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Durch den diesigen Morgen, die wabernden Abgasschwaden der großen Stadt stachen bereits die satten Gerüche und Düfte nach Holzkohlenfeuer, gegrilltem Fleisch, Schwein, Iguan, vielleicht Hund, und gerösteten Kaffeebohnen, hier und da auch nach Kloake. Er ging noch vor dem Frühstück in einem Hotel, das er von früher kannte, durch Straßen, die er vor etlichen Jahren, so viel jünger und wissbegieriger noch, abgeschritten hatte, mit dem Staunen des Neuankömmlings und der Erwartung des Rastlosen: das Porträt des jungen Mannes als Reisender.

Er begann, alt zu werden, und seit längerer Zeit hatte er das Gefühl, dass er sich jedes Jahr hart erarbeiten musste, als sei er ein Minenarbeiter oder ein Bauer mit steinigen Feldern, der sich am Ende jedes Zwölf-Stunden-Tages oder jeder Sechs-Tage-Woche sagte: es war eine Quälerei, aber es ist geschafft, für dieses Mal, zufrieden, es wieder überstanden zu haben, aber ohne Hoffnung, ohne innere Befriedigung oder bescheidenes Glücksgefühl. Seit langem lebte er allein, nicht weil er es so wollte, sondern weil sich ihm keine Gelegenheit bot, diesen Zustand zu ändern. Und wenn er eine Frau traf, bei der eine Gleichzeitigkeit von Sympathie, geistiger Neugier und sexuellem Begehren in der Luft zu liegen schien, entglitt ihm der entscheidende Augenblick, und er gestand sich, mit sich und seinem Versagen im Reinen, erleichtert ein, kein Talent für Erotik zu besitzen. Obwohl es ihm regelmäßig so vorkam, als sei es vor Urzeiten zumindest ab und zu anders gewesen. Manchmal träumte er noch von der erfüllten und vor allem andauernden Partnerschaft, träumte von den wenigen Frauen in seiner Vergangenheit, mit denen es – unter bestimmten Umständen – eine Chance gegeben hätte, und wenn er aufwachte, stellte er ohne Überraschung fest, dass er allein geschlafen hatte. So wie er von der Veränderung träumte, durch die diese dünne Talmi-Oberfläche von Erfolg, wirtschaftlich, gesellschaftlich, banal, zerrissen würde und alle Millers dieser Welt an den Pranger gestellt und dem Spott der Nachdenklichen ausgesetzt werden könnten, und niemand mehr für diese Millers arbeiten musste, so wie er jetzt für seinen Miller arbeitete. Keiner, den er kannte, glaubte mehr an diese Veränderung, die ihm heute im beginnenden Herbst seines Lebens wie eine grandiose, aber allmählich durchschaute Luftspiegelung in einer gnadenlosen Wüste erschien, doch er erinnerte sich an die Jahre, als er eigens auf diesen Subkontinent gekommen war, wo sich ständig etwas veränderte, zum Guten, zum Schlechten oder hin zum Stillstand, ließ sich auch nach näherer Betrachtung oft nicht sagen. Ganz hatte er die Hoffnung auf das unerreichbar Neue noch nicht aufgegeben; schließlich ist es eine Eigenschaft der Fata Morgana, ihre Opfer stets in Bewegung zu halten, kein Verharren auf einem Fleck zuzulassen. Allerdings schien es ihm, als bewege er sich seit geraumer Zeit kaum noch von der Stelle, zumindest seit er sich um seine Existenz nicht mehr perspektivisch, sondern im Monatsturnus Sorgen machen musste.

Zurück in Mexiko also. Bis auf den Zwischenfall mit dem kleinen blutenden Mädchen, dessen untröstliches Gesicht er einfach nicht vergessen konnte, war nichts weiter passiert. Die Gruppe hatte sich einigermaßen zurückgehalten und auch nicht allzu viel getrunken. Wäre er allein gewesen, er hätte sich auf das Einchecken und die erste Nacht im Hotel gefreut, so aber fühlte er sich in seinen Reminiszenzen gestört. In einem Umschlag hatte ihm Miller die wichtigen Unterlagen und die Devisen ausgehändigt, ein Bündel Dollarnoten, einen Packen Traveller-Schecks, was angesichts der lateinamerikanischen Kreditkartenfeindlichkeit Sinn machte, mit der Mahnung, jedem hundert Dollar am Morgen für den Tag in die Hand zu drücken, wie es als Bestandteil des Preises vereinbart war, nicht im Voraus, damit keiner nach drei Tagen abgebrannt sei (und wenn einer damit das Luxusbordell nicht zahlen könne, sagte Miller, sei das seine Sache), die Versicherungsscheine, die Adressen und Ansprechpartner der Fußballvereine, die Voucher für die vier Hotels, die sie ansteuern würden. In Ciudad de México war es das Isabel la Cátolica, eines der alten Häuser im alten Teil der Stadt, die dem Erdbeben getrotzt hatten, während die modernen Klötze, eilends mit zu viel Gewinnmarge und zu wenig Zement hochgezogen, widerstandslos in sich zusammenbrachen, das Hotel, in dem er bei seinem ersten Aufenthalt hier vor Jahrzehnten und dann immer wieder gewohnt hatte, einmal sogar mit einer Frau, Alexandra, was bei seinem nicht gänzlich glücklosen, aber doch recht überschaubaren Liebesleben eine Gedächtnisnotiz wert war. Die Zimmer waren wie früher, ziemlich sauber, aber nicht mehr neu, verblichen, aber noch nicht verkommen; die abgetretenen Teppiche in der Lobby schienen noch von damals zu stammen. Und auch die Bar existierte noch, wie er gestern Nacht anlässlich der seltsamen Begegnung mit dem mysteriösen Briten hatte registrieren dürfen. Der Vorfall ließ ihn an diesem grauen Morgen nicht los, andererseits wollte er nicht darüber nachdenken, zumindest keine weitgehenden Schlüsse daraus ziehen. Er überquerte den Zócalo, ging an der Kathedrale, deren gruftartige Düsternis durch ein Konglomerat aus Kerzen, Kandelabern, starrer Religion und knochenbiegender Folter angereichert wurde, das bei seinem ersten und einzigen Eintreten in ihm eine Vorstellung von Weihnachtsbeleuchtung in der Hölle geweckt hatte, vorbei, schlug sich in eine der Nebenstraßen und fand den Park, das Rasengeviert mit ein paar kümmerlichen Blumenbeeten, nach so vielen Jahren wieder. Zwar eilten Städter, die schon so früh unterwegs waren, der Arbeit zu, doch noch machte ihm niemand den ruhigen Platz auf einer gusseisernen Bank streitig. Aber die Rastlosigkeit um ihn herum störte ihn in seinen sentimentalen Gedanken an das, was damals war, was sich hätte anders entwickeln können, aber vor allem daran, dass schon einmal etwas in seinem Leben passiert war. Und bald würden die Bettler kommen, weil sie den Gringo gewittert hatten, neugierige Schulkinder, schnaufende Angestellte und besorgte Mütter würden sich zu ihm auf die Bank setzen und das Alleinsein aufheben, das er dringend benötigte, um seine Einsamkeit zu verfluchen. Er stand wieder auf, bahnte sich den Weg durch die hektischen Massen, überquerte Straßen, in denen Fahrer mit dem Kopf auf der Hupe schliefen, während ihre Autos in Viererreihen zentimeterweit vorwärts geschoben wurden. Es gab kein Verweilen, keine Ruhe in diesem Moloch von Stadt, wo jeder Mensch in einer menschenfeindlichen Atmosphäre aus gelbgrauen Schwebstäuben täglich um sein Leben zu hasten schien. Er blickte in die Ferne oder vielmehr so weit, wie es der morgendliche Dunst und der industrielle Nebel zuließen: keine Spur vom gewaltigen Popocatépetl und „seiner Frau“ Ixtaccihuatl, nicht eine Ahnung von den mächtigen Gebirgszügen, die das Hochtal, das wie eine platte Ebene ohne Anfang und Ende wirkte, einrahmten, nicht einmal von der Sonne; man befand sich in den Tropen, und bekam einen Eindruck vom kalten, trüben Thule. Schließlich erinnerte er sich an eine Passage, unweit seines Hotels, wo er früher manchmal ein wenig Frieden zum Lesen gefunden hatte. Es war ein von ein paar sterbenden Bäumen flankierter Durchgang zwischen zwei wie üblich belebten Straßen hinter einem Sakralgebäude aus schwefelfarbigem Kalkstein, einer Kirche oder Klosterkapelle, den Rad- und Mopedfahrer ebenso mieden wie Händler mit ihren Karren und alte Leute, die nicht mehr gut zu Fuß waren, da mehrere kurze Treppen die Passage unterbrachen. Als er den Ort erreichte spielte nur ein Junge, der in der Schule hätte sein sollen, mit sich selbst Pelota, wobei ihn der gedämpfte Aufprall des weichen, mit flacher Hand geschlagenen Gummiballs auf den Kirchenmauern nicht weiter störte. Er setzte sich auf eine niedrige Vormauer, und obwohl es noch empfindlich kühl war, verfiel er in eine Art Halbschlaf, wobei ihm immer seltsam bewusst blieb, dass er sich den Grundstoff zu seiner Tagträumerei aus der eigenen Vorstellungswelt und vor langem gelesenen Geschichtsbeschreibungen zusammenholte.

Wie musste der See im klaren Licht geglänzt haben, als Cortés mit seinen Truppen den Ufern entgegenzog und hinüber blickte zu der grandiosen Inselstadt, die über breite Dämme mit dem Festland verbunden waren. Nicht einmal einem Kurzsichtigem hätten Reichtum und kultischer Prunk von Tenochtitlan entgehen können, und kurzsichtig waren die Spanier nicht, zumindest nicht, wenn es um Gut und Gold ging. Die Azteken-Kapitale war mächtig, von zahllosen Kriegern verteidigt, durch ihre Lage nur schwer einnehmbar, aber sie bebte bereits, ihre Mauern atmeten den tödlichen Geruch einer Seuche aus, die, von den Sehern als göttliche Invasion angekündigt, trotzdem von den Kriegern bekämpft, wenn auch vergeblich, plötzlich und mit unfassbarer Gier nach dem Herzen des Landes griff. Und Cortés kam nicht allein. Am Ufer erschienen: Abenteurer, Söldner, Knechte, Rinderhüter und verarmte Angeber aus der Extremadura, jeder einzelne von ihnen noch wilder, verwegener und gieriger aussehend als ihr Anführer, der Erz-Conquistador, Abertausende von Indios, in der Mehrzahl Tlaxcalteken, die, von Cortés besiegt, geschont und zum Kriegspakt überredet, endlich die Gelegenheit sahen, ihre grausamen, wie sie meinten, schlimmsten Feinde, die übermächtigen Azteken ein für alle Mal in den Staub zu treten, nicht ahnend, dass auch sie bald als Leibeigene und Zwangsarbeiter den Weg in die Hölle würden antreten müssen. Die Spanier verhandelten und drohten, bauten Schiffe, machten Moctezuma zum Gefangenen, und das gewaltige Tenochtitlan zauderte, reagierte zu spät und verlor gegen die Zukunft. Auf dem Blutstaub, den pulverisierten Exkrementen und dem Salz des ausgetrockneten Sees errichteten die Nachfahren, nicht mehr ganz weiß oder rot von Angesicht, sondern mit fahlbrauner Hautfarbe, allmählich Megalopolis, das nach jedem Erdbeben, jeder Katastrophe größer und hässlicher wiederauferstand, das ein Zapata, der es erobert hatte, fluchtartig wieder räumte, weil er verhindern wollte, dass seine indígenas aus Morelos von dem Ungeheuer korrumpiert und verschlungen würden.

Er hob den Blick. Vor ihm stand gebeugt ein dunkelhäutiger Mann in einer gestreiften Sarape , die nackten Füße in Sandalen, streckte ihm die Hand mit der Fläche nach oben und reckte ihm ein runzliges Gesicht mit Zahnstummeln in der Mitte entgegen. Ein ranziger Geruch nach Zwiebeln und schlechtem Magen streifte ihn, und als er den Bettler nach seiner Herkunft fragte, musste er erkennen, dass der Mann taub war. Er stammelte unverständliche Brocken und wies auf seine Ohren. Hastig fingerte er seine Geldbörse heraus, zog einen Schein aus dem Fach, drückte es dem Alten in die Hand, beinahe in Panik, da er weder Mitgefühl verraten, noch sich selbst eingestehen wollte, wie sehr ihm die späten Folgeerscheinungen der Conquista, so tief er sie auch bedauern mochte, auf die Nerven fielen. Der Mann, dessen Heimatdorf in Chiapas oder Quintana Roo liegen mochte, ein Maya-Nachkomme, der dunklen Hautfarbe, kurzen Statur und gestreiften Kleidung nach, humpelte davon, er aber erhob sich, denn der Strang seiner Phantasien war gekappt, Tenochtitlan konnte nicht gerettet werden; für wen auch?

Er kehrte zum Hotel zurück, wo sich die ersten seiner Truppe zum Frühstück im Speissaal einfanden. Er erklärte ihnen, wie man Eier bestellt, huevos rancheros, Ochsenaugen in grüner oder roter Chili-Sauce, oder revueltos, Rühreier mit Maiskörnern und Paprika, begleitet von frijoles, brauner Bohnenpaste, an die sie sich schon noch gewöhnen würden. Er bezweifelte, dass sie sich am nächsten Morgen ihr Frühstück allein würden bestellen können, sie bauten auf ihn, schließlich „wurde er dafür bezahlt“. Mit einer gewissen Genugtuung bemerkte er, dass sie die Maistortillas und die Bohnen ebenso ablehnten wie er in früheren Zeiten. Sie hatten seine Erfahrung nicht: Die scheinbare Langweiligkeit des Geschmacks wich intensiv erinnerten Aromanuancen, wenn man erst einmal eine Zeitlang entwöhnt war. Wie ein Süchtiger versuchte man dann, irgendwo die runden Fladen und die zähe Pampe aufzutreiben oder ihren Geschmack in ähnlichen Zubereitungen wiederzufinden. Mit der Zeit lernte er, die Mitglieder der Gruppe zu unterscheiden, beobachtete einiges und erfuhr im Gespräch Weiteres. Ein rothaariger Freund des bulligen Torwarts Emil, einer der kleinen Scharfgesichtigen, fiel ihm unter den frühen Frühstücksgästen besonders auf. Die anderen nannten ihn Elvis, und er verfügte über einen schamlosen Slang und – vermutlich – über hohes Querulantenpotential. Der Mann mit dem dunklen Teint, der ihm in dem Zusammenschnitt des Endspiels aufgefallen war, weil er technisch gut spielte und kein Bier trank, dem sie, reichlich einfallslos, den Namen Ali gegeben hatten, obwohl er Rachid hieß, stammte aus Algerien, war aber schon mit fünf Jahren nach Europa gekommen, wie ihm erzählt wurde. Als die meisten im Speisesaal eingetrudelt waren, erläuterte er ihnen die Lage des Hotels und die interessanten Punkte in der Altstadt, das U-Bahn-System, warnte sie pflichtschuldig vor Taschendieben, Cantinas, dunklen Ecken, betrügerischen Geldwechslern, Nutten, die nicht nur HIV-positiv seien, sondern auch jede andere denkbare Geschlechtskrankheit übertrügen. Dann riet er ihnen, sich auf die Essgepflogenheiten der Einheimischen einzustellen und die comida corrida am Nachmittag zu nutzen, wenn alle Mahlzeiten besser und preiswerter seien als zu jeder anderen Tageszeit. Als er fertig war, merkte er, dass die Mehrheit nichts kapiert hatte oder zumindest nicht Willens war, irgend etwas vom Gehörten zu berücksichtigen. Mit einer gewissen Erleichterung sah er, dass er sich gar nicht erst als Fremdenführer, etwa für die Museen im Chapultepec-Park, anbieten musste; er hätte kaum einen Gefolgsmann gefunden. Er entließ sie in die große Stadt und sich aus der Pflicht, indem er ihnen viel Vergnügen wünschte, ein Faltblatt mit Lageplan des Hotels aushändigte und sie daran erinnerte, dass am nächsten Tag das erste Spiel bevorstehe. Anschließend hatte er frei, zumindest für drei Stunden. Dann nämlich sollte er die beiden spanischen Führer an der Rezeption des Hotels treffen.

Immer wenn das graue Wetter in Ciudad de México herrschte, also die meiste Zeit, kam es ihm vor, als sei er nicht auf einem anderen Kontinent, sondern in einer alten übellaunigen Stadt Europas, Burgos in Kastilien oder Straßburg im Herbst, kurz vor dem Regen. Er hatte gelernt, dass Reisen zu einem Gutteil aus Vergleichen besteht, so wie das Leben aus Wiederholungen. Er kaufte sich eine Ausgabe von „La Jornada“ und trank einen starken Kaffee in einer kleinen Bar. Im Gegensatz zum frühen Morgen wusste er von jetzt an genau, wohin er wollte. Er sah auf die Uhr, die klassische Zeit für seine Cantina, der frühe Nachmittag, war gekommen. Der Lärm auf den Straßen hatte seinen alltäglichen Zenit erreicht; das Geschrei der Garköche, das Quietschen von Bremsen und Gejaule der Automaten aus den offenen Türen der Bars und Spielsalons begleiteten ihn auf seinem Weg, während das Geratter unsichtbarer Presslufthämmer ständig daran erinnerte, dass die Stadt eine der großen Baustellen der Welt war. Aber im Gegensatz zu diesem anarchisch wilden Leben stand ihre Bedeutung als gigantischer Friedhof der Hoffnungen junger Indianerinnen aus Tabasco, landmüder Campesinos aus Guerrero, ehemaliger Bergleute, die sich aus den Minen von Zacatecas und Guanajuato hierher geflüchtet hatten. Er konnte sie auf den Gehsteigen sehen, wie sie sich im scharfen Staub der Exkremente vieler Millionen - sowohl gut Verdienender mit entsprechendem Ausstoß, als auch Verelendeter, die wenig zu verdauen hatten, und zuletzt am schlechten Wasser Krepierender, deren schleimiger Auswurf erst lange trocknen musste - der eigenen letzten Ruhe entgegen schleppten, während schon die Nachfolger mit kleinen Illusionen und noch kleineren Chancen aus dem ganzen Land in die große Stadt strömten – ein Kreislauf, der sich ständig wiederholte, nicht erneuert, eher ausgeleiert, ein Mahlstrom, immer wieder aufgewärmt wie der Bohnenbrei der Armen. Wenig hatte sich verändert in den letzten anderthalb Jahrzehnten, so schien es ihm. Gut, die letzten Pulquerias waren verschwunden, waren Internet-Cafés gewichen, in denen junge Leute, die wenigstens ein paar Pesos zur Verfügung hatten, surften, lasen, tippten, während andere Jugendliche des gleichen Alters den Autofahrern an den Kreuzungen die Säuberung der Windschutzscheibe oder zerfließende Süßigkeiten in Plastiktütchen anboten - oder den Sechzig-Sekunden-Fick gleich um die Ecke; aber die englische Buchhandlung gab es noch, in der er sich damals preisgünstig versorgt hatte, weil sein Spanisch noch ziemlich schlecht und der deutsche Laden an der Avenida Benjamin Hill sündhaft teuer gewesen war. Er fand die Cantina wieder, nur ein paar hundert Schritt vom Hotel entfernt. Hier hatte er einen Teil der Tage vor Alexandras Ankunft verbracht, Zeitungen und Bücher gelesen und sich Notizen gemacht, die unverwertet blieben.

Es war keine Cantina der untersten Kategorie, aber sie gehörte zur Gilde der großen Gleichmacherinnen der mexikanischen Gesellschaft. „Verboten für Uniformierte, Jugendliche und Frauen“ war früher – in dieser Reihenfolge – an der Eingangstür gestanden. Das Schild war verschwunden, Frauen sah man vor der Theke dennoch nicht; schließlich gab es auch keine Toilette für sie. Die schachbrettförmig angeordneten weißen und schwarzen Fliesen aber waren vor dem Tresen dick mit Sägespänen bestreut, damit Hühnerknochen, verschüttetes Bier, am Standort erbrochener Mageninhalt oder der Urin eines unter Alkoholeinfluss inkontinent gewordenen Greises keine Flecken bildeten und schnell weggefegt werden konnten, bevor sie eine Geruchsbelästigung darstellten. Dass die Cantina dennoch zu den gehobenen Etablissements ihres Genres zählte, verdankte sie der näheren Umgebung, in der Banken, Kaufhäuser und Ämter ihre Insassen zur Siesta in die benachbarten Gastronomiebetriebe ausspieen, und während deren einer Teil die dreigängige comida corrida in billigen Restaurants genoss, zechte der andere brüderlich vereint vor dem langen Tresen und verzehrte als Alibi-Mahlzeit eine teuflisch scharfe Suppe aus Chili und getrockneten Camarones, deren Chitinpanzer ausgekocht in der roten Brühe schwammen. Da aber die Cantina das Ideal der klassenlosen Gesellschaft verkörpert, waren auch die subalternen Bediensteten der Kommune willkommen, und oft fielen sich der fette Banker mit der Seidenkrawatte und der Müllmann im verschmierten Overall in die Arme, voll des spanischen Brandy der eine, abgefüllt mit dubiosem Mezcal der andere.

Wenig hatte sich geändert, seit er vor all den Jahren hier gesessen war und „La Jornada“ oder Charles Dickens in Englisch gelesen hatte. Er setzte sich an ein rundes Tischchen, gerade groß genug für eine Dominopartie, aber kaum für eine entfaltete Zeitung, und bestellte eine Flasche Bohemia, das Bier, das er seit jeher wegen des bitteren Aromas den anderen Sorten vorgezogen hatte. Ein kurz geratener Kellner mit Kugelbauch und weißem Haarkranz um einen glänzend kahlen Hügel brachte ihn das Gewünschte, und zu seiner großen Freude erkannte er den Camarero wieder, der ihn schon vor vierzehn, fünfzehn Jahren bedient hatte, auch wenn die sich damals bereits andeutende Glatze zu jener Zeit noch von schwarzen Strähnen überdeckt gewesen war und der Mann nicht mehr ganz so behände wirkte wie früher. Aber der alternde Ober war immer noch freundlich und erwies sich, wie sich bald darauf zeigte, als loyal auch ausländischen Gästen gegenüber. Er schien den Gast allerdings nicht wiederzuerkennen. Wie auch, Gringos kamen und gingen, austauschbare Randfiguren im mit Alkohol befeuerten Gebläse, im aufreibenden Geschäft, die Balance zwischen euphorischem Zechen und latenter Aggressivität zu halten.

Nur wenige in der Cantina saßen an Tischen wie er, und noch weniger tranken Bier. Entlang der Theke ballten sich noch junge und schon fast vergreiste Männer, die meisten wohl berufstätig, zu amorphen Haufen zusammen, die je nach Ende eines Scherzes, Anstimmen einer sentimentalen Mariachi-Ballade oder Beginn eines politischen Streitgesprächs auseinander fielen, um sich in neuer Gestalt wieder zu finden, beflügelt alle vom Brandy, Tequila oder von giftigen Cocktails in Gläsern, die in fieberhafter Hast geleert wurden, als strebe jeder danach, als erster die Kontrolle über seine Zunge, seinen Verstand und seinen Verdauungsapparat zu verlieren. Er wusste, wie schnell die laute, ausgelassene Stimmung kippen konnte; schon deshalb waren Cantinas für ihn immer Orte der Entspannung und der Wachsamkeit zugleich gewesen. Er hatte eine gewisse voyeuristische Freude daran entdeckt, Menschen bei der Aufgabe ihrer anerzogener Höflichkeit und ihres gesellschaftlichen Status zu beobachten, indes war er auf der Hut, denn die ausufernde Fröhlichkeit konnte sich rasch in ihr Alter Ego, Wut beziehungsweise Brutalität, verwandeln. Daher trank er wie schon früher sein Bier langsam, während um ihn herum alle Stärkeres, oft mit Cola oder süßen Limonaden zum angenehmeren Gleiten vermischt, in hohem Tempo konsumierten, versuchte auch beim Lesen, seine Umgebung einigermaßen im Blick zu haben.

Er las in „La Jornada“ von neuen Unruhen im Süden und Machtkämpfen innerhalb der und zwischen den drei großen Parteien. Im Kulturteil analysierte ein Literaturnobelpreisträger kühl die fast schon vollendete Angleichung der Programme führender nationaler TV-Sender an den seichten Yankee-Mainstream. In der Hauptstadt selbst war wieder einmal ein Milchskandal aufgedeckt worden. Während des Lesens registrierte er beiläufig, dass ihn einige der Gäste rasch als Ausländer identifiziert hatten und zwei oder drei Mal ein Angetrunkener sich seinem Tisch näherte, um zumindest verbal sein Mütchen zu kühlen, dass aber, bevor das übliche „Ey gringo“ kam und er seine Standardantwort „No soy gringo, soy de Europa“ äußern musste, der Kellner, obwohl er noch kein Trinkgeld bekommen hatte, vielleicht in einem Anflug von Sympathie oder Friedfertigkeit, intervenierte: Que no se molesta al señor! So abgeschirmt, ließ seine Aufmerksamkeit langsam nach. Er vertiefte sich in die Lektüre, die so viele Facetten trauriger, interessanter und trivialer Art des Miniaturkontinents namens Mexiko streifte. Zum ersten Mal seit der Landung fühlte er sich wieder heimisch und bereit für dieses Land, auch wenn er diesmal nur Tage und keine Monate hier verbringen würde.

An einem Nebentisch hatten zwei Männer Platz genommen, die, ähnlich wie er, nicht in diese Umgebung zu gehören schienen. Sie trugen dunkle Anzüge, und als sie Wein orderten, eine ungewöhnliche Bestellung hier, hörte er typisch kastilische Konsonantenvertauschungen heraus. Die Spanier bemerkten sein Interesse. Da auch sie ihn als Fremden in dieser Stadt erkannt haben mussten, wunderte es ihn nicht, dass ihn der Eine höflich ansprach. Pardon, Señor, Sie scheinen nicht von hier zu sein, genau wie wir. Darf man fragen, woher sie kommen. Er erzählte ihnen, dass er Deutscher und derzeit Reiseleiter sei. Sie stellten sich als Tour-Agenten aus der Extremadura, die schon lange in Mexiko lebten, vor und luden ihn an ihren Tisch ein. Als sie ihre Namen nannten, Hernan und Bernal, wusste er, dass er die beiden spanischen Führer vor sich hatte, mit denen er die nächsten zehn, elf Tage zusammen sein würde.

Verbrannte Schiffe

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