Читать книгу Helden für einen Sommer - Jürgen Thiem - Страница 12
ОглавлениеWiedersehen mit Europa
Dank des Einzugs ins Pokalfinale, so viel stand vorher schon fest, reist Schalke erstmals seit zehn Jahren wieder durch Europa. Die Vorfreude auf die Saison ist groß, zumal der Präsident auf seinem Weg, eine große Mannschaft aufzubauen, wieder ein Stück weitergekommen ist. Mit Klaus Scheer, Rolf Rüssmann und Jürgen Sobieray hat Siebert drei Jugend-Nationalspieler verpflichtet. Die Verjüngungskur schreitet voran. Alle drei sind 18 Jahre alt und gelten bundesweit als echte Perspektivspieler. Klaus Scheer hat eigentlich eine Vorliebe für den 1. FC Köln. Wolfgang Overath ist sein Idol. In der westdeutschen Jugendauswahl spielt er mit Bernd Cullmann zusammen. Die Kölner signalisieren ihm früh ihr Interesse. Doch dann tritt Günter Siebert auf den Plan.
Nach einem Spiel der westdeutschen Auswahl gegen die Jugend-Nationalelf der CSSR in der Glückauf-Kampfbahn fragt Siebert Scheer, ob er sich einen Wechsel nach Schalke vorstellen könne. Es ist Oktober 1968 und noch eine Menge Zeit bis zur Wechselfrist im Mai. Siebert weiß um die Konkurrenz aus Köln und besucht Scheer in regelmäßigen Abständen zuhause in Siegen. Auch die Länderspiele des DFB-Nachwuchses lässt der Präsident nicht aus, um Scheer, aber auch Rüssmann und Sobieray seine Aufwartung zu machen. Der Blondschopf mit den markanten Schneidezähnen ist beeindruckt. Während sein Vater zuhause noch mit anderen Vereinen spricht, sagt er Siebert im April 1969 zu. Es ist vor allem die Perspektive, zu spielen, die ihn überzeugt. Beim FC in Köln am Gala-Mittelfeld Overath, Flohe und Simmet vorbeizudribbeln, das traut sich Scheer einfach nicht zu. Die Möglichkeit, mit dem ebenfalls aus Siegen stammenden Gerhard Neuser eine Fahrgemeinschaft bilden zu können, erleichtert ihm die Entscheidung zusätzlich.
Rolf Rüssmann wohnt und spielt in Schwelm, vor den Toren Dortmunds. Er liebäugelt mit einem Wechsel zur Borussia, hat dort bereits einen Vorvertrag unterschrieben. Doch auch ihn weiß Schalkes Präsident zu umgarnen und mit verheißungsvollen Worten umzustimmen. Rüssmann, Vorstopper mit zu diesem Zeitpunkt beschränkten fußballerischen Fähigkeiten, ist Feuer und Flamme für das Schalker Modellprojekt.
Die Verpflichtung von Jürgen Sobieray dagegen erweist sich als schwierigstes Unterfangen. Ausgerechnet Sobieray, der Junge aus dem Gelsenkirchener Stadtteil Resse, den viele als das größte Talent unter den drei Auswahlspielern betrachten. Der wichtigste Baustein im Entwurf des Architekten Siebert. Ausgerechnet hier gibt es Pfusch am Bau. Oskar, der Baumeister, ist einen Moment lang ratlos, als ihm Sobieray – trotz guter Vorgespräche – erklärt, er habe in Mönchengladbach unterschrieben. Doch Siebert wäre nicht Siebert, gäbe er den Kampf um den Rechtsverteidiger damit bereits auf. Er spricht eindringlich mit Sobieray, seinen Eltern und – noch wichtiger – mit Mönchengladbachs Trainer Hennes Weisweiler. Am Ende fließen 25.000 Mark Entschädigung in die Kasse des Bökelberg-Klubs.
Weil ihm die Geschichte nach dieser Erfahrung aber nicht mehr ganz geheuer ist, entschließt sich Siebert, seine drei frisch erworbenen Schätze nicht mehr aus den Augen zu lassen. Pfingsten reist er ihnen eigens zum UEFA-Jugend-Turnier in die DDR nach. An seiner Seite: Wachhund Ede Lichterfeld, Sieberts Mann für besondere Aufgaben.
Der Trabrenn-Fan ist in der Nähe der Glückauf-Kampfbahn aufgewachsen. Schalkes früheres Vorstandsmitglied Karl Stutte, ein Fleischwarenhändler, besorgte ihm eine Ausbildung. Lichterfeld verkaufte erst Kosmetikartikel, später Versicherungen. Siebert lernt er beim gemeinsamen Trainerlehrgang für den B-Schein kennen. Nach seinem Amtsantritt erinnert sich der Vereinschef an den gedrungenen Typen mit der hohen Stirn und installiert ihn als Assistent des Vorstands. Schnell wird der quirlige Mann ein Bindeglied zwischen Trainer, Mannschaft und Vorstand. Seine Zuverlässigkeit wird allseits geschätzt. Da ist man auch bereit, über seine mitunter archaischen Manieren hinwegzusehen.
In der DDR hat Lichterfeld die Aufgabe, etwaige Kontaktaufnahmen der drei Spieler mit anderen Klubs zu beobachten und gegebenenfalls zu unterbinden. Der Wachhund spurt. Dabei ist alle Aufregung umsonst. Die drei stehen zu ihrem Wort, bieten obendrein in den drei Spielen in Plauen, Zeitz und Altenburg allesamt gute Leistungen. Trainer der DFB-Auswahl ist ein gewisser Udo Lattek. Zu seinen Schützlingen zählen neben den Neu-Schalkern auch zwei Nachwuchsspieler von Bayern München: Uli Hoeneß und Paul Breitner.
Wenige Tage nach dem Turnier stellt Günter Siebert gemeinsam mit Trainer Gutendorf seine neuen Errungenschaften bei einer Podiumsdiskussion im Hans-Sachs-Haus vor. Sein Anspruch, die Nachwuchsarbeit unter kaufmännischen Gesichtspunkten zu professionalisieren, wird spätestens jetzt ernst genommen. Nicht nur im eigenen Lager. Sein Coup mit Rüssmann, Scheer und Sobieray verlangt auch der Bundesligakonkurrenz Respekt ab.
Dieser wäre wahrscheinlich deutlich geringer ausgefallen, hätten die anderen mitbekommen, wie es im Sommer 1969 um die Infrastruktur des vermeintlichen Talentschuppens bestellt ist. Zwar hat Siebert den Aufnahmestopp für Jugendliche abgeschafft, was die Nachwuchsabteilung binnen zwei Monaten von 300 auf 600 Spieler anwachsen lässt. Allein, es fehlen Instrumente und Personal, um den Andrang zu bewältigen. Weder gibt es genügend qualifizierte Jugendtrainer, noch verfügt der Verein über die angedachten Unterbringungs- und Verpflegungsmöglichkeiten für besondere Talente.
Wie sehr das Nachwuchsmodell noch in den Kinderschuhen steckt, bekommt Rolf Rüssmann am eigenen Leib zu spüren. Anfang Juli, am Tag seines Dienstantritts, soll er, so ist ihm von der Schalker Geschäftsstelle mitgeteilt worden, in Schwelm abgeholt werden. Der lange Rolf sitzt sprichwörtlich auf gepackten Koffern und wartet doch vergeblich. Er bittet den Wirt der Schwelmer Vereinsgaststätte, ihn zu fahren, was der auch bereitwillig tut. Doch an der Glückauf-Kampfbahn angekommen, das gleiche Bild: Keiner fühlt sich für den mit so viel Mühe nach Schalke geholten Jugendnationalspieler zuständig. Nach einer Stunde des – mit ersten Selbstzweifeln angefüllten – Wartens erbarmt sich Platzwart Ernst Kalwitzki, einst Mittelstürmer der großen Kreisel-Elf der dreißiger und vierziger Jahre. Er sieht den blonden Jungen auf seinem Gepäck sitzen und lässt über die Geschäftsstelle den Präsidenten höchstpersönlich rufen. Günter Siebert ist die ganze Sache peinlich. Was ihn freilich nicht daran hindert, den Neuzugang für die ersten zwei Nächte in einem seiner Getränkelager einzuquartieren. Ein Feldbett dient als Schlafstätte.
Klaus Scheer geht es zur gleichen Zeit nicht viel besser. Allerdings steht sein Feldbett in einer Essener Bundeswehrkaserne. Was den jungen Mann aus Siegen jedoch mehr beunruhigt, ist das Ergebnis seiner Sporttauglichkeitsprüfung. Dabei wird ein Herzfehler diagnostiziert. Der DFB verweigert ihm daraufhin die Lizenz.
Rudi Gutendorf nimmt sich des Mittelfeldspielers persönlich an, begleitet ihn von Arzt zu Arzt. Doch keiner traut sich, die Spielberechtigung zu erteilen, zumal auch Scheers EKG nicht in Ordnung ist. Erst als man ihm bei der Musterung zum Wehrdienst die Tauglichkeit für alle Waffengattungen bescheinigt, gibt auch Schalkes Vereinsarzt Dr. Braukmann grünes Licht. Scheer muss allerdings unterschreiben, dass er auf eigene Verantwortung spielt. Er debütiert am 4. Oktober 1969 als Einwechselspieler beim 0:0 gegen Duisburg, bringt es immerhin auf insgesamt 19 Einsätze in Bundesliga und Europacup. Die Sorgen um seine Gesundheit lassen ihn aber bis zum Saisonende nicht los.
Bei der Bundeswehr ist man aufgrund des ganzen Theaters um seine Lizenzerteilung misstrauisch geworden. Nach nur vier Monaten wird er offiziell wegen Rheumas vorzeitig entlassen. Kurz darauf klagt er über Herzrhythmusstörungen. Gutendorf und Siebert wollen Klarheit. Im Dezember 1969 wird in der Düsseldorfer Uniklinik eine Vernarbung am Herzmuskel entdeckt – die Folge häufiger Mandelentzündungen. Eine akute Gefährdung bestehe nicht mehr, bescheinigt ihm der behandelnde Professor. Scheer besteht alle Belastungstests und erhält die uneingeschränkte Spielgenehmigung.
Jürgen Sobieray muss noch etwas länger auf seinen Einstand warten. Am 25. Oktober wird er beim 0:3 in Berlin für Heinz van Haaren eingewechselt. Auch für ihn ist es eine Saison mit Anlaufschwierigkeiten. Gutendorf setzt ihn 17-mal ein.
Als Letzter des jungen Trios darf Rolf Rüssmann ran. Am 29. November kommt er im Spiel beim HSV 20 Minuten vor Schluss für Hansi Pirkner zum ersten Einsatz. Sein Gegenspieler ist kein Geringerer als Nationalmannschaftskapitän Uwe Seeler. Rüssmann weicht „Uns Uwe“ nicht von den Socken und hilft, aus einem 0:1-Rückstand noch ein 1:1 zu machen. Von da an ist er Stammspieler bei Gutendorf. Der hat anfänglich ob der überschaubaren Technik des Abwehrspielers häufig geschmunzelt. „Ich habe 20 Lizenzspieler und den Rüssmann“, diktiert er den Reportern nach ersten Trainingseindrücken in die Blöcke.
Doch dieser Rüssmann lässt nicht locker. Sein Ehrgeiz treibt ihn zu immer neuen Anstrengungen. Auf dem Trainingsplatz und daneben. Während die anderen bereits auf dem Weg unter die Dusche sind, schnappt sich Rüssmann mit hochrotem Kopf noch einmal den Ball, um ihn eine Viertelstunde lang wie besessen gegen die Schusswand zu treten. Gutendorf registriert den Eifer seines Schützlings – und dessen PR-Feldzug in eigener Sache. Betreuer Lichterfeld, Co-Trainer Cendic oder Präsident Siebert, ja selbst der eine oder andere Mitspieler wird „Rollis“ klagender Worte gewahr. Jeder solle bitte beim Trainer ein gutes Wort für ihn einlegen, damit er endlich spielen könne.
Selbst die erste Begegnung mit Uwe Seeler, dem Idol seiner Kindheit, nutzt Rüssmann. Nach dem Spiel erwischt er Seeler vorm Kabinengang, nicht nur, um ihn seiner Wertschätzung zu versichern. Es sei immer schon sein großer Traum gewesen, einmal in der Nationalmannschaft zu spielen, offenbart er dem staunenden Uwe. Ein Vortrag, den er bei jedem folgenden Treffen mit Seeler wiederholt. Zum Ziel führt es ihn – vorerst – nicht. Rüssmann muss noch sehr lange auf die Erfüllung seines Traums warten. Was allerdings andere Gründe hat.
Nach der sensationellen Rückrunde der Vorsaison sind die Erwartungen auf Schalke vor der Spielzeit 1969/70 enorm gestiegen. Günter Siebert schürt das Feuer, spricht offen von einem angestrebten Spitzenplatz. Auch Experten wie WDR-Hörfunk-Sportchef Kurt Brumme sehen Schalke unter den Titelaspiranten.
Zu Beginn sieht es so aus, als könne die Mannschaft dem Druck standhalten. Gleich zum Auftakt gelingt im Beisein von Bundespräsident Gustav Heinemann ein glanzvoller 2:0-Heimsieg gegen den späteren Meister Mönchengladbach. Nach neun Spieltagen ist die Mannschaft Dritter, hat nur einmal verloren. Am zweiten Spieltag in Frankfurt, wo sonst. Ein echtes Kuriosum. In den vorausgegangenen 33 Pflichtspielen unter Rudi Gutendorf gab es ganze drei Niederlagen, allesamt in Frankfurt, darunter auch das verlorene Pokalfinale gegen Bayern.
Doch die Mannschaft kann das hohe Anfangsniveau nicht halten. Die Qualität des Kaders entpuppt sich als unzureichend. Hinzu kommt die ungewohnte Doppelbelastung durch die Auftritte auf europäischer Bühne. Am 8. November setzt es eine 0:8-Klatsche beim 1. FC Köln, die dritte Niederlage in Folge. Trainer Gutendorf spricht nach dem Debakel gegenüber Pressevertretern von einem „Kindergarten“. Wobei er offen lässt, ob er das Alter seiner Mannschaft oder einfach nur ihr reichlich naives Auftreten meint. Wie dem auch sei, Günter Siebert nimmt die Äußerungen zum Anlass, erstmals die Arbeit des Trainers öffentlich in Frage zu stellen. Gutendorf bevorzuge fertige Spieler, Talente müssten sich bei ihm hinten anstellen. Starker Tobak, haben doch Sobieray und Scheer den Sprung ins Team bereits geschafft und steht das Debüt von Rüssmann unmittelbar bevor.
In Siebert brodelt es. Die unberechtigte Kritik hat aber andere Gründe. Siebert, der Platzhirsch, hat einen Nebenbuhler bekommen. War der Präsident bisher alleiniger Ansprechpartner für Reporter, ist jetzt plötzlich ein zweiter da. Einer, der die Klaviatur der Medien im Schlaf beherrscht. Der Präsident sieht seine Pfründe schwinden. Erfolge hat er bisher allzu gerne als Früchte seiner konzeptionellen Arbeit verkauft. Im Misserfolg muss jetzt der andere herhalten. Der aufkommende Konflikt – ein Krieg der Eitelkeiten.
Wobei auch Weltenbummler Gutendorf keinesfalls unter mangelndem Hang zur Selbstdarstellung leidet. Positiv ausgedrückt: Der Mann bringt Farbe ins triste Grau des Gelsenkirchener Alltags. Seine aus den USA importierte Corvette „Sting Ray“ sorgt genauso für Aufsehen wie seine junge und attraktive Frau Ute. Findet im Übrigen auch so mancher Spieler. So macht Waldemar Slomiany den Erzählungen einiger Mitspieler zufolge Frau Gutendorf unzweideutige Offerten. Woraufhin Herr Gutendorf gezeigt haben soll, dass er am längeren Hebel sitzt. Bei einem Freundschaftsspiel in Münster wechselt er den Polen ein, um ihn zwei Minuten später wieder rauszunehmen.
Gutendorf selbst legt Wert auf sein Äußeres, will jugendlich erscheinen. Ein Drang, der mitunter skurrile Formen annimmt. So kommt es häufiger vor, dass Spieler vergeblich nach ihren Vitamintabletten suchen, die nach Trainingseinheiten regelmäßig in der Kabine der Glückauf-Kampfbahn ausgelegt werden. Gerne wirft sich der Trainer selbst das eine oder andere Präparat ein. Bei Flügen zu Europacupspielen grinsen die Spieler über seinen gewöhnungsbedürftigen Modestil. Während ein feiner Zwirn Oberkörper und Beine kleidet, finden sich seine Füße schon mal in vulgären Turnschuhen wieder.
Auch seine Kurzsichtigkeit spielt ihm den einen oder anderen Streich. Weil er sich von einer Brille verunstaltet fühlt, trägt er Kontaktlinsen. Es sind Exemplare der ersten Generation, Haftschalen genannt. Mit dem einzigen Problem, dass sie nicht immer halten, was ihr Name verspricht. Hin und wieder haften sie nicht. So soll es auch bei einem Flutlichtspiel am 21. April 1970 auf dem Betzenberg gewesen sein. In der 65. Minute zeigt Schiedsrichter Frickel auf den Punkt. Doch noch bevor Otto Rehhagel den Strafstoß zum 1:1-Endstand verwandeln kann, ist lautes Gelächter auf der Schalker Bank zu vernehmen. Gutendorf soll seine zunächst verdutzten Spieler mit der ins Feld geschrienen Frage behelligt haben: „Warum macht denn keiner ’ne Mauer?!“
Es sind diese und andere Kleinigkeiten, die auf Dauer an seiner Autorität nagen. Der schmale Grat zwischen PR-Aktion und sinnvoller Maßnahme ist für viele Spieler überschritten, als Gutendorf sie auf dem tiefen Geläuf der Trabrennbahn einem selbst gesteuerten Sulky hinterherrennen lässt. So etwas kommt bei der Presse gut an, bei der Mannschaft nicht.
Auch die uneingeschränkte Rückendeckung für Kapitän Libuda können manche nicht mehr nachvollziehen. Immer häufiger leistet sich der Star der Mannschaft Extratouren, die Gutendorf nur noch bedingt geheim halten kann. Am 23. Dezember 1969 wird Libudas Wohnhaus im Haverkamp von mehreren Polizeiwagen mit Blaulicht großräumig abgeriegelt. Eine schwangere Frau hat den Nationalspieler der sexuellen Belästigung bezichtigt. Libuda verbringt die Nacht zu Heiligabend in Untersuchungshaft, wird am nächsten Morgen auf freien Fuß gesetzt. Im Januar 1970 wird das Ermittlungsverfahren der Essener Staatsanwaltschaft mangels Beweisen eingestellt.
Mit Beginn der Rückrunde verabschiedet sich die Mannschaft endgültig aus dem Titelrennen. Wegen des schneereichen Winters kommt es zu zahlreichen Spielausfällen. Im Februar und März gibt es aufgrund der Nachholspiele allein vier englische Wochen. Nur im Europacup scheint die Terminfülle dem Team nichts anhaben zu können. Die Spiele im Wettbewerb der Pokalsieger gehen in die Geschichte ein. Allen voran der erste Auftritt beim irischen Vertreter Shamrock Rovers.
Vorm Spiel schreibt der Irish Independent, Gelsenkirchen sei ein Wintersportzentrum zwischen Düsseldorf und Köln. Doch statt mit den Iren Schlitten zu fahren, stochern die Schalker im Hinspiel kräftig im Nebel rum. Beim Abschlusstraining hat Gutendorf seine Stammelf gegen eine durch Nigbur und Rüssmann verstärkte Journalistenauswahl kicken lassen. Das Spiel endet 1:1. Gutendorf tobt. Abends dann, im kleinen Dubliner Stadion, fehlt ihm vollends der Durchblick. Was diesmal nichts mit seinen Kontaktlinsen zu tun hat. Der Nebel ist so dicht, dass sich alle wundern, warum der dänische Unparteiische die Partie anpfeift. Plötzlich ein Schrei auf dem Rasen. Stille. Von der Pressetribüne, einem Bretterverschlag, rufen Reporter herunter: „Was ist passiert?“ Aus dem Nebel antwortet einer: „Tor!“ Frage von oben: „Für wen?“ Antwort aus dem Nebel: „Für uns!“ „Wer hat’s gemacht?“ „Ich!“ „Wer bist du denn?“ „Der Pirkner!“
Bringen Farbe in den tristen Gelsenkirchener Alltag: Trainer Rudi Gutendorf und seine attraktive Frau Ute.
Am Ende beweisen die Gastgeber die bessere Orientierung, gewinnen das Spiel 2:1. In der Kabine ist Norbert Nigbur erstaunt über das Trikot von Klaus Scheer: „Wovon bist du eigentlich so dreckig?“ Dem Torwart war – mangels Sicht – völlig entgangen, dass Scheer zehn Minuten vor Schluss eingewechselt worden war. Die Wut über die Niederlage lässt die Mannschaft noch in der kleinen stickigen Kabine schwören: „Im Rückspiel kriegen die zehn Stück.“ Es werden immerhin drei.
In Runde zwei fällt gegen IFK Norrköping aus Schweden ein einziges Tor. Klaus Scheer erzielt es im Rückspiel, bei dem auch Aki Lütkebohmert mittun darf. Gutendorf setzt den Bundeswehrsoldaten immer häufiger im Mittelfeld ein. Mit dem 3:1-Sieg bei Dinamo Zagreb gelingt im Hinspiel des Viertelfinales eine echte Sensation. Grund genug eigentlich, die Tassen hochzuheben. Stattdessen kommt es zum Eklat. Nach dem Schlusspfiff poltert Günter Siebert in die Kabine rein, droht dem Trainer vor der versammelten Mannschaft lautstark mit Rauswurf.
Was war passiert? Gutendorf soll Siebert auf der Trainerbank als „Schwein“ beleidigt haben. Später nach der Landung auf dem Düsseldorfer Flughafen sieht sich der Trainer genötigt, zu schwören, dass er Siebert nicht beleidigt habe. Wohl aber habe ihm Siebert ständig in taktische Dinge hineingeredet, habe unter anderem nach Erlhoff und Lütkebohmert mit Galbierz noch einen dritten Einwechselspieler gefordert. Gutendorf fürchtet um seine ohnehin bereits stark lädierte Autorität. Am darauffolgenden Freitagabend, den 6. März 1970, wird der Streit nach einer dreistündigen Sitzung von Vorstand und Verwaltungsrat offiziell beigelegt. Der bedauernswerte Beinbruch von Verteidiger Klaus Senger sowie die besondere Bedeutung des Spiels hätten die ungewohnte Nervosität verursacht. Beide Seiten garantieren – offiziell – weiterhin harmonische Zusammenarbeit.
Das Rückspiel gewinnt Schalke 1:0. Wieder ist Klaus Scheer der Siegtorschütze, wenn auch kein astreiner. Sein ohnehin nicht mehr entscheidender Treffer hätte gar nicht zählen dürfen. Durch ein Loch im Netz findet der flach geschossene Ball knapp neben dem Außenpfosten den Weg ins Tor. Viele haben’s gesehen, der rumänische Schiedsrichter nicht.
Sei’s drum. Schalke steht im Halbfinale. Angesichts des größten internationalen Erfolgs der Vereinsgeschichte glätten sich die Wogen im Machtkampf Präsident gegen Trainer. Vorübergehend. Der Spielerrat wird bei Siebert vorstellig. Der Präsident soll eine Prämie fürs Erreichen des Halbfinales locker machen. Schon für den Einzug in den Wettbewerb hatte Siebert nichts zahlen wollen. Nach zähem Ringen bewilligte er 500 Mark pro Mann. Jetzt ist’s immerhin das Doppelte. Im Schneeregen des 1. April bezwingen die Schalker Manchester City durch ein Libuda-Tor mit 1:0. Siebert erhöht den Einsatz für den Fall, dass die Sensation, der Einzug ins Finale, gelingt. Von 5.000 Mark, der höchsten je auf Schalke gezahlten Prämie, ist die Rede. Er kann sich sein Geld sparen.
Vorher aber noch sorgen zwei äußerst schwache Darbietungen in der Bundesliga für reichlich Gesprächsstoff. Beim 1:3 in Hannover taucht erstmals das Wort „Schiebung“ im Zusammenhang mit einem Schalker Spiel auf. Gutendorf und die Spieler weisen die Vorwürfe weit von sich. In der Presse kommt besonders Aki Lütkebohmert schlecht weg. In wenigen Tagen würde er seinen Wehrdienst nach insgesamt 18 Monaten beenden. Für Siebert und Gutendorf steht jetzt – ausnahmsweise mal unisono – fest: Aki wird seine Form steigern und in Zukunft noch Großes für Schalke leisten. Siebert ist diese Überzeugung eine Vertragsverlängerung um zwei Jahre und ein Handgeld in Höhe von 40.000 Mark wert. Noch aber ist nichts unterschrieben. Und noch ist Aki nicht in der Lage, das in ihn gesetzte Vertrauen zurückzuzahlen.
Auch nicht eine Woche später. Beim Heimspiel gegen den HSV muss er wieder als Linksaußen ran. Diesmal quittieren die 10.000 verbliebenen Schalker Fans die müde Vorstellung der Mannschaft mit „Aufhören, Aufhören“-Rufen. In der 62. Minute greift Gutendorf zu einer unkonventionellen Maßnahme. Er lässt den Stadionsprecher eine Entschuldigung sprechen: „Haben Sie doch bitte Verständnis dafür, dass unsere Mannschaft innerhalb von 50 Tagen ihr 18. Spiel austrägt!“ Die Durchsage geht im Hohngelächter unter. Das Spiel endet 1:1.
Doch damit an schlechter Stimmung noch nicht genug vorm historischen Rückspiel in Manchester. Eine Woche zuvor, beim Freundschaftsländerspiel Österreich gegen CSSR, verletzt sich Hansi Pirkner so schwer, dass er fürs Rückspiel in England ausfällt. Der DFB hatte Pirkners Freistellung für Schalkes DFB-Pokalspiel am folgenden Tag in Alsenborn ausgehandelt. Siebert hatte gegen Gutendorfs Willen Verzicht geäußert, sonnte sich dafür jetzt in Zeitungs- und Fernsehinterviews als Zuschauer im Wiener Praterstadion. In der folgenden Nacht platzt dem Präsidenten auf der Rückfahrt vom 5:1-Erfolg in Alsenborn bei Tempo 170 auf der Autobahn ein Reifen seines Autos. Mit an Bord: Klaus Fichtel. Die beiden haben riesiges Glück im Unglück. Ob das der Grund ist, weshalb sich der Nationalmannschaftsverteidiger vorm Abflug nach England auf dem Düsseldorfer Flughafen noch mit dem Western-Bestseller Das letzte Gefecht eindeckt? Vielleicht ahnt Fichtel aber auch einfach nur, was ihn und die Mannschaft in Manchester erwartet.
Sein Zimmernachbar in Sportschulen und Hotels hätte den Abflug beinahe verpasst. Als Aki Lütkebohmert seinen nagelneuen BMW am Flughafen parkt, rollt der Mannschaftsbus bereits an ihm vorbei. Aki kommt direkt aus der Kaserne, muss seinen Koffer zum Abfertigungsgebäude selbst schleppen. Im Spiel hat dies keine besonders negativen Auswirkungen. Als Aki das Spielfeld nach gut einer Stunde betreten darf, ist das letzte Gefecht der Europacup-Saison bereits verloren.
Dass es so kommt, hat sich schon vorm Spiel angedeutet. Dabei werden die Königsblauen vor Ort herzlich empfangen – von der deutschen City-Legende Bert Trautmann. Obwohl Manchester City an der heimischen Maine Road seit fünf Spielen sieglos und in der Tabelle nur Zwölfter ist, warnt Trautmann ausdrücklich. Von den kleinen Tricks im Vorfeld des Spiels verrät der einstige Torhüter aber nichts. Als Schalkes Spieler eine Stunde vorm Spiel die Kabine betreten, herrscht darin Sauna-Atmosphäre. Die Engländer haben Stunden vorher die Heizungen hochgedreht. Schon nach dem Umziehen sind die Schalker Spieler klitschnass. Ein Schicksal, das auch den Platz ereilt hat. Der ist offensichtlich kurz zuvor geflutet worden. Not very British, das Ganze. Nach dem Spiel wartet die Mannschaft vergeblich auf das bei Auswärtsreisen übliche späte Abendessen. Im Hotel ist die Küche zu. Die Spieler gehen hungrig ins Bett.
Eigentlich sollte ihnen der Appetit aber auch vergangen sein. Angesichts der 90-minütigen Vorführung. Nach 27 Minuten steht es bereits 3:0 für Manchester. Der City-Stürmer mit dem Musikernamen Neil Young bläst Schalke gehörig den Marsch. Gegenspieler Slomiany vergeht schnell Hören und Sehen. Rudi Gutendorfs PR-trächtiger Englischunterricht zwei Tage vorm Spiel in der Sportschule Wedau ist nicht von Erfolg gekrönt. Was auch daran liegt, dass der Lehrer seinen Schülern die entscheidende Vokabel vorenthalten hat: Positionswechsel. Dass bei Manchester alle zehn Feldspieler wild durcheinanderlaufen, Slomiany sich plötzlich im Mittelfeld wiederfindet, van Haaren in der Abwehr und Erlhoff im Sturm, damit hat keiner gerechnet. Am wenigsten Schalkes Trainer.
Als seine Spieler zur zweiten Hälfte aus der Kabine schleichen, gibt’s prompt die nächste Demütigung. Durch die geöffnete Tür der City-Kabine steigt ihnen dichter Qualm entgegen. Beinahe genüsslich sitzen die englischen Profis noch auf ihren Holzbänken und rauchen. Der Letzte drückt seine Zigarette beim Auflaufen auf der Treppenstufe zum Rasen aus.
Viel Rauch um nichts – aus Schalker Sicht. Auch im zweiten Abschnitt sind die englischen Profis den Gästen stets einen Schritt voraus. Nein, dieses Spiel ist keine geeignete Werbung für die Anti-Raucher-Kampagne. Sekunden vor Schluss ist es Libuda vorbehalten, wenigstens noch den Ehrentreffer zu erzielen. 5:1 heißt es am Ende. Wenigstens muss kein Schalker jetzt jahrelang lamentieren, das Finale sei so nah gewesen. In Manchester war es für eine restlos überforderte Schalker Mannschaft unerreichbar weit weg.
In etwa so weit weg wie eine gütliche Einigung zwischen den ewigen Streithähnen Gutendorf und Siebert. Unmittelbar nach dem Abpfiff betont Siebert einmal mehr, dass eine gedeihliche Zusammenarbeit mit dem Trainer nicht mehr möglich sei. Diesmal holt der Trainer die Mannschaft mit ins Boot, oder besser, ins Haus. In seine Wohnung im Gelsenkirchener Stadtteil Heßler. Gutendorf will die Stimmung im Team ausloten. Keiner traut sich, Partei gegen ihn zu ergreifen. Und die, die seit Längerem gegen ihn opponieren, die Ersatzspieler, sind gar nicht erst gekommen.
Am darauffolgenden Abend klingeln Günter Siebert und Heinz Aldenhoven an Gutendorfs Wohnungstür. Wieder mal wird ein brüchiger Burgfrieden geschlossen. Noch erscheint den Verantwortlichen ein vorzeitiger Rauswurf zu teuer. Für den müsste Schalke 120.000 Mark berappen. Nicht zu bezahlen, obwohl der Verein durch den Europapokal ein lukratives Zusatzgeschäft hatte.
Eine alles in allem enttäuschende Saison endet – wegen der anstehenden WM in Mexiko – denkbar früh am 3. Mai 1970. Sie endet versöhnlich. Nach zuletzt fünf sieglosen Spielen in Folge ringt die Mannschaft dem noch amtierenden Meister Bayern München nach 0:2-Rückstand noch ein 2:2 ab. Beide Tore erzielt Aki Lütkebohmert, das erste in der 73. Minute nach Flanke von Slomiany sogar per Kopf. Ein Körperteil, das er gewöhnlich nur für andere Tätigkeiten verwendet. Spätestens sein Sololauf mit schönem Distanzschuss zum Ausgleich in der 85. Minute beeindruckt auch die Bayern.
Am Tag nach dem Spiel klingelt im Heidener Kreuzweg das Telefon. Am anderen Ende der Leitung: Bayern-Manager Robert Schwan. Franz Lütkebohmert versichert dem freundlichen Mann, er wolle es seinem Sohn ausrichten. Akis Vater notiert Namen und Telefonnummer des Anrufers. Der Umworbene ist, wie so häufig, im Wald unterwegs, Pilze sammeln. In den Wäldern rund um seinen Heimatort kennt er sich bestens aus. Hier findet er die nötige Ruhe und Ausgeglichenheit, kurzum, seinen inneren Frieden, der ihm mehr wert ist als alles andere. Mit Laufschuhen oder Pilze-Korb – fast egal. Ein Vorteil beim geliebten Pilzesammeln liegt aber klar auf der Hand, oder noch besser, an der Hand. Seine Freundin Christa begleitet ihn. Seit gut zwei Jahren sind die beiden ein Paar. Sie ist nicht mehr wegzudenken aus seinem Leben.
Als die beiden am Abend in Akis Elternhaus zurückkommen, liegt der Notizzettel des Vaters neben dem Telefon. Aki überfliegt die Zeilen und schluckt. Bayern München, an der Seite von Maier, Müller, Beckenbauer, die Nationalmannschaft vor Augen. Er wird am nächsten Tag auf jeden Fall zurückrufen. Er legt den Zettel wieder auf die Ablage zurück. Dann sieht er Christas flehenden Blick. Eine Woche später unterschreibt er Sieberts Vertragsangebot zu leicht verbesserten Konditionen.