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Omen
ОглавлениеNicht dass er sonderlich schicksalsgläubig gewesen wäre, doch zwei Begebenheiten ziemlich zu Beginn der Tour schienen bereits den wahnsinnigen und für einige Teilnehmer tragischen Verlauf anzudeuten, wobei er sich darüber im Klaren war, dass man solchen Erlebnissen nur dann im Nachhinein tiefere Bedeutung zumisst, wenn etwas schiefgelaufen ist.
Da war einmal das vielleicht dreijährige Kind, das Emil, der Torwart, am Abflughafen mit dem Gepäckwagen böse angefahren hatte. Die Familie hatte den Unfall nicht gesehen, und das kleine Mädchen, vor Schmerz und Schreck verstummt, zeigte nur auf das nackte blutende Bein, nicht einmal anklagend, nur verständnislos und zutiefst unglücklich. Emil sprach sich von jeder Schuld frei, indem er auf die Unachtsamkeit von Bälgern und deren Eltern schimpfte, und die zwei oder drei von der Gruppe, die den Vorfall mitbekommen hatten, nicht gerade die Feinfühligsten, ließen ähnliche Kommentare hören und zogen weiter, ohne sich um das Kind, das jetzt endlich schreien konnte, weiter zu kümmern, mit jener Rücksichtslosigkeit, die sich manchmal rächt. Er jedoch glaubte, von diesem Zeitpunkt an geahnt zu haben, dass sein Auftrag noch übler enden werde, als er von Anfang an befürchtet hatte. Wie es denn auch geschah – wenn auch nicht für alle gleichermaßen.
Und dann war da die Begegnung mit dem betrunkenen Engländer am ersten Abend in Mexiko. Zwar waren die anderen daran nicht beteiligt, aber auch der tragische Ausgang dieses seltsamen Zusammentreffens schien einen Schatten auf die weitere Reise zu werfen. Alles hing eben mit allem zusammen. Er hatte die Bar im Souterrain des Hotels Isabel la Cátolica aufgesucht, um noch ein Bier zu trinken, als er in ein Gespräch gezogen oder eher zum Zuhören eines Monologs gezwungen wurde, der ihm zunächst lästig fiel, weil er sich belanglos und unzusammenhängend anließ, der ihn aber plötzlich zu beunruhigen begann, ihn an etwas im Augenblick gedanklich nicht Fassbares erinnerte, etwas schon einmal Erlebtes oder zumindest Gehörtes, der ein Déjà-vu-Gefühl weckte, das einen Menschen befällt, der das Gedächtnis verloren hat.
Zunächst war ihm der große Mann in dem zerknitterten hellen Anzug am Tresen gar nicht aufgefallen. Erst als sich das schlecht rasierte Gesicht, intelligent und verbraucht zugleich wirkend wie eine Collage aus Clochardvisage und Antlitz eines Charakterdarstellers, näher schob, und er hörte, dass der Mann mit schweißüberströmter Stirn und offenstehendem schmuddeligem Hemdkragen kultiviertes Englisch, womöglich in gediegener Oxford-Tradition, sprach, begriff er, dass er selbst der Adressat des Sermons war. In einer Cantina nimmt niemand Notiz von skurrilen Gestalten und achtet zumindest nach dem Erreichen eines bestimmten Pegels nicht mehr auf Gespräche, Ansprachen oder Brandreden in der unmittelbaren Nachbarschaft. So fiel keinem der umstehenden Mexikaner, in der Mehrzahl Hotelgäste, Geschäftsleute und undurchsichtige Typen mit Brillantine-Frisur in bedruckten T-Shirts, auf, dass der englische Gringo dem anderen Gringo wirre Sätze, bisweilen von Speichelfontänen begleitet, ins Gesicht warf.
- Ich sehe, Sie haben die compañeros im Auge. Das ist gut so.
Ehe er diese kryptische Behauptung hinterfragen konnte, begann der Engländer seinen Warnungen und seiner kruden Schilderung fortzufahren, mit sympathischer Stimme, aber monoton, ohne Punkt und Komma, als halte er einen Lehrvortrag, den er schon etliche Male unverändert vor unterschiedlichem Publikum zum Besten gegeben hatte.
- So eine Spelunke explodiert leicht. Von einem Augenblick zum anderen. Und dann haben Sie die mexikanischen Faschisten ante portas, keine großen Ideologen, aber enorm blutrünstig in ihrer Schäbigkeit. Ich habe es am eigenen Leib erfahren müssen, immerhin in der – an diesem Abend allerdings ruhenden – Eigenschaft als Konsul Großbritanniens. Sie müssen von dem Vorfall gehört haben!
Seltsamerweise kam ihm tatsächlich irgendetwas an der sich atemlos weiterspinnenden Story bekannt vor, besonders als der Engländer erzählte, er sei unter falschen Anschuldigungen in Cuernavaca in eine Schlucht geworfen worden und habe am selben Tag die einzige Frau, die er jemals geliebt hatte – nein, das nicht ganz, vielmehr: die ihn jemals geliebt hatte, verloren. Es war weniger der Titel, den sein Thekennachbar beanspruchte, der ihn ungläubig aufhorchen ließ (es gab eine Menge windiger Eminenzen unter den Vertretern europäischer Nationen in tropischen Metropolen), vielmehr glaubte er, vor langer Zeit von einem solchen Fall gehört oder darüber gelesen zu haben. In der Tat ist es eine Impertinenz, fuhr der Mann fort, nachdem er sein Glas Mezcal geleert und ein weiteres geordert hatte, dass behauptet wurde, man habe mir einen toten Hund hinterher geworfen. Ich kenne den versoffenen Schreiberling, der das erfunden hat, der mir so das Leben und die Würde nehmen wollte. Was er über die Gefährlichkeit der Cantinas hierzulande berichtet hat, war allerdings wahr. Passen Sie also auf sich auf!
Er überlegte angestrengt, an welche Geschichte ihn die absurde Erzählung des Betrunkenen erinnerte, ein Buch musste es gewesen sein, wahrscheinlich ein Roman. Ihm fiel Greene ein; da hatte es etwas mit einem Honorarkonsul gegeben. Aber das war in Argentinien gewesen, oder in Paraguay. Vielleicht hatte der Alkoholiker neben ihm das Buch auch gelesen und das Geschehen einfach nach Mexiko verlagert, um eine wirre Geschichte gegen die Einladung zu einem Drink einzutauschen. Denn soeben fragte der Engländer ihn, ob er den nächsten Mezcal übernehmen könne, selbst habe er im Moment zu wenig Bargeld bei sich. Doch während er dem Camarero signalisierte, er solle noch einen Schnaps für seinen Gesprächspartner und für ihn selbst eine weiteres Bier auf den Tresen stellen, überkam ihn das Gefühl, es gebe noch ein anderes Werk, ein Drama oder Epos, das der Sache näher käme, ein chaotisches und düsteres Stück, von dem er vielleicht nur aus zweiter Hand gehört hatte.
Schon früher waren ihm Europäer und vor allem US-Amerikaner in diesem Land begegnet, die jede Bindung zu ihrem früheren Leben verloren zu haben schienen, die mittellos durch ein Dasein taumelten, dessen Horizont nur bis zur Unterkunft in der kommenden Nacht und zum nächsten geschnorrten Suff reichte. Sie waren oft intelligent, hatten Phantasie; sie wussten zu erzählen. Doch er hatte erfahren müssen, dass es nur Ärger brachte, sich mit ihnen einzulassen, sei es aus Interesse oder aus Mitgefühl. Mexiko war ein Wallfahrtsort für solche Menschen, zumeist Männer, die von Erfolgreicheren oder Durchschnittlichen als Wracks bezeichnet wurden. Unter denen, die er auf seinen Reisen getroffen hatte, war der Engländer von seinem snobistischem Anspruch und der behaupteten Vergangenheit her allerdings eine Ausnahmeerscheinung. Der Mann trank ausnahmslos Schnaps, und auch noch den für jede Konstitution verheerendsten, während die Mexikaner um sie herum, Tequila oder Brandy mit Cola mischten, um bequem betrunken zu werden, ohne sich die Schärfe des hochprozentigen Fusels antun zu müssen. Normalerweise nahm er jede Gelegenheit wahr und jede Lüge zur Ausflucht, alkoholisierte Gesprächspartner mit jenem charakteristischen Flair aus Einsamkeit und Niedergang loszuwerden, doch diesmal ließen ihn die kultivierte Sprache des anderen und das seltsame Gefühl, zu ahnen, wovon der redete, den Sachverhalt unwillentlich in die Verliese des Gedächtnisses verbannt zu haben, abwarten. Er musste sich auch keine Gedanken machen, wie er der Suada entkommen konnte, denn kurz darauf verlor sein Gegenüber das Interesse an ihm und wandte sich mit vom Mezcal befeuerter Energie einer neuen Situation zu, an deren Entstehen ebenfalls Agavenschnaps, wenn auch in der edleren Tequila-Variante, entscheidenden Anteil hatte.
Zwei beleibte Herren mit mächtigen Schnauzbärten in zu engen Anzügen waren aneinander geraten. Zuvor hatten sie nach der üblichen Art mexikanischer Bankiers, Handelsagenten oder Abteilungsleiter miteinander getrunken, sich Fotos gezeigt, schmutzige Witze gerissen und traurige Liebeslieder gesungen. Doch die Wirkstoffe der blauen Agave sind tückisch und verwandeln Sentimentalität rasch in Zorn und Brutalität. Nun versuchte einer dem anderen ins Gesicht zu schlagen, was nicht leicht zu bewerkstelligen war, da beide weder sehr fest auf ihren Beinen standen noch besonders präzise mit ihren Fäusten zielen konnten. In diesem Augenblick stand der Engländer, dem der Mann hinter dem Tresen, ein langer schweigsamer Norteño, anscheinend der einzig Nüchterne in der ganzen Bar, gerade wieder das Glas vollgeschenkt hatte, leicht schwankend von seinem Hocker auf. Es geht los, sagte er und deutete mit dem Zeigefinger auf die Kontrahenten. Rurales, Faschisten, rief er, assesinos, cobardes, sie warten nur darauf, von hinten zuzustechen. Trotz des Tumults waren die englisch-spanischen Beleidigungen dank seiner Stentorstimme gut vernehmbar. Mittlerweile hatten sich Freunde der beiden Kämpfenden oder auch Außenstehende, denen mit dem Sprit die Kampfeslust in die Adern gefahren war, eingemischt, und nun floss auch Blut, denn ein Schwinger hatte eine Nase getroffen. Eben in diesem Augenblick hörten die Mexikaner den Gringo. Die meisten drehten sich um. Die Aufmerksamkeit verlagerte sich vom eigentlichen Geschehen weg zum Ursprung der Provokation. Sie waren als feige Mörder geschmäht worden, von einem Fremden, einem Nordamerikaner in ihren Augen. Mira este yanqui, hörte er heisere Stimmen, este hijo de puta. Rasende Wut und kollektive Aversion sprachen aus ihren Gesichtern, äußerten sich in den Drohgebärden, als sie näher rückten, um dem „Hurensohn“ die Beleidigungen zurückzuzahlen.
Er hatte im Laufe der Jahre gelernt, sich aus Konflikten herauszuhalten, zumindest in Kneipen und in dieser Weltgegend. Von dem Norteñ0 hinter dem Tresen frühzeitig gewarnt, hatte er seinen Barhocker zur Seite geschoben, und jetzt beobachtete er quasi vom unbeleuchteten Bühnenhintergrund aus, wie sie den englischen Konsul, der über große Körperkräfte und einen erstaunlichen Widerstandswillen verfügte, niedermachten. Sein Blut färbte ungefähr den Umriss der mexikanischen Landkarte in die Sägespäne, die den Boden vor der Theke bedeckten.
Diese beiden seltsamen, in keiner Weise zusammenhängenden Erlebnisse am Anfang der Reise erschienen ihm später, im selbstgewählten Exil, wie Zeichen einer grauen Vorbedeutung, die damals nur niemand zu erkennen vermochte: So wie die Gruppe, die er eigentlich durch alle gefährlichen Untiefen hätte führen sollen, mit einem Schiffbruch für die Rohheit dem verletzten Kind gegenüber büßen sollte, so war er selbst nach der lauen Indifferenz, die er an den Tag gelegt hatte, als dem Konsul der Schädel eingeschlagen wurde, dazu verurteilt worden, zu wandern, ohne Aussicht auf Rückkehr und mit Zielen vor Auge, denen er sich nicht einmal merklich annähern, die er geschweige denn jemals erreichen konnte. Und der Satz, den er sich später während der vergeblichen Schuftereien, der schon im Ansatz scheiternden Liebesbemühungen, in den Slums, in alten Bussen und heruntergekommenen Hotelzimmern, immer wieder, beinahe zwanghaft, ins Gedächtnis rief, lautete: Alles hängt mit allem zusammen.