die Anlage. Dicht bei der gegenüber Travemünde liegenden „PASSAT“ (die dort noch immer liegt), setzten wir mit einer kleinen Fähre über die Trave.

Der Kollege war aus Travemünde. Er nahm mich mit zu sich nach Hause, wo wir uns beide der Uniform entledigten. Von ihm bekam ich dann passendes anderes Zeug. So ging das also, schade dass der Kamerad schon bald seine drei Monate um hatte.

Jetzt war der Weg frei für „Abenteuer“ in der Freiheit, wie wir damals irrtümlich glaubten. Ausgelassen genossen wir diese paar Stunden außerhalb der Ausbildungsstätte. Mit 17 blickte man ja auch schon mal den jungen Mädchen hinterher. Oft genug beschränkte es sich - gegenüber heute - jedoch auf heiße Blicke. Jeder in meinem Alter weiß, dass schon eine zufällige Berührung mit dem anderen Geschlecht damals schon etwas Besonderes war, über das man sich freute, und wovon man eventuell noch abends im Bett träumte.

Die Tage liefen aufgrund aller neuen Erfahrungen nur so dahin. Sämtliche „Schikanen“, denen wir unserer Meinung nach ausgesetzt waren, waren immer schnell vergessen. Nach der Hälfte der drei Monate bekamen wir neue Gesichter zu sehen, denen wir Neuigkeiten sowie Besonderheiten, die uns am Anfang weisgemacht wurden, mitteilten. Es waren eigentlich schöne Tage, wenngleich ich nach heutigem Maßstab meine, nicht viel in den drei Monaten gelernt zu haben.

An eines, was mir vermittelt und von den Ausbildern als besonders wichtig empfunden wurde, werde ich mich aber wohl immer erinnern. Es betraf die Nichtsteuerungsfähigkeit eines Schiffes auf hoher See, doch davon später mehr. Glück hatte ich offenbar mit den Wetterverhältnissen. Bei Besuchen von ehemaligen Auszubildenden hörte ich, dass es hier im Winter ganz schön hart zugehen würde, so beispielsweise mit Appellen nachts um 3:00 Uhr draußen im Schlafanzug.

Eine allgemein unbeliebte Strafmaßnahme habe ich allerdings nie vergessen. Es war bei einigen Ausbildern so Sitte, eine Bestrafung auszuwählen, die ich später bei der Seefahrt von vielen bestätigt bekommen habe. Hatte man bei bestimmten Ausbildern schlechte Karten, der Ausgang war schon gestrichen, die Wachen besetzt, wurde man in einer Gruppe von sechs bis acht Mann am Samstag genau um die Zeit auf den Vorplatz bestellt, an dem auch die landgangswürdigen Kadetten das Haus verließen. Ausgestattet mit Spitzhacke, Vorschlaghammer und Schubkarre durften die Bestraften nun die Betonplatten, die wohl von einem ehemaligen Flugplatz stammten, zertrümmern und mittels Karre ca. 30 Meter weiter zu einem Berg aufschütten. Eine - gerade bei schönem Wetter - erquickende Arbeit, die immer wieder viel Hohn und Spott ernten ließ. Man erzählte sich, der Oberausbilder wolle hier, wenn die Steine entfernt seien, einen Gemüsegarten anlegen.

Es gab aber auch andere Teilnehmer der Maßnahme, die noch Jahre später behaupteten, ihre Bestrafung hätte darin bestanden, am Rande der befestigten Betonfläche viele Aufhäufungen von zertrümmertem Beton mittels Schaufel und Schubkarre zur Auffüllung freigemachter Flächen innerhalb der Betonwüste zu verbringen. Und dies schien mir glaubhaft.


Der Eintrag im später erstellten Seefahrtsbuch ist die einzige sichtbare Erinnerung an die Tage auf dem Priwall.

Was sind schon drei Monate am Beginn eines jungen Lebens? Diese 90 Tage, an die ich mich heute immer noch gerne erinnere, gingen eben auch vorbei. Mit einem Zeugnis und ziemlich viel Bla Bla wurden damals mit mir 60 junge Männer verabschiedet und mit den besten Wünschen für die „Eroberung“ der Meere entlassen.

Mit dem Zug ging es dann nach Lübeck zu meiner Mutter. Die Uniform konnten wir behalten, sie hing noch Jahre später im Kleiderschrank meiner Mutter und wurde nie mehr benutzt.

Schade nur, dass kein Bild meine Männlichkeit in Uniform bestätigt. Nicht gerade mit Stolz, aber mit einiger Portion Erinnerungswert würde ich es heute wohl gerne betrachten.

Endlich wieder zu Hause, sprach meine Mutter schon gleich von dem nun beginnenden Ernst des Lebens und von der Heuerstelle in Hamburg, von der sie anscheinend mehr wusste als ich.


Das bunte Leben eines einfachen Seemanns

Подняться наверх