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Ein Dorf im Münsterland

Der kleine blonde Junge mit den blauen Augen ist der Star. Im Kindergarten, bei den Erzieherinnen. Und zuhause im Kreuzweg 22. Ist er wieder mal aus der Reihe getanzt, hat er den kleinen Plastikball ins Blumenbeet gekickt – ein Augenzwinkern, ein verzagtes schelmisches Lächeln genügen zumeist, um ungeschoren davonzukommen. Keine Frage, der kleine Rauscheengel namens Herbert ist Mamas Liebling. Er darf sich oft ein bisschen mehr erlauben als die anderen. Und die anderen sind viele. Herbert ist das zweitjüngste von insgesamt neun Kindern. Die anderen, das sind vier Jungen und vier Mädchen, die sich jeweils ein Schlafzimmer teilen.

Vater Franz verdient sein Geld als Anstreicher auf der Zeche Graf Moltke in Gladbeck. Es reicht gerade so, um alle durchzubringen. Große Sprünge sind nicht drin. Doch ist einmal Not am Mann, kann man sich aufeinander verlassen in Heiden. Verwandte und Nachbarn reichen einander die helfende Hand. Und auf den Bauernhöfen ringsherum werden immer Arbeitskräfte gesucht.

Das Leben hat seine feste Ordnung hier im westlichen Münsterland. Das ist schon im März 1948 so, als Herbert im Kreuzweg das Licht der Welt erblickt. Daran hat auch der Krieg nichts geändert. Im Gegenteil. Hier in der Wald- und Wiesenlandschaft der Hohen Mark scheint die Zeit stehen geblieben. Rote Backsteinhäuser reihen sich aneinander, auf den Straßen spielen Kinder. Autos sind selten in den Nachkriegsjahren. Taktgeber im Gemeindeleben ist der Glockenschlag der Kirche. Und taktlos ist, wer sich nicht danach richtet.

Sonntags ist Gottesdienst. Und viele gehen hin. Vier von fünf Heidenern sind Katholiken. Immer schon. Oder besser, seit langer Zeit. Glaubt man nämlich der Sage, so hatte der heilige Ludgerus ausgerechnet in diesem Ort besondere Widerstände zu überwinden, um die Bewohner zum Christentum zu bekehren. Für seine Bemühungen erntete er anfänglich nur Hohn und Spott. Darüber erzürnt, verließ er das Dorf, als ihm am Himmel ein Engel erschien. Der bat ihn, noch einmal umzukehren, um einen letzten Versuch zu machen. Und siehe da, das Volk glaubte den Worten des Heiligen und ließ sich taufen. Beim Abschied aber rächte sich der heilige Ludgerus dann doch noch für die lange Verweigerungshaltung und verlieh dem Ort den Namen „Heiden“.

Sage hin oder her, der kleine Herbert lässt sich nicht lange bitten. An der Hand von Mama oder Papa führt auch sein Weg schon früh ins Gotteshaus. Seine Kindheit verläuft in festen Bahnen. Für ihn aber scheint sie voller Freiräume und Entfaltungsmöglichkeiten. Aus der Ordnung auszubrechen, seinen eigenen Weg zu gehen, das erlaubt ihm der Fußball.

Im Sommer 1954, kurz vor seiner Einschulung, schwimmt das ganze Dorf auf der nationalen Euphoriewelle. Der WM-Sieg der deutschen Mannschaft in der Schweiz ist für den Sechsjährigen eine Initialzündung. Gesehen hat er nichts von den Walters, Morlocks und Rahns – im Hause gab es noch keinen Fernseher. Aber Fetzen von Radioreportagen und Stimmungsbilder im Dorf prägen sich tief ein in seinem kleinen Kopf.

Den Ball am Fuß zu haben, zu dribbeln und zu schießen, wird eine frühe Besessenheit. Egal wo, egal wie. Ist die Schule vorbei, ist Herbert am Kicken. Hinterm Haus im Garten, auf dem Bolzplatz um die Ecke und später auf dem holprigen Rasenplatz an der Marienschule. Die sportliche Bewegung wird sein Lebenselixier. Wenn keiner mitkickt, schnappt er sich Familienhund Bubi, einen kleinen Spitz, rennt aus dem Haus raus, die Straße entlang, in die „Uhle“, ein kleines Waldstück, bis zur Kapelle und wieder zurück. Auch im Tischtennis zeigt er Eifer und Talent. Im Garten versammeln sich nicht selten bis zu 20 Kinder aus der Nachbarschaft. An der Platte werden ganze Nachmittage lang Turniere ausgespielt. Maria Lütkebohmert hat es gern, ihre Kinder in der Nähe des eigenen Hauses zu wissen. Also kommen die anderen her. Zu hungern braucht keiner. Zwischendurch reicht sie „Knifften“ mit Butter und Rübensirup durchs geöffnete Fenster.


Blonder Lausbub: Aki Lütkebohmert im Kindergarten. Auf der Bank ist er der Zweite von links.


Der neue Trainings anzug: Aki Lütkebohmert mit Vater Franz 1960 in Heiden.

Auch in der Schule macht sich Herbert sportlich nützlich. Dreimal hilft er bei Leichtathletikmeisterschaften, den Siegesbanner des Kreises Borken zu erringen. Nach acht Jahren Volksschule allerdings hat sich sein Sitzfleisch verbraucht. 1962 beginnt er im benachbarten Borken eine Lehre zum Verwaltungsangestellten bei der Kreishandwerkerschaft. Vermittelt wird ihm die Lehrstelle vom Vorstand des TuS Borken. Dort ist man auf den kleinen, feinen Techniker aufmerksam geworden, weil der, im Trikot von Viktoria Heiden, den TuS-Nachwuchs regelmäßig schwindelig gespielt hat. Jetzt, mit 14, muss Herbert auch öfter nach Kaiserau gebracht werden, zu Lehrgängen des westfälischen Fußballverbandes.

Zuhause hat seine Mutter längst den Tagesablauf nach ihm ausgerichtet. Kommt er mit dem Fahrrad von der Arbeit nach Hause, wartet sie mit dem Essen auf ihn. Häufig serviert sie ihm sein Lieblingsmahl, Grünkohl mit Mettwurst. Vor Spielen kocht sie eine leichte Suppe, damit der Junge nichts Schweres im Magen hat. Seine Schwestern Marlies und Luzie putzen ihm die Fußballschuhe.

Im Kreuzweg ist man stolz auf Herbert. Doch was heißt hier Herbert. Seit dem letzten Jahr auf der Volksschule nennen ihn seine Freunde nur noch „Aki“. Dabei hat er sich den Namen selbst gegeben. Beim Kicken auf dem Bolzplatz haben sich alle mit dem Namen eines aktuell bekannten Fußballspielers versorgt. Herbert Lütkebohmert hat sich den des Dortmunder Mittelfeldstrategen Aki Schmidt geliehen. Dass der Namensgeber ausgerechnet ein Schwarz-Gelber war, wen kümmert’s.

Mit 16 ist Aki Lütkebohmert in den Fokus von Jugend-Nationaltrainer Dettmar Cramer gerückt. In Lünen soll der Junge aus Heiden sein Debüt im Nationaldress geben – gegen Irland. Der Termin steht seit drei Wochen fest. Obwohl die Anspannung bei ihm von Tag zu Tag steigt, lässt er sich nichts anmerken. Bloß keine Gefühle zeigen, am besten gar nicht drüber reden. So ist er erzogen worden. So haben es ihm Eltern und Geschwister vorgelebt. Allein mit seiner ein Jahr älteren Schwester Luzie tauscht er sich hin und wieder mal aus.

Als der große Tag gekommen ist, darf Aki schon frühzeitig seinen Arbeitsplatz bei der Kreishandwerkerschaft verlassen. Sein Chef, ein Rechtsanwalt, hat Verständnis für Akis Leidenschaft. Wann immer er kann, drückt er ein Auge zu. Wenn’s sein muss, auch mal zwei. Zuhause im Kreuzweg ist alles vorbereitet. Die Suppe steht auf dem Tisch, die Sporttasche mit den geputzten Fußballschuhen griffbereit im Hausflur. Fehlt nur noch jemand, der ihn abholt und nach Lünen fährt. Seine Eltern haben keinen Führerschein. Aki ist auf fremde Hilfe angewiesen. Und die sollte eigentlich von seinem Verein aus Borken kommen. Allein, sie kommt nicht.

Zwei Stunden noch bis zum Anpfiff. Jetzt kann nur noch Werner Maas helfen. Der Nachbar, Vorstandsmitglied von Viktoria, ist schon häufiger eingesprungen. Als Aki verlegen bei ihm an der Haustür klingelt, hat er schon den Autoschlüssel in der Hand, bevor der Junge seine Leidensgeschichte zu Ende erzählt hat. Mit quietschenden Reifen jagt der VW-Käfer vom Hof. Auf dem Beifahrersitz: Akis Vater, der soeben von der Arbeit zurückgekommen ist. Eine halbe Stunde vor Spielbeginn treffen die drei in Lünen ein. Dettmar Cramer ist außer sich. Leidtragender ist ausgerechnet Werner Maas, dem der DFB-Trainer vorhält, viel zu spät losgefahren zu sein. Alle Erklärungsversuche sind zum Scheitern verurteilt. Cramer ist nicht zu beruhigen.

Erst nach dem Spiel dringt die ganze Wahrheit in sein Bewusstsein. Er entschuldigt sich bei Maas und lädt den Nachbarn und Akis Vater zum gemeinsamen Essen mit der Mannschaft ein. Mit der Leistung des Zuspätgekommenen ist Cramer hochzufrieden. Beim 1:1 gegen die Iren hat Aki ein starkes Spiel gemacht. Von der suboptimalen Vorbereitung keine Spur.

1966 tritt Nachbar Maas ein zweites Mal als Heilsbringer auf den Plan. Seit Wochen hat Aki ein Angebot vom Regionalligisten TSV Marl-Hüls vorliegen. Er ist 18, dem Fußballjugendalter entwachsen. In Marl soll er zum Probetraining erscheinen. Bestätigt er die guten Eindrücke, könnte er seinen ersten Profivertrag unterschreiben. In der zweithöchsten Spielklasse. Es gibt schlechtere Karrieresprungbretter für einen Jungen vom Dorf. Doch Aki zögert. Die Aussicht, von zuhause wegzugehen, erscheint ihm wenig verlockend. Andererseits: Ewig in der Verwaltung arbeiten, sein Talent vergeuden, das ihm alle bescheinigen, darunter selbst die lokale Tageszeitung, die schon mehrfach über ihn berichtet hat – nein, das kann es auch nicht sein. Aki verdrängt die Gewissensfrage, zögert die Entscheidung hinaus, bis es nicht mehr geht.

Am Tag, als die Wechselfrist abläuft, schellt im Büro von Werner Maas bei den Chemischen Werken in Marl-Hüls das Telefon. Es ist seine Frau, die ihm berichtet, der Aki stehe vor der Tür und wolle jetzt doch wechseln. Wieder reagiert Maas prompt. Der Geschäftsführer des TSV Günter Schumacher ist sein Arbeitskollege. Für den Abend wird das Probetraining vereinbart. Nach dem Duschen unterschreibt Aki den vorbereiteten Zweijahresvertrag.

Gleich in seiner ersten Saison prägt er das Spiel des Regionalligisten. An der Seite von Hermann Erlhoff, der 1967 zu Schalke wechselt. Es sind zwei Faktoren, die ihm den Einstieg erleichtern. Aki kann sich voll und ganz auf seinen geliebten Fußball konzentrieren. Auch die Fahrerei ist geregelt. Mit 18 hat er seinen Führerschein gemacht, ist stolzer Besitzer eines Käfers. Und er hat einen Vertrauten an seiner Seite. Manfred Krause, einer seiner besten Freunde und Mitspieler aus Borkener Jugendzeiten, spielt ebenfalls beim TSV.

In der zweiten Saison steht der Name Lütkebohmert bereits auf der Wunschliste einiger Bundesligisten. Werder Bremen mit Schalkes Ex-Trainer Langner, 1860 München, der 1. FC Kaiserslautern. Sie alle schicken ihre Späher nach Marl-Hüls. Hartnäckigster Werber um die Gunst des 20-Jährigen aber ist ein Nachbarklub. Dessen Präsident höchstpersönlich wird in der Saison 1967/68 gleich mehrfach auf der Tribüne des Jahnstadions gesichtet. Der Mann bescheinigt sich selbst ein Diamantenauge und meint damit seinen geschärften Blick für Talente der Region. Es ist nicht der einzige Vorzug, den Günter Siebert in die Waagschale werfen kann.

Der junge Schalke-Boss kommt mit der persönlichen Empfehlung von Heinz van Haaren, der einst selbst beim TSV gespielt hat und jetzt seine Kontakte spielen lässt. Siebert vermittelt dem noch Unentschlossenen mit leidenschaftlichen Worten seine Pläne. Aki soll ein Herzstück des Schalker Mittelfelds werden, mithelfen, den Verein wieder dort hinzuführen, wo er nach Meinung seines Präsidenten hingehört.

Sieberts drittes Argument enthält weniger Überzeugungskraft. 1.200 Mark Grundgehalt und 15.000 Mark Handgeld versprechen keinen akuten Reichtum. Aki befindet sich in echter Entscheidungsnot, berät sich mit Schwester Luzie, die bereits seit zwei Jahren in Gelsenkirchen lebt und glühender Schalke-Fan ist. Bremen, München, Kaiserslautern? Weg von Heiden, weg vom Kreuzweg, weg von Familie und Freunden? Nein, eigentlich ist es gar keine schwere Entscheidung. Das Ausschlussverfahren nach dem Motto „Was geht gar nicht?“ lässt ihm nur eine Option. Es muss Schalke sein. Die zwei Jahre in Marl-Hüls haben ihm gezeigt, dass er am besten ist, wenn er Kraft aus seinen Wurzeln saugen kann. Die zu kappen, unvorstellbar.

Am 2. Mai 1968 sitzen Günter Siebert und Heinz Aldenhoven in der Geschäftsstelle unter der Tribüne der Glückauf-Kampfbahn vier Männer aus Heiden gegenüber: Werner Maas, Ernst Heiming, Geschäftsführer von Viktoria Heiden, Franz Lütkebohmert und sein Sohn Herbert. Das Vertragsgespräch dauert gerade mal 15 Minuten.

Für Aki ist die Entscheidung Herzensangelegenheit und Glaubensfrage zugleich. Geholfen hat ihm dabei der heilige Christophorus, sein Talisman, an einer Halskette baumelnd. Ein Geschenk seiner Eltern zur Kommunion. Im Lexikon hat er seinerzeit die überlieferte Bedeutung des Christophorus nachgelesen, erfahren, dass dieser das Jesuskind auf Schultern über einen reißenden Fluss getragen haben soll und als Schutzpatron aller Autofahrer gilt. Seitdem er selbst am Steuer sitzt, bekreuzigt sich Aki an jedem Kruzifix am Straßenrand.

Jetzt, wo er nach Schalke wechselt, wird er die schützende Hand von oben noch häufiger brauchen. Hier, in gewohnter Umgebung, in Autonähe des Elternhauses, das spürt er, werden sie ihm helfen, die christlichen Regeln. Die in all den Gottesdiensten gepredigten Werte sind fest verankert in seinem Leben. Geradezu wie Leitplanken, die rechts und links des Weges Schutz bieten und zwischen denen sich mit überschaubarem Risiko ordentlich vorankommen lässt. Begriffe wie Himmel und Hölle, Sünde und Buße sind für ihn keine leeren Worthülsen. Sie bestimmen schon früh sein Denken und Tun. Dass er bald zum überzeugten Wähler der Christlich-Demokratischen Union wird – wie die meisten Heidener –, für ihn hat es vornehmlich mit dem ersten Wort im Parteinamen zu tun.

Aufeinander Rücksicht nehmen, einander helfen, sich um den Nächsten kümmern, all das sind längst bewährte Verhaltensmuster für ihn. Die Überschaubarkeit der dörflichen, kleinbürgerlichen Welt verleiht ihm Sicherheit. Die gewohnte Enge gibt ihm Halt und Orientierung. Ein Leben lang.

Helden für einen Sommer

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