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Aufbau West

Als Siebert 1966 das Amt des Vizepräsidenten bekleidet, hat sich Schalke mal wieder soeben gerettet. Am drittletzten Spieltag, in sengender Hitze, mit einem 2:0-Heimsieg im Abstiegsendspiel gegen Borussia Neunkirchen. Nach dem Schlusspfiff stürmen 38.000 in der überfüllten Glückauf-Kampfbahn den Rasen, reißen den Spielern die Trikots vom Leib, feiern den Klassenerhalt wie die achte Deutsche Meisterschaft. In allen Gelsenkirchener Kneipen wird die Polizeistunde aufgehoben.

Einer der besten Spieler auf dem Platz und in dieser, seiner ersten Bundesligasaison ist Klaus Fichtel. Ein Jahr zuvor hat ihn Schalkes Trainer Fritz Langner von Arminia Ickern geholt. Fichtel kommt aus einer Fußballerfamilie. Sein Vater spielte noch mit 37 in der Gauliga. Sein Bruder ist Vertragsspieler bei Westfalia Herne. Wie sein Vater hat Klaus Fichtel Bergmann gelernt, auf Zeche Viktoria III/IV seine Knappen-Prüfung bestanden, auf Ickern I/II seine Kohlen gebrochen. Ein ganzes Jahr lang arbeitete er unter Tage. Er verkörpert damit eine aussterbende Spezies beim Kohle- und Knappen-Klub. Schon bald wird er der letzte S04-Profi mit Flöz-Erfahrung sein.

In seiner ersten Saison überzeugt der 21-Jährige als Manndecker neben Alfred Pyka. Er brilliert technisch und strahlt mit jungen Jahren eine dermaßen große Ruhe aus, dass Helmut Schön ernsthaft erwägt, ihn für die anstehende WM in England zu nominieren. Langner, wegen seines knochenharten Trainings und seiner leidenschaftlich vorgetragenen Kriegserlebnisse auch „General Fritz“ genannt, interveniert. Fichtel muss bis Februar 1967 auf sein erstes Länderspiel warten. Das Spiel gegen Neunkirchen wird er später als das emotionalste seiner ganzen Karriere bezeichnen. Und in der hat er am Ende immerhin 552 Bundesligaspiele bestritten.

Im Überschwang der Rettungsgefühle lässt sich Präsident Szepan an diesem 14. Mai 1966 zu einer Aussage verleiten, die ein Jahr später ebenfalls dazu beitragen wird, dass das königsblaue Volk Günter Siebert wie einen Messias empfängt. „In der vierten Bundesligasaison werden wir nicht mehr zu zittern brauchen, sondern andere Mannschaften zum Zittern bringen, die heute noch nicht daran denken!“

Die Wahrheit liegt im Fußball allerdings schon seit jeher auf dem Platz. Und so ist es dumm für Szepan und alle gutgläubigen Schalke-Fans, dass sich Geschichte wiederholt. Fast auf den Tag genau ein Jahr später, am 20. Mai 1967, bedarf es wieder am 32. Spieltag eines glücklichen Heimsiegs, um die Rettungsparty zu starten. Manni Kreuz und Willi Kraus drehen einen 0:1-Pausenrückstand gegen Fortuna Düsseldorf in einen 2:1-Erfolg. Wieder feiern die Fans den Klassenerhalt euphorisch.

Obwohl an diesem Tag Josef Elting noch mal den Schalker Kasten hüten darf, hat ihn ein 18-jähriger „Überflieger“ längst verdrängt. Norbert Nigbur, in der frühen Jugend bei Heßler 06 noch Mittelstürmer, gilt längst als herausragendes deutsches Torwarttalent. Viele wissen es, nur seine Eltern nicht.

Der junge Norbert spielt sonntagmorgens erst Hallenhandball, beim DJK Heßler, anschließend schnürt er beim SV 06 die Fußballschuhe. Weil die Eltern glauben sollen, der Sohnemann wohne dem katholischen Gottesdienst bei, wird stets ein Kumpel aus der Siedlung abgestellt, der die Kirche besucht und den Inhalt der Predigt rezitiert. Für den Fall, dass die Eltern mal misstrauisch werden und fragen.

Sie fragen selten. Nur so ist es zu erklären, dass ihnen Norberts steiler Aufstieg völlig entgeht. Bis er mit 14 eine Einladung zum Schüler-Länderspiel gegen England in Heilbronn erhält. Mit in der Post: ein Paket mit einem schicken DFB-Ausgehanzug. Mutter Elfriedes Verwunderung ist echt: „Norbert, wo hast du diesen schönen Anzug her?“ „Mutter, ich fahre jetzt nach Heilbronn, da mache ich ein Länderspiel. Das kannst du dir im Fernsehen anschauen.“ „Junge, das glaube ich nicht!“

Muss sie aber. Am nächsten Tag staunen Elfriede und Ernst Nigbur nicht schlecht, als ihr Sohn katzengewandt den englischen Nachwuchs beinahe zur Verzweiflung bringt. Doch wieder daheim, ergeht es dem jungen Helden nicht anders als seinerzeit Günter Siebert nach dem heimlichen Ausflug nach Gelsenkirchen. Diesmal ist es der Vater, der zuschlägt. Norberts Onkel versteht die Welt nicht mehr. Er, der es in englischer Kriegsgefangenschaft selbst zum passablen Torhüter gebracht hat, fordert die Eltern auf, Norberts außergewöhnliches Talent zu fördern.

Spätestens im Mai 1966 lässt sich die Erfolgsgeschichte nicht mehr aufhalten. Die Steinstraße in Heßler ist an diesem Tag, kurz nach Nigburs 18. Geburtstag, überlaufen. Unten vor der Haustür haben sich Dutzende Autogrammjäger versammelt. Sie alle wissen, dass Fritz Szepan kommen wird, um mit Norbert Nigbur den Vertrag auszuhandeln. Norberts Schwestern konnten das Geheimnis nicht für sich behalten.

Die Verhandlung mit dem Präsidenten führt Ernst Nigbur, ein Bergmann, von Kindheit an Schalker. Lange ist er der Meinung gewesen, sein Sohn müsse etwas „Anständiges“ lernen. Jetzt, wo es anders gekommen ist, setzt er alles daran, Norbert eine sichere Lebensgrundlage zu ermöglichen. Am Ende des Gesprächs ist es ein Grundstück, ein Auto und ein ordentlicher Batzen Geld. Fritz Szepan verlässt die Wohnung in der Steinstraße, wie es sich für einen Schalke-Präsidenten gehört: blau und weiß. Leicht angeschickert von dem einen oder anderen Schnäpschen – fahl im Gesicht, weil der Neuzugang alles andere ist als ein Schnäppchen.

Gleich in seiner ersten Profisaison hütet Nigbur 28-mal das Schalker Tor. Weil Stammkeeper Elting in den ersten Spielen gleich mehrere Fehler macht, darf Nigbur am 3. September 1966 erstmals ran, gegen den Titelfavoriten 1. FC Nürnberg. Die Club-Stürmer Brungs, Wild und Volkert verzweifeln am glänzend aufgelegten Youngster im Schalker Tor. Die Gastgeber gewinnen 1:0. Am königsblauen Himmel ist ein neuer Stern aufgegangen.


Noch ohne wilde Koteletten: Norbert Nigbur zu Beginn seiner Karriere bei Schalke.

Das Training mit „General Fritz“ erweist sich für den hageren Nigbur als harte, aber karrierefördernde Schule. Langner lässt den vom Ehrgeiz Besessenen stundenlang am Pendel Bälle fangen und fausten. Beliebt sind auch des Trainers Sandkastenspiele. Nigbur, ohnehin bereits mit einer begnadeten Sprungkraft beschenkt, entwickelt eine geradezu innige Beziehung zum feinkörnigen Untergrund. Der abgesteckte Sandkasten ist für Langner ein idealer Kriegsschauplatz. Die Fronten sind klar abgesteckt – im Kampf Mann gegen Mann, besser, Mann gegen Männer. Es ist nämlich ein ungleicher Kampf. Unter Beschuss steht allein der 18-jährige Torwart im Sand. „Willensschulung“ nennt Langner seine Übung. Schalke-Fans am Rande des Trainingsgeschehens sprechen von Überlebenstraining. Aus kurzer Distanz zielen Kreuz, Kraus, Pyka und Pliska, Becher und Bechmann auf Kopf und Körper des im Sand Umherfliegenden. Nigbur ist nicht kleinzukriegen. Nach einer Viertelstunde glühen ihm die Hände. Doch während er signalisiert, dass er gerade so richtig Gefallen gefunden hat an der Übung, verlieren die anderen bald die Lust.

Später, im „Stübchen“ unter der Haupttribüne der Glückauf-Kampfbahn, genehmigt sich der Trainer schon mal das eine oder andere Gedeck, ein Pils und ein Korn. Wenn er so richtig in Fahrt ist, sucht er die Erhöhung. Auf dem Tisch stehend, lässt sich wunderbar vorführen, wie er einst an der Wolga die Handgranaten in die russischen Panzer geworfen hat. Beifall und Bewunderung der im dichten Zigarrenqualm gefesselten Zuhörerschaft sind ihm dabei stets sicher.

Als Günter Siebert vier Monate nach dem neuerlichen Klassenerhalt die Vereinsführung übernimmt, ist Langner bereits Geschichte am Schalker Markt. Sieberts Vorgänger Szepan hat ihm unter dem Drängen der jungen Opposition nach dem Saisonende den Laufpass gegeben. Zum Nachfolger macht Szepan den erst 33-jährigen Karl-Heinz Marotzke, der jüngste Fußballlehrer der Liga. Marotzke, zuvor zwei Jahre mehr oder minder erfolglos beim Nord-Regionalligisten VfL Osnabrück, glänzt bei seiner Vorstellung als geschliffener Redner und Theoretiker. In der Praxis aber ändert er wenig – an der unbefriedigenden sportlichen Situation beim Meister früherer Tage.

Trotz hoffnungsvoller Talente wie Fichtel und Nigbur dümpelt die Mannschaft bei Sieberts Amtsantritt am Tabellenende herum. Nach sieben Spielen hat sie 1:13 Punkte auf dem Konto. Hinzu kommen Schulden in Höhe von eineinhalb Millionen Mark. Wieder mal steht Schalke sportlich und wirtschaftlich am Abgrund.

Siebert will Besserung, sofort. Am Abend nach seiner Wahl fährt er mit Mannschaft und Trainer zur Vorbereitung auf das anstehende Bundesligaspiel in die Sportschule Kaiserau. Hier spricht der jüngste Präsident dem jüngsten Trainer das Vertrauen aus, knüpft es aber – typisch Siebert – an Bedingungen. Marotzke muss fortan zweimal täglich trainieren lassen.

Zwei Tage später erreicht der Tabellenletzte gegen den Tabellenführer 1. FC Nürnberg mit einem torlosen Unentschieden einen Achtungserfolg. Seit 631 Minuten ist die Mannschaft inzwischen ohne eigenes Tor. Es kommen noch 74 Minuten hinzu. In Duisburg gelingt Manfred Pohlschmidt der Ausgleich zum 1:1-Endstand. Auf den ersten Sieg müssen die Fans noch länger warten. Am zehnten Spieltag reicht es durch Tore von Willi Kraus und Hans-Jürgen Wittkamp gegen Aufsteiger Aachen zu einem dünnen 2:1.

Die Wende zum Guten ist das aber noch nicht. Nach drei weiteren Niederlagen in Folge wird es Siebert zu bunt. Längst hat er Kontakt aufgenommen zu Günther Brocker. Sein Kumpel und einstiger Spieler der 58er-Meistermannschaft steht nach seiner Entlassung bei Werder Bremen sofort zur Verfügung. Und, ebenso wichtig: Er kostet den klammen Klub keine zusätzliche Mark. Bisher hatte Schalke dem nach Bremen gewechselten Langner noch einen monatlichen Differenzbetrag seines Gehalts überweisen müssen. Auch Brocker war von Werder noch weiterbezahlt worden. Von nun an fallen die beiderseitigen Fortzahlungen weg.

Offiziell verkauft Siebert seinen Spezi Brocker als neuen Technischen Leiter. Schließlich muss auch Marotzke zunächst weiterbeschäftigt werden. Was eine kuriose Frühform des Jobsharing zur Folge hat. Brocker trainiert vormittags, Marotzke nachmittags. Womit Letzterer seiner Nebenbeschäftigung als Dozent an der Kölner Sporthochschule weiter nachgehen kann. Einfluss und Autorität Marotzkes schwinden erwartungsgemäß rapide. Brocker ist der neue starke Mann, zumal ihm der Erfolg bald Recht gibt. Zum Ende der Hinrunde verlässt die Mannschaft mit einer kleinen Serie von 7:1 Punkten erstmals die Abstiegsränge.

Zum Rückrundenauftakt in Mönchengladbach sitzt Brocker allein auf der Bank. Marotzke wird als Co-Trainer für gewisse Trainingseinheiten und -formen nur noch auf dem Übungsplatz gesichtet. Beim Tabellenzweiten auf dem Bökelberg setzen Brockers Jungs endlich mal ein richtiges Ausrufezeichen. Am Ende steht es nach je zwei Treffern von Hans-Jürgen Wittkamp und Manfred Pohlschmidt sowie einem von Hermann Erlhoff und Willi Kraus bei einem Gegentor von Günter Netzer 1:6.

Siebert eilt nach dem Abpfiff ob dieser an beste Schalker Tage erinnernden Darbietung mächtig euphorisiert von der Tribüne in die Kabine. Hier umarmt er jeden, den er greifen kann, und verkündet unter lautem Gejohle die Erhöhung der Siegprämie – von 1.000 auf 1.200 Mark. Kein gewöhnlicher Akt in diesen Tagen. Schließlich sind die Kassen nach wie vor beängstigend leer. Dass in der Winterpause die Eintrittspreise um zehn Prozent erhöht werden, darf der Verein offiziell aber zu Recht mit der Einführung der ebenso hohen Mehrwertsteuer begründen.

Unter Brocker stabilisiert sich die Mannschaft in der Rückrunde. Mit dem Abstieg hat sie bald nichts mehr zu tun. Sportliche Höchstleistungen – wie der 3:2-Sieg beim späteren Meister Nürnberg – gelingen aber nur noch selten. In der Abschlusstabelle 1967/68 taucht der Vereinsname erst an 15. Stelle auf.

Für den ehrgeizigen Präsidenten ist dies ein unhaltbarer Zustand. Inzwischen haben die Stadtoberen in Gelsenkirchen den Bau des Großstadions beschlossen. Jetzt wird und will Siebert sich an den beim Amtsantritt gemachten Versprechungen messen lassen. Hinter den Kulissen laufen die Vorbereitungen für eine bessere Zukunft bereits auf Hochtouren. Zugute kommt ihm dabei, dass Schalke-Intimus Dr. Hans-Georg König zum Stadtdirektor ernannt wird. Ein steiler Aufstieg für den SPD-Mann, der Jahre zuvor als Stadtkämmerer rechtskräftig verurteilt worden ist, weil er zugunsten von Schalke 04 Steuern hinterzogen hat. 1964 hat ihn der sportbegeisterte NRW-Innenminister und Parteifreund Willi Weyer wieder ins Amt gehoben.

Jetzt, vier Jahre später, ist König der oberste Mann der Stadt. Recht ist, was dem Verein nützt. Das war in Gelsenkirchen schon immer so. Für Günter Siebert ist es in jedem Fall ein glücklicher Umstand. Will er sportlich hoch hinaus, muss er die wirtschaftlichen Bedingungen verbessern. Das weiß der Kaufmann allzu gut. Ein Schulterschluss mit den politischen Richtungsweisern hat dabei noch nie geschadet.

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