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Dies war kein Freundschaftsspiel unter Besoffenen, es hatte nichts mit Millers Event-Blödelei zu tun; es war knochenharter Kampf. Zwar hatten die Gringos einige Flaschen eisgekühlten mexikanischen Bieres an ihrer Torauslinie deponiert, doch sie kamen kaum dazu, sie zu trinken, denn ihre Gegner, kleine, sehnige Mestizen mit wenig Sinn für Fairplay und großem, vom ständigen Leben in der Höhenluft erweitertem Lungenvolumen nahmen das Match bitterernst. Das Spielfeld, graslos und staubig, lag außerhalb von Magalopolis an der Strecke nach Toluca. Selbst die letzten Slumgürtel hatten sie hinter sich gelassen, um in einer Gegend, die nicht mehr Land, aber noch nicht Vorstadt war, gegen Leute zu spielen, die unmöglich einem regulären Fußballverein angehören konnten. Es fehlte an einheitlichen Trikots, einige spielten barfuß, traten aber härter zu als die meisten Deutschen in ihren mit Stollen bewehrten Sportschuhen.

Wo kommt denn die Mannschaft her? fragte er Hernan, der die vier Spiele bis zum Rückflug von Veracruz nach Ciudad de México vereinbart, folglich auch die Gegner verpflichtet hatte. Obwohl er es hätte wissen müssen, als die ersten Flüche seiner gefoulten Deutschen hörbar wurden, als sich die ersten Handgreiflichkeiten abzeichneten, erschütterte ihn die Antwort des Spaniers. Das sind Männer aus den barrios, sagte er, die einzigen, die ich in der Eile auftreiben konnte, denn am Sonntag bleiben die Vereinssportler meistens bei der Familie, wenn sie kein Ligaspiel haben. Die nächsten Begegnungen werden mit ordentlichen Mannschaften stattfinden. Aus den barrios stöhnte er hörbar, dann rekapitulierte er im Stillen, dass diese Gegenspieler aus den Elendsvierteln stammten, durch die sie kilometerweit gefahren waren: Die Straße hatte eine Bresche in die primitiven Ansiedlungen moderner Jäger und Sammler geschlagen. Links und rechts dieser Furche tauchten Anhäufungen von Hütten aus Plastik und Pappe und – wenn es hoch kam – Wellblech auf, trostlos in ihrem Anblick, ausweglos für die Gefangenen, die dort festsaßen, jede Hoffnung fahren gelassen hatten und sich gedanklich oder eher instinktiv mit Raub, Diebstahl und Vergewaltigung beschäften, weniger mit Fußballregeln. Als ob der Eindruck einer Vorhölle, eines nihilistischen Ghettos bestätigt werden sollte, hatten die Eigentümer einer Müllkate ein Stück Schlamm drum herum mit Stacheldraht eingezäunt. Um Hehlerware zu schützen? Um Inzuchttöchter zu behüten und feilzubieten? Aus diesem inneren Kreis der Hölle stammten also die Akteure auf der anderen Seite, aus einer unveränderlich negativen Idylle aus Schmutz und Mangel, in deren Hintergrund die Schwaden der ewig stampfenden, pulsierenden, diffus produzierenden Großen Stadt in den gelben Himmel stiegen.

Bereits kurz nach Beginn des Spieles hatte die Spaßmannschaft begriffen, dass ihr hier nicht eine lockere Übung bevorstand, sondern eine Schlacht. Doch erst als sich ein Mann am Boden krümmte, nach einem Foul, das lebhaft von den drei Dutzend mexikanischen Zuschauern beklatscht wurde, was wiederum beinahe zu einer tätlichen Auseinandersetzung der Gringos mit dem Publikum geführt hätte, war auch dem letzten Deutschen aufgefallen, dass kein Schiedsrichter auf dem Platz war. Eine Weile ging es noch gesetzlos weiter. Stürmer wurden von den Beinen geholt, mit saugendem Geräusch prallten nur durch dünne Fleisch- und Hautschichten geschützte Knochen aufeinander, alle Augenblicke wälzte sich ein Spieler auf dem Boden. Zwar traten die Deutschen nun ebenso wie ihre Gegner zu, doch diese waren schneller, wirkten zäher und schienen über mehr kriminelle Energie zu verfügen. Als der Abbruch der Partie drohte, einigten sich die Teams auf Bernal, den offenbar beide Seiten respektierten, als Unparteiischen.

Von Beginn an waren die elf Deutschen gut mit Bernal zurechtgekommen. Er sprach eine Art Pidgin-Englisch, das einige verstanden, bei den anderen setzte er seine pantomimischen Fähigkeiten erfolgreich ein. Zudem stellte sich heraus, dass einer der großen, breiten Verteidiger, genannt Anselm der Schweiger, einigermaßen Spanisch beherrschte und auch Ali, der Verwandte hatte, die in Barcelona und Zaragoza arbeiteten, ein paar Brocken konnte. So war es wohl vor allem dem komödiantischen Talent und der ausgleichenden Gutmütigkeit Bernals zu verdanken, dass der erste gemeinsam verbrachte Abend in Mexiko nach einem gemäßigten Besäufnis harmonisch und friedlich endete, auch wenn die bösen Zungen der Mannschaft bemängelten, dass Hernan, der nur Spanisch zu verstehen schien und nicht ansprechbar vor seinem Glas sinnierte, und er selbst, der sich früh verabschiedete, Spielverderber seien, Fremdkörper oder – wie es Emil ausdrückte – „Weicheier“. Trotz dieser leichten atmosphärischen Störungen hatte er zum letzten Mal das Gefühl, dass die ganze Tour problemlos vonstatten gehen könnte.

Da Bernal keine Pfeife hatte, musste er die Halbzeitpause ausrufen. Emil, Kapitän und Wortführer der Mannschaft, kam, um sich zu beschweren. So haben wir uns das nicht vorgestellt, sagte der Torhüter wütend, auf dem Scheißplatz bricht man sich die Knochen, und wenn nicht in einem Rattenloch, dann weil diese Kanaken holzen wie Irre. Tatsächlich hatten beinahe alle Spieler kleinere Blessuren, Risse, Abschürfungen, blaue Flecken, bis auf Ali, der ein eleganter und wendiger Techniker war, und Stan, der den Einheimischen bei seinen Dribblings immer wieder entwischt war. Er wusste, dass sie ihn und nicht Hernan für die Auswahl des Gegners verantwortlich machen würden. Er ging zu dem Spanier, der sich abseits hielt, und bat ihn, auf die Mexikaner einzuwirken, dass sie sich bei den Zweikämpfen ein wenig mehr zurückhielten. Hernan zuckte nur mit den Schultern. Vielleicht waren sie gestern zu lange in der Pulqueria, sagte er, und: So sind sie dann eben in diesem Land, brutal und hinterlistig. Er wies auf die gegnerischen Spieler, die auf der anderen Seite im Schatten kauerten und Tortillas mit Salz und Chili-Schoten aßen. Vorgestern haben sie noch ganz gehorsam gewirkt. Aber spätestens in Puebla treffen wir auf diszipliniertere Krieger.

Bernal rief die Mannschaften wieder auf den Platz. Bis zur Pause waren die Deutschen nur eins zu drei hinten gelegen, ein achtbares Resultat angesichts der Umstände; jetzt aber zehrte die dünne Luft an ihrer Lungenkraft, fehlte der Sauerstoff, der fatalerweise durch Partikeln aus Ruß, Schwefel und anderen unzuträglichen Substanzen ersetzt wurde. Ihre Pässe gingen ins Leere, weil keiner sie mehr erlaufen konnte, stattdessen rollte eine Attacke nach der anderen auf ihren Strafraum zu. Mittlerweile spielten die Angreifer beinahe körperlos, konnten ihnen doch die Gringos nichts mehr entgegensetzen, weil sie viel zu beschäftigt damit waren, auf die Alarmzeichen ihrer erschöpften Physis zu lauschen, und nun vermochten die Opfer der ersten Halbzeit sich der flinken, konditionell überlegenen Einheimischen nur noch zu erwehren, indem sie alles taten, um sie von den Beinen zu holen, durch böse Grätschen, was allerdings wegen der mexikanischen Schnelligkeit selten gelang, oder indem sie den Ballführenden auflaufen ließen, ihn mit der höheren Masse des eigenen Leibes zu Boden stießen. In anderen Hemisphären der Fußballwelt hätte ein derart überlegenes Team die unbeholfenen Regelverstöße ignoriert und die eigene Spielkunst zelebriert, doch diese Männer aus den barrios waren keine Ästheten, kannten nur die direkte Antwort mit gleicher oder besser: härterer Münze, ließen nichts, nicht einmal den Fehlversuch einer Attacke, auch nur zwei Sekunden ungerächt. Und so musste es schließlich passieren.

Kaum hatten sich die kleinen braunen Männer mit den fadendünnen Schnurrbärten von der ersten Überraschung durch den in Zeitlupe vorgetragenen furor teutonicus ihrer Gegner erholt, erklang ein widerlich an Schlachtung durch Bolzenschuss erinnernder Knall über den ganzen Platz, und Flügelstürmer Stan, der Erfolgreichste und immer noch Schnellste der Deutschen, wenn auch nicht mehr schnell genug, um den feindlichen Tritten zu entgehen, wand sich laut schreiend im Staub. Er lief auf das Spielfeld, ohne auf Hernan zu achten, der plötzlich neben ihm aufgetaucht war und ihm etwas von „Jetzt nehmen sie Rache“ ins Ohr geschrien hatte. Er sah, dass der durch keinen Beinschoner geschützte Unterschenkel durch den Tritt einen sacht stumpfen Winkel eingenommen hatte; ein Schienbeinbruch, wie er wenig später erfuhr. Stan schrie markerschütternd, bis ihm der Atem wegblieb, und er nur noch ein ersticktes Stöhnen ausstoßen konnte. Ihm selbst gingen die absurden Kommentare abgestumpfter deutscher TV-Reporter durch den Kopf. Ein bitterböses Foul, kein Kind von Traurigkeit, verdient die dunkelrote Karte... Bernal aber hatte weder gelbe noch rote Karten zur Hand. So wies er den Übeltäter mit großen Gesten vom Feld. Der wiederum zeigte auf seinen Oberschenkel, wo noch die Abdrücke fast sämtlicher Noppen eines Fußballschuhs zu sehen war, und weigerte sich zu gehen. Während sich zwei besonnenere Deutsche, die beiden Verteidiger, um den Verletzten kümmerten, kam Emil wie ein wilder Stier aus dem Tor und attackierte drei Mexikaner, die um Stan herum standen, mit den Fäusten. Otto mit den abstehenden Ohren, der dicke Dirk und Ingo, der zu Hause Rottweiler züchtete, wie er bei allen möglichen Gelegenheiten zu erzählen pflegte, griffen ebenfalls ein, und da einige Gegenspieler den Attackierten zu Hilfe eilten, ballte sich ein Knäuel von Leibern, schlagenden und krallenden Gliedern zusammen, das sich aus eigener Kraft hin- und herschob und mehrmals den am Boden Liegenden zu überrollen drohte. Dann kam der plötzliche Auftritt von Hernan, der ihn trotz seines mürrischen, unsozialen Wesens für den Rest des gemeinsamen Weges zu einem geachteten, über jede Kritik erhabenen Mitglied der Gruppe machte, von ihr sogar in stillschweigender Übereinkunft als Anführer im Kriegsfall angesehen wurde, eine Funktion, die er nie ausüben sollte, da er von jetzt ab den Eisenkäfig seiner einsamen, archaischen Gedanken vor ihren Blicken und Forderungen verschloss.

Als sie am nächsten Tag in der Cafeteria des Hotels frühstückten, verkatert, lädiert und deprimiert, aber mit der ebenso vagen wie unausrottbaren Hoffnung, dass alles besser werden könnte, wenn sie nur erst diese bedrückende Riesenstadt verlassen hätten, fehlte Stan. Die vorsorglich von Miller für alle abgeschlossene Reisekrankenversicherung ermöglichte ihm den Aufenthalt im Zweibettzimmer einer Klinik, die von der deutschen Botschaft empfohlen worden war und den baldigen Heimflug mit einer Liniengesellschaft. Als er Stan am Vorabend gefragt hatte, ob sie alle vor der Abfahrt ihn noch einmal besuchen sollten, hatte dieser ihm, der von Bernal chauffiert, Sanitäter aufgetrieben, die diplomatische Vertretung befragt, Miller und die Versicherung während der Fahrt informiert und das Hospital inspiziert hatte, nur kurz und grob geantwortet. Leckt mich alle am Arsch, hatte Stan, auf dem Krankenhausbett liegend, gesagt und sich vorsichtig mit dem Gesicht zur Wand gedreht.

Mit Erleichterung stellte er fest, dass sich die Stimmung der Truppe noch nicht eindeutig gegen jemand, und dies hätte bedeuten müssen: gegen ihn, richtete. Noch standen sie alle unter Schock, doch er versuchte, ihre Grimassen und Gesten zu deuten, lauschte auf die Nuancen ihrer Äußerungen, da er es nur für eine Frage der Zeit hielt, wann sie nach dem Schuldigen suchen würden. Vielleicht half ihm der Umstand, dass die meisten dem irrigen Glauben anhingen, Miller „der Lackaffe von der Agentur“ habe die Spiele von Deutschland aus organisiert. Für ihn stand der eigentlich Verantwortliche des gestrigen Desasters fest: Hernan, der von GERMAN MEGA beauftragt worden war, geeignete Gegner für eine Hobby-Mannschaft mit geringen sportlichen Ambitionen und noch dürftigeren athletischen Qualitäten auszusuchen, hatte wissen müssen, dass ein hungriger, bösartiger Haufen aus den Slums den harmlosen Spaß in Entsetzen verkehren würde. Doch für die Mannschaft war Hernan gestern zum Helden aufgestiegen und somit von jeder möglichen Schuld freigesprochen.

Als aus dem Gerangel auf dem Spielfeld eine brutale Prügelei geworden war, in die auch immer mehr mexikanische Zuschauer eingegriffen hatten, versuchte zunächst Bernal in seiner Funktion als Schiedsrichter, mit enormer Kraft und schnellen Fäusten, die feindlichen Parteien zu trennen, was misslang, da sich der anfängliche Pulk in mehrere Kampfgruppen aufgelöst hatte und er nicht überall sein konnte. Er selber hatte sich darauf beschränkt, beide Seiten in zweisprachigen Appellen zum Frieden aufzurufen und ab und zu einen Arm zurückzuhalten, der drohte, mit der Wucht einer Axt auf das Gesicht des gefallenen Kontrahenten niederzufallen. Hernan aber war wie aus dem Nichts aufgetaucht, hatte sich in die Mitte des Handgemenges geworfen und zunächst mit den Fäusten, dann mit einem Knüppel, der von wer weiß woher, in seinen Besitz gelangt war, Gassen zwischen die Feinde geschlagen und die verbissen wie hungrige Ratten ringenden Einheimischen zurückgedrängt – keinen Augenblick zu früh, denn jetzt tauchten bei diesen die ersten Messer auf. Dann hatte er mit Hilfe einer Pistole, von der auch später niemand zu sagen wusste, woher sie gekommen war, und seines Adjutanten Bernal, dem plötzlich ein Stilett in die Rechte gewachsen war, den Rückzug zum Mannschaftsbus gedeckt. Nachdem sie Stan ins Fahrzeug geschleppt hatten, übernahm er selbst zum ersten Mal wieder die Verantwortung, indem er hastig durchzählte und feststellte, dass keiner fehlte. Bernal startete blitzschnell und raste in derartigem Tempo davon, dass die von Hernans furiosem Auftritt noch einigermaßen schockierten Mexikaner kaum Zeit fanden, Steine, Flaschen oder Erdklumpen aufzuheben, um sie gegen die Karosserie zu schleudern. Ein paar Beulen gab es, doch die würden beim gegenwärtigen Zustand von Lack und Blech dem Vermieter bei der Rückgabe des Busses nicht weiter auffallen, zumal die Fensterscheiben heil geblieben waren.

Überhaupt ihr Transportfahrzeug: Ein früherer Schulbus war innen umgebaut worden, indem man einfach jede zweite Sitzreihe entfernt hatte, was mehr Beinfreiheit zuließ, aber nichts daran änderte, dass sich ausgewachsene Männer in Schalensitze zwängen mussten, die für kleinere Hinterteile entworfen worden waren. Motor und Bremsen waren in Ordnung, wie Bernal nach einer Inspektion erklärt hatte, aber das Äußere wirkte, als stamme das Fahrzeug aus einem Kriegseinsatz. Die Karosserie wies tiefe Dellen auf, und wo ihn kein rotbrauner Rost durchbrochen hatte, war der grüne Lack mit Inschriften und Flecken in den verschiedensten Farben so dicht überzogen, dass man einen Tarnanstrich hätte vermuten können. Bernal, der sich bei aller Leichtfertigkeit in technischen Dingen als erstaunlich umsichtig erwies und später auch als sicherer Fahrer die Voraussagen Hernans widerlegen sollte, hatte sogar die Reifen überprüft und ihren Zustand für befriedigend befunden.

Doch kurz bevor sie losfuhren, gegen Ende des gemeinsamen Frühstücks, geriet er doch noch in die Schusslinie. Elvis, der ihn nicht leiden konnte, wie einige andere auch, die dies aber weitgehend für sich behielten, griff ihn frontal an. Ihr müsst doch bescheuert sein, solche Kanaken anzuheuern, sagte er und blickte sich, des Beifalls der anderen gewiss, um. Noch ehe er antworten konnte, mischte sich Alfons ein, einer der grobknochigen Verteidiger, sonst neben Ali und Anselm der Stillste der Truppe, schon weil ein Sprachfehler seine Sätze und Wörter mit Verzögerung anspringen ließ. D-das w-war nicht seine Schuld, sagte Alfons, k-konnte doch keiner w-wissen, dass wir gegen Asoziale spielen. Bis auf Anselm und Ali, die sich traditionell aus Diskussionen heraushielten, protestierte die übrige Mannschaft gegen die Einlassung mit lautem Murren, und so entschloss er selbst sich, die Attacke zu erwidern, indem er die Verantwortung auf ungenannte Schultern verlagerte. Er habe die Gegner nicht ausgesucht, die Spiele seien schon im Vorfeld vereinbart worden. Damit setzte er die Meute auf Millers Fährte, was diesem in seiner zehntausend Kilometer entfernten Residenz nicht schaden konnte. So ließ er Hernan, dessen frischer Ruhm als Retter vorerst nicht angekratzt werden durfte, aus dem Spiel. Während der Elan von Elvis’ Angriffs langsam verpuffte, gab Alfons zu bedenken: A-aber wir sollten in Zukunft n-nicht mehr gegen Assos spielen. Das werde auch nicht mehr geschehen, beruhigte er sie in der Hoffnung, die kargen Informationen, die ihm Hernan gegeben hatte, seien richtig. Das nächste Match würden sie gegen die Betriebsmannschaft eines deutschen Automobilherstellers bestreiten – sind aber auch Fidschis, war der dicke Dirk, der aus dem deutschen Osten stammte, ein - , und in den anderen beiden Städten gebe es gar keine Elendviertel wie hier in der Hauptstadt, mithin keinen derartigen menschlichen Abschaum.

Blieb eine Frage offen, und es war Emil, der Kapitän, der sie aufwarf und gleich zu beantworten suchte. Wir sind keine elf Mann mehr, weil diese Knauser keine Reservespieler haben mitfliegen lassen, sagte er, der Miller gleich zwei gute Freunde für diese Funktion vorgeschlagen hatte. Am besten, er blickte ihn als Expeditionsleiter an, du kaufst dir gleich Schuhe und Klamotten, weil dir die von Stan nicht passen. Er wusste, dass dies für ihn nicht in Frage kam. Trotz seines praktisch ununterbrochenen Konsums selbstgedrehter Zigaretten aus holländischem Tabak verfügte er immer noch über eine relativ gute Kondition, wie gelegentlich Fernwanderungen belegten, als Sportler aber hatte er von früher Kindheit an in allen Disziplinen versagt. Ihm fehlten Biss, Härte und Timing, wie Trainer zu sagen pflegten, und obwohl er sich Fußball ganz gern im TV ansah, wäre er auf dem Platz viel zu unbeholfen gewesen und hätte zu große Angst vor Verletzungen gehabt. Es war seine Aufgabe, das Team unbeschadet wieder nach Deutschland zurückzubringen (woran er allerdings bereits zu einem Elftel gescheitert war), nicht die, sich vor ihm lächerlich zu machen.

Ich habe nie Fußball gespielt, sagte er und fügte, als er in den meisten Mienen las, dass dieses schwächliche Argument nicht akzeptiert wurde, schnell hinzu: Außerdem habe ich ein kaputtes Knie und darf keinen Sport machen. Anordnung des Arztes. Das sei ganz egal, erwiderte Emil. Und wenn du als Eckfahne herumstehst, Hauptsache, wir sind wieder elf Mann! Hernan fragte ihn, was der Streit zu bedeuten habe, und er übersetzte den Gesprächsinhalt langatmig, weil er Zeit gewinnen wollte. Während Hernan nur abschätzig die Lippen verzog und etwas von „Maya-Ritualen“ murmelte, sprang unversehens Bernal, der mitgehört hatte, als Retter in die Bresche. Er bot an, für Stan zu spielen. Früher in Cáceres habe er ein paar Jahre in der Jugend eines Vereins gekickt. Ich habe sogar noch Sportklamotten, sagte er, wenn auch nicht ganz in euren Farben. Das Angebot wurde rasch ins Deutsche übersetzt. Hör mal, wir sind eine deutsche Truppe, sagte der dicke Dirk, brach dann aber unvermittelt ab, weil er sah, wie Ali den Kopf schüttelte. Also gut, meinetwegen, entschied Kapitän Emil, konnte sich aber einen Seitenhieb gegen ihren Expeditionsleiter nicht verkneifen. Besser als diese Pfeife wird der Tolero allemal sein. Die Frage war geregelt, und die beiden Spanier verzogen sich zu dem Loch, in dem sie hausen mochten, um ihr Gepäck zu holen.

Er hatte seine Sachen schon in der Frühe gepackt und konnte sich in aller Ruhe eine Zigarette im Foyer des Hotels gönnen, während die anderen ihre Zimmer räumten. Er sah aus den Augenwickeln, dass ihn der Mann an der Rezeption halb misstrauisch, halb verächtlich beobachtete, und glaubte den Gedankengang des Portiers nachvollziehen zu können. Ein lauter, protziger Gringo, fett, rotgesichtig und ohne ein Wort Spanisch, ist eine unangenehme Sache; aber er wirft mit Zaster um sich, und man kann ihn leicht übers Ohr hauen. Ein Gringo aber, der kein Geld hat, sich seine fertige Zigaretten zu kaufen, muss knauserig sein und – wenn er auch noch die Sprache versteht – vermutlich krankhaft misstrauisch.

Es war ihm egal. Er genoss die Augenblicke, in denen er allein war, da sie ihn an eine Zeit erinnerten, in der er allzu oft ohne jede Gesellschaft hatte auskommen müssen; Nostalgie ist eine dialektische Angelegenheit, die einst schmerzliche Erfahrungen in jetzt ersehnte Zeitabschnitte verwandeln kann. Doch nicht nur seine Landleute störten ihn, auch Hernan und sogar Bernal, diese seltsamen Wiedergänger irgendwelcher iberischer Archetypen, auf die man ohne jede Wahrscheinlichkeit, wie von einer blinden Vorsehung ausgesandt, mitten in der riesigen Stadt traf. Ohne sie alle konnte er an die Hoffnungen, an den durch kleine Erfolge genährten Optimismus bei seiner ersten Ankunft hier denken, an die gedämpften, aber immerhin noch vorhandenen Erwartungen bei seiner zweiten Reise, nun aber nahm ihm der Gedanke an die inzwischen verflossenen ereignislosen Jahre, diese hohle und abgestandene Zeit, den Atem, und lästigerweise vollzog der Körper die Krisis der Seele nach; er verschluckte sich am Zigarettenrauch, hustete, röchelte und spuckte auf den Eingangsläufer, sehr zur Missbilligung des Rezeptionisten, wie er bemerken musste. Er setzte sich mit dem Rücken zum Empfang in einen Sessel. Die Zeiten hatten sich geändert, und er in ihnen, aber auf eine ziemlich deprimierende Weise. Als er vorgestern den skurrilen Alten, den vorgeblichen Konsul, getroffen hatte, war ihm dies peinlich gewesen, die Begegnung war aus dem Rahmen des allgemein Akzeptierten, des Normalen, das er eigentlich nicht akzeptierte, dem er sich aber mittlerweile unterordnete, gefallen. Früher hätte er die Begegnung – allerdings ohne die anschließende Prügelei - als Erlebnis, als Stoff für eine später im Freundeskreis zu erzählende Anekdote empfunden, heute deutete er sie als peinlichen Eklat mit schalem Vorgeschmack auf weitere Unannehmlichkeiten, was sich dann ja auf dem Fußballplatz bewahrheitet hatte; und mittlerweile wusste er nicht einmal mehr, wem er überhaupt davon erzählen konnte. Zwei Dinge fühlte er, die ihm fast körperliches Unbehagen einflößten: Er begann, immer schneller alt zu werden, und in diesem Land, „so fern von Gott und so nah an den Vereinigten Staaten“, wie ein mexikanischer Diktator vor langer Zeit geklagt hatte, war in den letzten Jahren nicht viel Erfreuliches geschehen. Die Aufgaben, die er sich einst gestellt hatte, waren unerledigt geblieben, und gleichzeitig war der Aufbruch in die Zukunft, in das klare Licht, der in Mexiko so sehr erhofft und in mit Blut geschriebenen Manifesten so häufig gefordert worden war, offenbar nach wenigen Schritten im Morast der Korruption und im Schutt der barrios steckengeblieben zu sein. Vielleicht musste er aber auch nur bescheidener werden, „realistischer“ nannte man das wohl. Seine jetzige Aufgabe war, eine deutsche Fußballmannschaft aus der Sierra ans Meer zu führen.

Verbrannte Schiffe

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