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Oft noch, wenn er sich auf durchgelegenen Matratzen über dem gestampften Boden wälzte, in Bretterverschlägen, deren Fensterlöcher durch zerrissene Moskitonetze kaum abgedichtet waren, und auf das an- und abschwellende Sirren eines Blutsaugers, das gerade durch die fehlende Konstanz und den unvorhersehbaren Rhythmus so penetrant an die Nerven ging, lauschte, dachte er an den Tag, an dem die ihm unaufhaltsam erscheinende Lawine von Ereignissen, die ihn letztlich hierher nach Cali geschleift hatte, losgetreten worden war, und er sah sich in einem anderen Leben die große Straße im Zentrum einer Stadt, die er nicht als Heimat empfand, in der er aber doch geboren worden war und mehr Jahre verbracht hatte als sonstwo, entlang gehen, zwar mit der weißen Weste dessen, der sich noch nicht hatte schuldig machen können, aber auch damals schon ohne Hoffnung und Perspektive. Er ging an Banken vorbei, an Modegeschäften und dann wieder an Fastfood-Restaurants. Diese City, deren Entstehung im Geist der damaligen Zeit, in Form einer zweckmäßigen, kommerziellen Moderne, die bereits auf der Bauskizze schon verbraucht wirkte, er miterlebt hatte, war unbeschreiblich verwechselbar.

Sein Ziel war ein Bürogebäude in ziemlich guter Lage, und dort die fünfte Etage. Die Tür mit dem kühlen Logo und der Aufschrift GERMAN MEGA öffnete sich mit dezentem Surren, und er durchquerte auf weichem Teppichboden ein Vorzimmer, das die Ausmaße seiner Wohnung haben mochte. Er nannte seinen Namen, und eine Dame von glatter Schönheit mit dezent modischem Outfit wies ihm den Weg zu einem Raum, dessen einziges Mobiliar aus ein paar Regalen, einem riesigen elfenbeinfarbenen Schreibtisch und zwei futuristisch anmutenden Sesseln bestand. An den Wänden hingen Werbeplakate für Veranstaltungen, die offenbar von der Agentur durchgeführt worden waren. Hinter der Schreibtischplatte, auf der sich ein mit „Event Manager“ beschrifteter Reiter befand und sonst nichts, erhob sich ein schlanker Mann mit kurzem, silbergrauem Haar, in schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt gekleidet, aus seinem Sessel. Auf dem Shirt stand „I am MEGA“. Miller mein Name, Yves Miller, sagte der Mann und streckte die rechte Hand aus. Miller sprach leise, baute seine Sätze sorgfältig. Er dehnte die Vokale und Endsilben. Wie ein Arzt, der von verzweifelten Patienten Vertrauen und Anerkennung seiner Kompetenz einfordert, dachte er.

Sie haben unser Inserat vermutlich genau gelesen. Sie wissen also, was wir fordern. Miller listete in verbindlichem Ton die offenstehenden Posten auf, die der Schuldner, den er zu beauftragen gedachte, begleichen musste. Spanisch wie ein Muttersprachler? Erfahrungen mit Reisen in Lateinamerika, vorzugsweise in Mexiko? Führerschein und die Bereitschaft, im Notfall einen Kleinbus durch chaotischen Verkehr und über abenteuerliche Pisten zu steuern – was allerdings im Normalfall der bereits engagierte Chauffeur tun werde? Talent, ad hoc ein Freizeitprogramm für die Truppe zu entwerfen und so weiter. Und das Wichtigste ist, dass Sie gute Nerven haben, sagte Miller zuletzt. Er musste von seinen Erfahrungen in Mexiko berichten, erklären, warum er für zwei Wochen aus der Stadt verschwinden könne, einfach so; warum er denn derzeit arbeitslos sei. Schließlich erklärte ihm Miller, dass er den Job haben könne, da seine „Qualifikationen“ passten, da sich nur wenige Bewerber, die „mobil“ wie er seien, gemeldet hätten, dass sie sich nun über die Rahmenbedingungen würden unterhalten müssen. Die Summe, die er nannte, war für den Job als Reiseleiter recht üppig, die nötigen Versicherungen werde die Agentur sogleich für ihn abschließen. Aber Sie müssen den Hintergrund der Tour kennen, sagte Miller, und etwas über die Personen wissen, mit denen Sie quer durch Mexiko fahren. Und nun erklärte der Event-Manager, wie seiner Agentur, eigentlich ihm selber, die Idee gekommen sei, die Verbindung von Sport und Public Relations auf eine „neue Ebene zu hieven“; nicht mehr die klassische Werbung an der Stadionbande, die TV-Spots in der Halbzeitpause eines Länderspiels, die sündhaft teure Verpflichtung eines unbegabten Superstars für einen Reklame-Sketch, nein, die Basis war einzubeziehen, die Leute sollten mitmischen, „endlos Fun haben“, und so seien als Sponsoren Konzerne gewonnen worden, deren Produkte sonst nicht unbedingt in Verbindung mit sportivem Geist gebracht würden. Das Ganze habe man optisch mit einem Schuss Erotik und einem „Feuerwerk von Gags“ aufpeppen müssen. Die Erfahrungen von GERMAN MEGA mit der Organisation von Belegschaftsfeten für Unternehmen seien da sehr hilfreich gewesen. Man habe sich noch tolle Hauptpreise „mit einer Prise Adventure“ ausgedacht, dann sei man mit diesem Event-Konzept auf die Suche nach einem finanzkräftigen Sponsor gegangen und fündig geworden. Eine Großbrauerei habe sofort tief in die Taschen gegriffen, und auch der Einzelhandel am Endspielort und die Touristikbranche seien Schlange gestanden, denn Boulevard-Blätter, lokale Radiosender und das Privatfernsehen als „Multiplikatoren optimalen Product-Placements“ hätten sich angekündigt für die ausführliche Berichterstattung über: die Deutsche Bier- und Fußballmeisterschaft für Kneipen-Teams. Mit dem ersten Preis: eine Fußball-Tournee durch Mexiko für die Siegermannschaft. Und Sie können sich vorstellen, dass auf unser Stellenangebot nicht allzu viele Meldungen eingingen, kam Miller ohne Überleitung auf seine Bewerbung und Vorstellung zu sprechen. Nun, wenige hatten Ihre Qualifikationen und Erfahrungen, und von diesen hatte keiner die nötige Zeit. Miller spielte beiläufig auf seinen derzeitigen Status als Arbeitsloser an und gab ihm zu verstehen, dass er ein vergleichsweise üppiges Honorar als Pausenclown einstecken würde.

Als alles vorbei war, in Cali, verglich er die Situation in Millers Büro mit einer anderen, Wochen später in Veracruz, als er vor einem anderen teuren Schreibtisch saß, hinter dem ein anderer, mächtigerer und noch bedenkenloserer Ausbeuter seichter Wünsche thronte, und erinnerte sich an den Hass der Ohnmächtigen, der nur sekundenlang durch die Erkenntnis, dass man so nie sein wolle, gemindert wurde, ehe die zweite, bittere Erkenntnis, dass man nicht die geringste Möglichkeit habe, jemals so zu sein, ihn wieder völlig als Befehlsempfänger reaktivierte. Es war der Hass, den er in diesen Augenblicken gespürt hatte, als ihm die Banalität der cleveren Puppenspieler, an deren Fäden er selbst hilflos hing, und die profitable Enteignung naiver Träume der anderen, die etwas erleben wollten, denen die Wahrnehmung aber schon längst genommen war, bewusst wurden.

Aber auch jetzt, da noch alles zu verhindern gewesen wäre, stand er nicht auf, ging er nicht wortlos hinaus. Während Miller den eigenen geistigen Anteil an „diesem europaweit einzigartigen Event“ erneut betonte und die Meisterung organisatorischer Schwierigkeiten bei der Umsetzung der „gewagten Idee“ beschrieb, überschlug er das Für und Wider und kam zu dem Schluss, dass er die einmalige Chance, noch einmal in das Land zurückzukehren, das in besseren Zeiten der Ausgangspunkt für die langen, durch eine nie mehr gespürte Intensität der Sinneseindrücke und des hautnahen Erlebens gekennzeichneten Reisen gewesen war - als seine Haut, sein Herz und sein Denken noch eine Einheit gebildet hatten. Das Geld konnte er auch brauchen, aber es würde ihm nicht lange weiterhelfen. Der Job der letzten Jahre als Korrekturleser des großen örtlichen Blattes mit regionalen Mantelzeitungen war vor einigen Monaten wegrationalisiert worden, da die Verleger zu dem Schluss gekommen waren, dass sich die Seiten mit dickeren Schlagzeilen, größeren Farbfotos und von weniger Schreibern, die quasi die Texte ohne Umweg über eine Qualitätskontrolle direkt in die Druckmaschine eingaben, leichter und billiger füllen ließen und die Leser weder inhaltliche Defizite, noch Fehler in der Rechtschreibung, der Grammatik oder Syntax bemerken würden. Mit seinem Arbeitslosengeld kam er einigermaßen hin – er hatte keine teuren Bedürfnisse, zumindest keine, die er sich leistete; in wenigen weiteren Monaten aber drohte ihm die Grundsicherung. So konnte er diese Umstellung durch drei Wochen Mexiko zwar verschieben, da er sich für diese Zeit bei seinem Vermittler abmeldete, aber irgendwann war es so weit, und dann nutzte ihm auch das Honorar nichts mehr, wenn bis dahin noch etwas davon übrig wäre. Dass er einen Job in seinem Metier oder auf den wenigen angrenzenden Gebieten, von denen er etwas zu verstehen glaubte, finden würde, hielt er angesichts der „allgemeinen Entwicklung“ und seines fortgeschrittenen Alters für ausgeschlossen - und wurde in dieser Ansicht von seinem Arbeitsvermittler, den er von Zeit zu Zeit aufzusuchen hatte, nur bestärkt.

Nein, nicht das Geld für gut drei Wochen war das Entscheidende; die Aussicht, nach mehr als zehn Jahren Mexiko noch einmal wiederzusehen, hatte ihn bewogen, das Angebot dieser die Untiefen des Zeitgeistes befahrenden Agentur anzunehmen, auch wenn er möglicherweise mit einer Crew von Debilen unterwegs sein müsste. Schon bevor er die Büroetage betreten hatte und selbst noch während Miller nun im gelangweilten, sicheren Stil eines Referenten, der vor wegdämmernden Zuhörern, die bereits längst geködert waren, noch aus Pflichtgefühl sein Programm abspulte und von den „innovativen Ressourcen“ und der „kreativen Manpower“ schwadronierte, war er entschlossen gewesen, nach Mexiko zu gehen. Aus eigenen Mitteln konnte er sich eine solche Reise nicht mehr leisten. Vielleicht wäre er nach Mittelamerika gegangen, wenn er hätte wählen können, an die Karibikküste von Honduras, in einen nicaraguensischen Hafen am Pazifik oder an einen Hochlandsee in Guatemala. Mexiko, das Niemandsland zwischen dem mächtigen Nachbarn im Norden und dem brodelnden Zentralamerika, „so fern von Gott und so nah an den USA“, war ihm ein Kontinent der blendenden Kontraste gewesen, dessen Licht zu grell für die Augen schien und dessen Schatten sich zu düster und bedrohlich für eine gesegnete Abendruhe niedersenkte. Es fehlten die Nuancen, die Abstufungen, die farbige und faulige Idylle der kleinen Staaten im Süden, deren Menschen in unendlich vielen Mischungen und Schattierungen durcheinander wirbelten, den Tod nicht sonderlich ernst nahmen, die Liebe ziemlich leicht und den Suff leichter überstanden weil ihr Rum aus Zuckerrohr weniger Amokläufe verursachte als die gefährlichen Agavenbrände der Mexikaner. Diese, ernsthafte Mestizen mit dünnen Schnurrbärten, heller im steinigen Norden, dunkelhäutiger in den südlichen Bundesstaaten Chiapas oder Yucatán, hatten an Last und Härte der Geschichte zu tragen, einer anspruchsvollen Bürde, deren Unausweichlichkeit die Menschen in Costa Rica oder El Salvador erst vor siebzig Jahren oder noch gar nicht registriert hatten. Und die damit verbundenen, ständig sich wiederholenden Niederlagen hatten aus geselligen Campesin0s einsame Wölfe gemacht, die dem gewaltsamen Tod und der vom Machismo gepflegten Doktrin von der weiblichen Unterwerfung huldigten. Dennoch schätzte er ein Land, in dem sich stets neue Nester des Widerstands und des Aufruhrs bildeten, gegen Kolonisatoren, Ausbeuter oder auch nur korrupte Polizisten, das trotz der unentwegten Berieselung durch Ton, Bild und Schrift aus den Zentren jenseits des Rio Grande intelligente, kritische und verantwortungsbewusste Geister hervorbrachte, auch wenn diese im eigenen Haus gewöhnlich wenig zählten. Aber wenn er hätte wählen können – er wäre nach Mittelamerika gegangen, wo in der kurzen Abenddämmerung unter Palmen, in denen Vögel und Ratten pfiffen, beim Geruch der Holzkohle, über deren Glut scharf gewürzte Bananen und Schweinerippen gegrillt wurden, um zu Rum und Limonenwasser und zum sanften Girren indianisch-chinesischer Schönheiten, die man mit Geld locken, aber nicht kaufen konnte, verspeist wurden, wo, oft nur ein paar Schritte von den Folterzellen der Uniformierten entfernt, die Illusion von Ruhe und Frieden herrschte, wogegen sich die gewaltigen Wüstenmassen des mexikanischen Nordens mit ihren solitären Kandelaberkakteen, die schmutzig braunen wasserlosen Gebirge im Zentrum wie landgewordene Warnungen an den Eindringling ausnahmen. Aber er konnte nicht wählen, und vielleicht war ja auch Mexiko, die Landschaft im klaren Licht, maßlos in ihrer Weite und ihrem Ernst, das richtige Ziel, denn von dort war er damals zu seinen konfusen Reisen aufgebrochen, dort hatte er die Bindung zu den lokalen und persönlichen Eckpunkten seiner frühen Jahre verloren.

Und deshalb ist GERMAN MEGA so erfolgreich, sagte Miller und sah auf die Uhr. Wir belegen auf diesem Event-Sektor mittlerweile einen der vorderen Plätze. Bundesweit! Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen noch schnell die Agentur. Miller führte ihn durch ähnlich karge Büros mit Acryl-Bildern an den Wänden, wo ziemlich junge Männer, das von Gel glänzende Haar in sorgfältig arrangierter Unordnung, vor Flachbildschirmen saßen, Kunden eine Präsentation vorführten oder improvisiert wirkende Sitzungen mit Zweit oder zu Dritt abhielten. Frauen waren auch da, allesamt jung, gut aussehend, mit dezentem Make-up und jenen Röcken, Hosen, Blusen bekleidet, die erotische Potentiale verrieten und zugleich Unnahbarkeit signalisierten, zumindest den Voyeuren und den Interessenten, die sich wegen Mangels an Geld, Erfolg oder Chuzpe kein extravagantes Auftreten leisten konnten. Wieder fühlte er sich gefangen in dem Zwiespalt, eine Welt, in der glänzende Oberflächenpolitur über das Fehlen gedanklicher Tiefe hinwegtäuschen sollte, abzulehnen und zu verachten, und sich andererseits von einem dieser Mädchen mit Traumfigur und Mascara-Augen verwöhnen zu lassen.

Miller hatte ihn unauffällig in die Richtung der Eingangstür bugsiert. Ich hoffe, Sie haben einen kleinen Einblick in unsere Arbeit gewonnen. Ich muss mich jetzt leider verabschieden, da der nächste Termin bereits wartet; wir führen nicht gerade ein ruhiges Leben hier. Wir sollten allerdings noch einen Termin vereinbaren, bevor es losgeht. Erstens sollten Sie wissen, wie es bei dem Turnier zugegangen ist, und dann werden Sie die Mannschaft, Ihre Schützlinge sozusagen, kennen lernen.

Er erinnerte sich, wie er wieder die Straße entlang ging, diesmal in die andere Richtung, reichlich verwirrt von dem, was er gesehen hatte, auch von Millers Erzählungen, noch mehr aber vom Chaos der eigenen Reminiszenzen und Assoziationen. Er wusste nicht, ob er sich über Auftrag, Honorar und Reise, eine gewonnene Pause im permanenten Niedergang, freuen oder eher die zu erwartenden Probleme mit einem Haufen deutscher Fußballfans fürchten sollte. Als er das Schild einer Kaffeebar bemerkte, unterbrach er seinen Weg, trat ein, bestellte einen Espresso und einen doppelten Cognac dazu. Der Alkohol und das bittere Aroma wärmten sein Herz. Mochte es auch etwas dubios ausschauen, es konnte doch auch gut ausgehen. Dachte er damals.

Verbrannte Schiffe

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